Einleitung
"Die Euro- oder Schuldenkrise hat zur Genüge gezeigt, dass der alte, konfliktträchtige Zustand Europas nicht einfach vergessen und vergeben ist, sondern im kollektiven Gedächtnis der Völker nachwirkt oder von Politikern und Medien wieder in Erinnerung gerufen werden kann. Wer darin eine Bestätigung dafür sieht, dass 60 Jahre Europa-Politik vergebens gewesen seien, hat keine Vorstellung davon, was eine solche Krise zu früheren Zeiten angerichtet hätte, als es noch keine gemeinsamen Institutionen und regelmäßig tagenden Räte gab, in denen (...) immer wieder neue - und sei es kurzfristig unzureichende - Kompromisse geschmiedet werden."
Zweifellos haben die Gemeinschaftsinstitutionen der EU einen erheblichen Beitrag zur Zivilisierung der Interessenkonflikte geleistet, die 2008 mit der Finanz- und Wirtschaftskrise ausbrachen, in der Staatsschuldenkrise seit Ende 2009 eskalierten und schließlich zur Eurokrise führten. Aber gemessen am Regelungsbedarf des finanzmarktgetriebenen globalen Kapitalismus wie auch der unter Konstruktionsschwächen leidenden Währungsunion fällt die Bewertung der Europäischen Zentralbank, des Europäischen Rates und der Kommission sowie des Europäischen Parlaments schlechter aus: Für den "Aufbau politischer Handlungsfähigkeiten jenseits der Nationalstaaten" fehle ihnen die Kraft, so der Philosoph Jürgen Habermas.
Als ein Beispiel mögen die im Kontext der südeuropäischen Staatsschuldenkrise wieder aufkommenden Forderungen nach deutschen Kriegsreparationszahlungen dienen: In der Perspektive historischer Gerechtigkeit wird der ökonomische Terminus der Staatsschulden zur "staatlichen Schuld" umgedeutet - und damit der Anspruch auf Leistungen Deutschlands zur Rettung des Euro als verspätete Kriegsreparationszahlung gerechtfertigt.
In seiner 1996 publizierten Diagnose des Dilemmas von "Integration und Demokratie" hatte Peter Graf Kielmansegg dieses Fehlen einer "europäischen Erinnerungsgemeinschaft" als Legitimitätsschwäche der EU interpretiert: "Es sind Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften, in denen kollektive Identität sich herausbildet, sich stabilisiert, tradiert wird. Europa, auch das engere Westeuropa, ist keine Kommunikationsgemeinschaft, kaum eine Erinnerungsgemeinschaft und nur sehr begrenzt eine Erfahrungsgemeinschaft."
Gegenüber solchen homogenisierenden, staatszentristischen Projektionen auf die EU zeigt die neuere Debatte zur Frage einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft stärker differenzierte Perspektiven auf.
Der folgende Abriss zu dieser Debatte um Gedächtniskulturen und Erinnerungskonflikte in Europa stellt drei Kernfragen in den Mittelpunkt: Welches sind die Konfliktmuster von Erinnern und Verschweigen im "alten Europa"? Welche neuen kollektiven Gedächtniskonstellationen zeichnen sich im Osten Europas ab? Und auf welche Weise lassen sich Konflikte innerhalb der zerklüfteten europäischen Erinnerungslandschaft vermitteln? Damit soll gezeigt werden, dass in der nach Ost- und Südosteuropa erweiterten EU eine gesamteuropäische homogene Erinnerungsgemeinschaft nicht erkennbar ist und dass Versuche, die unterschiedlichen Erinnerungskulturen der alten und neuen Mitgliedstaaten zu vergemeinschaften, weder aussichtsreich noch - unter dem Gesichtspunkt einer politischen Union Europas - notwendig erscheinen.
Erinnerungsnarrative im "alten Europa" nach 1945
Im Nachkriegseuropa des Kalten Krieges waren die offiziellen Erinnerungsnarrative über die nationalen Erfahrungen mit den nationalsozialistischen und stalinistischen Gewaltverbrechen zunächst "eingefroren", so dass sie den politischen Status quo zu stützten vermochten.
Ein in Westeuropa zentraler Erinnerungskonflikt ist die immer wieder umstrittene Frage, ob der Holocaust als negativer Gründungsmythos für Westeuropa gelten könne. Claus Leggewie etwa hat den Holocaust als den zentralen Kern europäischer Erinnerungen ausgemacht.
