Einleitung
Der Titel des Aufsatzes ist insofern doppeldeutig, als er einerseits die Tendenzen der Zeitgeschichtsschreibung, das heißt - weit gefasst - der Historiografie des 20. Jahrhunderts innerhalb der vergangenen beiden Jahrzehnte, umfasst und andererseits die Historisierung dieses jüngsten Abschnitts der deutschen Geschichte meint. Zudem wird mit dem Begriff der "Berliner Republik" - ich werde ihn konsequent in Anführungszeichen setzen - von manchen Publizisten eine wertende Aussage über eine neue Qualität der Bundesrepublik nach 1990 getroffen, etwa als vages Postulat des Aufbruchs aus der politisch langweiligen Bonner in eine interessantere Berliner Zeit.
Im Folgenden sollen beide Konnotationen des jüngsten Abschnitts deutscher Geschichte angesprochen und partiell aufeinander bezogen werden, da sich aus den Tendenzen der Zeitgeschichtsschreibung durchaus etwas über die Gesellschaft der Bundesrepublik seit den 1990er Jahren herauslesen lässt. Die Skizze erfolgt in drei Schritten. Zunächst sollen in einem groben Umriss Kontinuitätslinien und Trendwechsel der neueren Forschung im Blick auf die hauptsächlichen Teilbereiche der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts festgehalten werden, danach geht es um einige neuere Diskussionen zur deutschen Geschichte der Zeit nach 1945 und schließlich um vorläufige Anmerkungen zu einer künftigen Zeitgeschichte des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts.
Umrisse und Konjunkturen
Drei Prognosen begleiteten die geschichtspolitischen Debatten der frühen 1990er Jahre: Zum Ersten erwarteten viele Beobachter, dass das Interesse am "Dritten Reich" mit wachsender zeitlicher Distanz und mit dem Abschied der "Erlebnisgeneration" nachlassen werde. Der "Historikerstreit" der 1980er Jahre schien bereits das geschichtspolitische Endspiel gewesen zu sein. Zum Zweiten wurde, erhofft oder befürchtet, davon ausgegangen, dass die Geschichte der DDR die des "Dritten Reiches" - letzteres dann nur noch im "Diktaturvergleich" vorkommend -, aber auch die Geschichte der "alten Bundesrepublik" in den Hintergrund drängen würde. Und drittens gab es Ängste mit Blick auf die Entwicklung einer "siegeswestdeutsch"
Der quantitative Befund zu den historiografischen Veröffentlichungen in den beiden Jahrzehnten seit 1990 ist eindeutig:
Dass ein Ende der Debatten über den Nationalsozialismus nicht eintrat, lag primär an der im wiedervereinigten Deutschland noch gesteigerten Relevanz symbolischer Abgrenzung zu den Verbrechen des "Dritten Reiches". Die von insgesamt mehr als einer Million Menschen besuchten Ausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung über die Verbrechen der Wehrmacht (1995-1999 und 2001-2004), die Debatten um "Hitlers willige Vollstrecker" (Daniel Goldhagen, 1996), "Hitlers Volksstaat" (Götz Aly, 2005) und langjährige Diskussionen um das 2005 in Berlin eingeweihte "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" machten auf die Verstrickung großer Teile der deutschen Bevölkerung in die nationalsozialistischen Massenverbrechen aufmerksam. Während einzelne Debatten in den Medien sporadisch aufleben, zuletzt um die Untersuchung der Rolle des Auswärtigen Amtes,
Zu einem parallel nachgefragten Produkt auf dem medialen Geschichtsmarkt hat sich die Erinnerung an Luftkrieg und Kriegsende entwickelt, in der "die Deutschen" als Opfer im Mittelpunkt standen - häufig mit einem pflichtschuldigen Prolog, der den Nationalsozialismus als Ausgangspunkt der Leiden der Bombenopfer und Vertriebenen benennt. Die zeithistorische Forschung hat aber hierzu hervorragende kritische Studien erarbeitet, die zudem den Umgang mit der Erinnerung an diese Geschehnisse bereits für längere Zeiträume analysieren.