In seiner literatur- und filmwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit "enttabuisierter Erinnerung" an das durch Flucht und Vertreibung erlittene Leid der Deutschen im Zweiten Weltkrieg stellt David Bathrick fest, dass in der deutschen Erinnerungskultur Opfer- und Täterdiskurse pendeln, mit einer Verschiebung hin zu Opfernarrativen und deren Koexistenz mit letzteren.
Auch in Frankreich wurden - gegenüber den zunächst dominanten Opfer- und Widerstandsdiskursen und dem fortlebenden "Résistance-Mythos" - Fragen nach der Mitschuld an den Naziverbrechen heftig diskutiert. Helga Bories-Sawala zeigt, wie die offizielle französische Vergangenheitspolitik trotz Vichy-Kollaboration lange am Bild Frankreichs als eines Landes der Opfer und des Widerstands festhielt, bevor die bereits frühen Aufarbeitungen von Mitschuld in Film und Literatur Anerkennung fanden.
Sandra Petermann weist ebenfalls für Frankreich (und Westeuropa) nach, wieweit offizielle Erinnerungspolitiken auf dem Mythos des Opfer- und Heldentums basierten.
Diese inner- und transnationalen Debatten spiegeln partiell die Entstehung einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft: Des "Opfer-gewesen-Seins" wird in grenzüberschreitend gemeinsamen Ritualen gedacht. Aber kollektive Erinnerungskonflikte innerhalb der westeuropäischen Gesellschaft dauern an und werden durch die Osterweiterung aktiviert.
Neue Erinnerungskonstellationen im Osten Europas nach 1989
Infolge der EU-Osterweiterung entwickelten die Erinnerungskonstellationen im Osten Europas eine neue Komplexität und Dynamik. Während die kollektiven Gedächtnisse im "alten Europa" zunehmend den Holocaust als gemeinsamen Bezugsrahmen integrierten, gar als negativen Gründungsmythos einer europäischen Verfassung konstruierten, führte die "Vergangenheitsbewältigung" posttotalitärer Gesellschaft in Ost-Ostmitteleuropa zu Konflikten einer völlig neuen Art.
Eine erste Konfliktlinie resultierte aus der zunehmenden Aufdeckung der Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen durch stalinistische beziehungsweise kommunistische Terrorregime.
Ein weiteres Konfliktpotenzial liegt im Spannungsverhältnis zwischen unterschiedlichen Opferkategorien beziehungsweise der Dekonstruktion von Opferhierarchien, etwa im Verhältnis von Polen und Juden in der polnischen Erinnerungskultur. Karol Sauerland verdeutlicht in seiner Analyse zu Polen die Spannungen zwischen der Tradition der Opfererinnerung und dem vom kommunistischen Regime verordneten Gebot des Vergessens. Letzterem folgend, gab es nach offizieller Lesart in Polen keine Unterschiede zwischen Nazi-Opfern: Alle - Juden und Polen - seien gleichermaßen der "Vernichtung" preisgegeben gewesen. Demgegenüber macht Sauerland in der polnischen Gesellschaft die Koexistenz von vier - mitunter widerstreitenden - Erinnerungsräumen geltend: die Erinnerungstraditionen der Polen im Widerstand gegen zunächst die Deutschen und später gegen die Sowjetunion; die neuerdings aufkommenden und öffentlich debattierten Erfahrungen der Polen als (Mit-)Täter während der deutschen Besatzungszeit sowie der andauernde staatliche Antisemitismus in Polen nach 1945.
Weiterhin trat im Zuge der EU-Osterweiterung die Konkurrenz der beiden großen posttotalitären Vergangenheitsdiskurse zutage. In Bezug auf die Verbrechen des Nationalsozialismus einerseits und des Stalinismus andererseits entstand ein neues Spannungsfeld mit hohem Konfliktpotenzial. Die Konkurrenz dieser beiden "gegenläufigen Gedächtniskulturen", so Dan Diner, liefe letztlich auf den Versuch hinaus, "unterschiedliche(n) Erfahrungen von Leid miteinander abzugleichen".
Schließlich werden die neuen erinnerungspolitischen Konfliktdynamiken an den östlichen Grenzen der Europäischen Union besonders deutlich. In diesem Zusammenhang argumentiert Wolfgang Kissel, dass die neuen EU-Mitgliedstaaten aufgrund ihrer spezifischen Erfahrungen mit der doppelten diktatorischen Unterdrückung eine Erinnerungskultur mit in die EU brächten, die in starkem Maße durch die russische Vergangenheitspolitik geprägt sei. Er sieht, ähnlich wie Galina Michaleva, in den öffentlichen Erinnerungsdiskursen Russlands die deutliche Tendenz, den stalinistischen Terror im Hintergrund zu belassen und die russische Erinnerungspolitik als ruhmreiches Kapitel der "vaterländischen Geschichte" zu erinnern. Solange aber in Russland, so Michaleva, die Mythenbildung über den "Großen Vaterländischen Krieg" vorherrsche, werden weder in Russland noch in den postsowjetischen Staaten Diskurse über Schuldanerkennung oder gar aussöhnende zwischenstaatliche Akte möglich sein, denn erst wenn "in Rußland die Entwicklung in eine andere Richtung geht, dann wird das auch europäische Länder betreffen."