Dass die DDR-Geschichte nach 1989/90 in den Vordergrund trat, ist nicht verwunderlich. Zum einen konnte sie nun als abgeschlossene Epoche und zugleich auf Basis der nahezu vollständig zugänglichen Akten erzählt werden, was zudem geschichtspolitisch hochgradig erwünscht war. Wissenschaftsfördernde Einrichtungen initiierten sehr früh Programme zum "Diktaturvergleich". Allerdings lässt sich konstatieren, dass anfänglich dominierende Totalitarismusformeln unter dem Eindruck empirischer Studien zur ostdeutschen Gesellschaft erodierten und sich eine pluralistische empirische Forschung mit verschiedenen institutionellen Zentren entwickelte
Nicht nur die DDR, auch die "alte Bundesrepublik" war 1990 an ihr Ende gekommen. Die zeithistorische Bundesrepublik-Forschung, die über die vorherige politische Ereignisgeschichte hinausging, begann im Jahrzehnt vor der Wiedervereinigung. Veröffentlichungen in größerer Zahl erfolgten im Jahrzehnt danach. Dabei war eine gewisse Forschungslogik unverkennbar: dem sozialhistorischen Paradigma von "Moderne" und "Modernisierung" im Blick auf die "Gründerzeiten"
Die Konturierung eines Transformationszeitraums der "langen 1960er Jahre" legte zugleich die Hypostasierung von "1968" zur tiefsten Zäsur der Geschichte der Bundesrepublik und zum allein erklärenden Faktor für ihre Liberalisierung und Demokratisierung ad acta.
Tendenzen in der jüngeren Zeitgeschichtsforschung
Die 1960er Jahre sind seit dem Ausgang der 1990er Jahre, die 1970er Jahre seit der ersten Hälfte der 2000er Jahre beforscht worden, auch die 1980er Jahre werden mittlerweile einbezogen. Damit zeichnet sich ab, dass der erste gründliche Durchgang einer historiografischen Deutung der gesamten "alten Bundesrepublik" bald abgeschlossen sein wird. Dies ermöglicht, erste Linien für den Zusammenhang von Zeitgeschichte und "Zeitgeist" zu ziehen. Dabei fällt auf, dass die Betonung der Kultur im weiten Sinne bei der Deutung der 1960er Jahre gegenüber der sozialhistorischen Dominanz bei der Untersuchung der 1950er Jahre zusammenfällt mit der gesteigerten Aufwertung des Individualismus nach der Niederlage des Sowjetblocks, mit einer Erzählung von Selbstbestimmtheit und Freiheit, in der die Fragen nach Relevanz und Interessen mitunter als überkommene ideologische Reminiszenzen erscheinen.
Die Erforschung der 1970er Jahre setzte erst nach der Jahrhundertwende, nachdem die Blase der "New Economy" geplatzt war, in breitem Maßstab ein. Sie kreist um die Frage nach grundsätzlichen Strukturbrüchen, die den Weg in eine postindustrielle Gesellschaft und letztlich in unsere Gegenwart gewiesen haben, und geht mit der Renaissance sozial- und wirtschaftshistorischer Themen und Ansätze einher. Allerdings hat die stärkere Betonung ökonomischer Prozesse kulturhistorische Ansätze keineswegs verdrängt. Dass Performanz und Inszenierung keine nur ästhetischen Bezüge besitzen, sondern mit ökonomischen Interessen eng verknüpft sind, gilt als gesicherte Erkenntnis. Dies deutet an, dass der Siegeszug des "Neoliberalismus", der in den 1970er Jahren eingesetzt hatte und vor der Jahrhundertwende als - vorläufig - letzte nach dem Zerfall des Sowjetblocks verbliebene Meistererzählung die mediale Öffentlichkeit weitgehend dominierte, bereits als eine ideologische Konstruktion historisierbar geworden ist.
Es ist evident, dass Befürchtungen einer nationalistisch eingefärbten Zeitgeschichte nach 1990 nicht eingetroffen sind. Die Probleme der europäisch eingehegten erweiterten Bundesrepublik haben sogar umgekehrt zur Ablehnung einer angeblich "harmonisierenden" "Erfolgsgeschichte" der Bundesrepublik geführt, bei der allerdings nicht recht klar ist, wer diese geschrieben haben soll. Es ist faktisch nicht abzustreiten, dass - gemessen an der Ausgangslage - die "alte Bundesrepublik" einen erfolgreichen Weg beschritten hatte. Dass daraus zum einen keine Glorifizierung der Akteure folgen muss, zum anderen auch innerhalb der "Erfolgsgeschichte" falsche Weichenstellungen vorgenommen wurden, der Erfolg nicht zum Nulltarif zustande kam und außerdem die Feststellung des Erfolgs keine Garantie für dessen Fortsetzung in der Zukunft, sondern allenfalls eine Ressource für kommende Krisen sein mag, ist oft genug gesagt worden.
Insofern ist auch das begrüßenswerte Postulat, eine von den Problemen der Gegenwart ausgehende Zeitgeschichte zu entwickeln,
Dies ist auch eine wichtige Hypothese der neueren Debatte über die 1970er Jahre, die zwar weithin als "Strukturbruchdiskussion" firmiert, aber gerade nicht den einen Bruch, die eine Ursache, den einen Ausgangsort des Übergangs in die "postindustrielle Gesellschaft" oder "Hochmoderne" sucht, sondern ein Geflecht von Faktoren in den Blick nimmt, in dem ökonomischen und sozialen Prozessen eine hohe Bedeutung zukommt, wenngleich eine simple Basis-Überbau-Konstruktion vermieden wird.
Umgekehrt stellt sich die Frage nach der nationalen Dimension und nationaler Spezifik neu. Mit der Delegitimierung der angeblich affirmativen "Erfolgsgeschichte" tauchte zuletzt das Postulat auf, die deutsche Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich als asymmetrisch verflochtene deutsch-deutsche Parallelgeschichte zu schreiben.
"Berliner Republik" als Geschichte
Die "Berliner Republik" beginnt allmählich eine Geschichte zu haben, die erzählt werden kann. Wie immer beginnt die Historisierung der jüngsten Vergangenheit als Auslaufen längerer historischer Darstellungen in der Gegenwart
Für die ersten beiden Jahrzehnte der "alten Bundesrepublik" hatte sich die Implementierung interessanter Erzählungen für eine Geschichte im durch den Kalten Krieg gesicherten Frieden in Europa und einer zivilen Gesellschaft vor allem auf Fragen nach dem Verhältnis von Kontinuitäten und Brüchen im Verhältnis der Zeiten - also nicht nur der des Nationalsozialismus - vor 1945 und der dabei wirkenden Kräfte, vor allem westlicher Einflüsse, konzentriert. Für die jüngste Zeitgeschichte seit den Strukturbrüchen der 1970er Jahre wird es darauf ankommen, ähnlich interessante und gesellschaftlich relevante Fragestellungen zu identifizieren, die zu einer verdichteten Erzählung mit - nicht nur künstlich drapierten - dramatischen Elementen führen.
Themenfelder dafür zeichnen sich ab: Innenpolitisch ist es zum einen die nach der Wiedervereinigung anhaltende Ost-West-Migration, aber auch das konfliktreiche Auftreten neuer Eliten aus dem Westen in der ehemaligen DDR, das Schüren und die Funktionalisierung von Ängsten gegenüber einer "Asylantenflut" Anfang der 1990er Jahre, insgesamt das Zusammenfinden und die Fremdheit der alten und neuen Bundesbürger, welche die Geschichtswissenschaft geraume Zeit beschäftigen wird. Schon dabei wird spätestens mit Längsschnittstudien über die Entwicklung von "Fremdenfeindlichkeit" bis zur Gegenwart mit seinen Debatten um den Islam deutlich werden, dass es sich nicht um ein deutsches, sondern um ein mindestens europäisches Phänomen in deutscher Spezifik handelt.
Zum anderen wird die zweite Hälfte der durch die Einheit geteilten Ära Kohl, die Konstruktion eines in Opposition zum anglophonen Kapitalismus - auch dies eine vereinfachende Konstruktion - stehenden "rheinischen Kapitalismus" untersucht werden müssen. Ähnlich wie die mittlerweile in der Zeitgeschichtsforschung erfolgte Relativierung des Machtwechsels von 1969 könnte es sein, dass die als Sieg der "68er" vom Feuilleton gefeierte Übernahme der Bundesregierung durch Rotgrün 1998 weniger als Zäsur denn als Fortsetzung unter sich allerdings rasch wandelnden Rahmenbedingungen bewertet werden wird. Als tiefer Bruch könnte einmal die Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II ("Hartz IV") seit 2005 während der zweiten Amtszeit der Schröder-Regierung gelten, die zu scharfen Protesten und einem enormen Ansehensverlust der Sozialdemokratie bei ihren Wählern, zur "Westausdehnung" der PDS sowie schließlich zu deren Vereinigung mit der WASG in der Partei "Die Linke" und zur Herausbildung eines parlamentarischen Fünfparteiensystems führte. Ob sehr ähnliche sozialpolitische Maßnahmen nicht auch von einer anders zusammengesetzten Regierung betrieben worden wären, bleibt Spekulation. Große Bedeutung als Traditionsbruch hatte auf dem Feld der Außenpolitik der nicht zuletzt unter Grünen-Anhängern umstrittene militärische Auslandseinsatz der Bundeswehr im Rahmen der NATO-Intervention im ehemaligen Jugoslawien 1999.
Der tiefgreifende ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Wandlungsprozess der vergangenen beiden Jahrzehnte ist in hohem Maße - im Sinne des Ausgangs von gegenwärtigen Problemlagen - historisch erklärungsbedürftig. Dabei steht die jüngste Zeitgeschichtsforschung vor dem Problem, dass sie zwar auf wichtige Studien zurückgreifen kann, die sich dem sozialpolitischen Umgang mit gesellschaftlicher Armut widmen,
Ähnliches gilt für die rasante Technifizierung aller Lebensbereiche, etwa die Entwicklung des "Handys" zum obligatorischen Begleiter von immer mehr Menschen seit den frühen 1990er Jahren, und für den parallelen Aufstieg des Internets, der auch in Verbindung mit neuen mobilen, elektronischen Endgeräten zum Wandel des konsumtiven und kommunikativen Verhaltens und der Mediennutzung führte. Diese Prozesse, die vor allem für einen großen Teil der älteren Generation gravierende Orientierungsprobleme mit sich bringen, aber auch neue Formen jugendlicher Kulturen bis hin zum durch Facebook und Twitter organisierten Protest konstituieren, sind bisher noch nicht zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft geworden.
Ein Ansatzpunkt für die Analyse der über alle politischen Konstellationen hinweg veränderten Lebenswelten könnte eine Untersuchung der Sprache sein. In den Medien kursierende Begriffe, bei der "gut aufgestellte" "Entscheider" im Namen ominöser "Märkte" "alternativlos" "nachhaltige" "Reformen" in Richtung einer Abkehr von "staatlicher Gängelung" hin zur Entwicklung von "Eigeninitiative" propagieren, fordern geradezu Studien heraus, die über ideologiekritische Analysen hinaus nach dahinter stehenden Interessen und Strategien fragen; hier gibt es auch einen großen Nachholbedarf für die Zeitgeschichte der "alten Bundesrepublik".
Schließlich ist darauf zu verweisen, dass die Zeitgeschichte selbst von den Veränderungen der technischen Lebenswelt sukzessive und durchaus merklich betroffen ist. Dabei geht es nicht nur um die Relativierung von Arkanwissen im Zeitalter von Wikileaks,
Statt einer Hinwendung zur Geschichte im engen nationalen Maßstab, ob westdeutsch, ostdeutsch oder deutsch-deutsch, ist eine Zeitgeschichte gefordert, welche die Kontinuitäten und Umbrüche der deutschen Geschichte seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts im Rahmen (hoch)moderner europäischer und globaler Prozesse verortet. Die intellektuelle Anstrengung wird sich künftig auf Perspektiven einer Erweiterung deutscher Zeitgeschichte konzentrieren müssen, wenn sie ihre Orientierungsfunktion für die Gesellschaft der Gegenwart erhalten will.