Ein weiterer Teil des europäischen Erinnerungsraums, der (fast) ohne Erinnerungen an Holocaust und Stalinismus auskommt, aber starke Opfernarrative umschließt, ist der Balkan. Zunehmend gerät dieser ins Erkenntnisinteresse unterschiedlicher Disziplinen. So stellt Yvonne Pörzgen in ihrer literaturwissenschaftlichen Analyse fest, dass Wahrheiten und Identitäten sich verfestigen, wenn bestimmte Erinnerungen nur oft genug wiederholt würden. Für den Balkan gelte: Identität ist die Summe dessen "was ich nicht bin", die größte gefühlte Gemeinsamkeit aller Balkan-Gruppen sei das Gefühl des Anders- und Opferseins.
Transitional justice - Formen und Voraussetzungen für Versöhnung
Muss aus den Tendenzen eines sich herausbildenden, spannungsreichen, ja antagonistisch nach Osten erweiterten europäischen Erinnerungsraumes, darauf geschlossen werden, dass dieser als Identitäts- und Legitimationsgrundlage einer politischen Union beziehungsweise einer neuartigen politischen Gemeinschaft Europas nicht hinreichend sein werde? Ohne diese Fragen hier abschließend behandeln zu können, sollen im Folgenden einige der wichtigsten der in der Debatte behandelten Formen und Voraussetzungen für "Versöhnung" (reconciliation) genannt werden. Denn allen im vorliegenden Zusammenhang aufgezeigten Erinnerungskonflikten ist eines gemeinsam: die Notwendigkeit der Anerkennung von Leid einerseits und Schuld andererseits.
Transitional justice: Anerkennung, Aussöhnung, Wiedergutmachung.
Unter dem Begriff transitional justice werden spezifische Politiken der Anerkennung,
Schließlich stellt auch die Regelung des Zugangs der Öffentlichkeit zu den ehemaligen Geheimarchiven des Staates, wie der Stasi-Unterlagen-Behörde,
Gedenkstätten, Massen- und neue Medien.
Gedenkstätten sind zentrale Bezugspunkte für kollektive Erinnerungen. Haben inhaltliche und architektonische Gedenkstätten-Konzeptionen bereits häufig zu emotional aufgeladenen öffentlichen Auseinandersetzungen geführt, werden sie - und Erinnerungsorte allgemein - künftig vor zusätzlichen Herausforderungen stehen: der massenmedialen Darstellung von Gewaltexzessen und dem zunehmenden Ableben von Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts.
Angesichts solcher Mediatisierungstendenzen appelliert Wolfgang Wippermann in seiner Kritik des deutschen "Denkmalwahns" zu "denken statt (zu) denkmalen".
Europäischer Gedächtnisraum als Voraussetzung der politischen Union Europas
Mit dieser Skizze der sich mit der Osterweiterung dynamisierenden europäischen Erinnerungslandschaft sollte gezeigt werden, dass sich eine gesamteuropäische homogene Erinnerungsgemeinschaft nicht abzeichnet. Aber auch Versuche, die unterschiedlichen Erinnerungskulturen der alten und neuen Mitgliedstaaten zu vergemeinschaften, erscheinen weder aussichtsreich noch wären sie - unter dem Gesichtspunkt einer politischen Union Europas - notwendig. Denn eine der Besonderheiten der gesamteuropäischen kollektiven Identität besteht gerade aus den historisch entwickelten pluralen, bi- und transnational sich überkreuzenden Erinnerungsräumen des alten und neuen Europa. Angesichts dieser - bei allen Gemeinsamkeiten - bedeutsamen Differenzen kollektiver Erinnerungen in den verschiedenen nationalen Kontexten Europas, müssen Erinnerungskonflikte der Herausbildung einer demokratisch legitimationsfähigen politischen Union nicht prinzipiell im Wege stehen. So wenig wie dieses Projekt einer homogenen europäischen Erinnerungsgemeinschaft bedarf, wie von Graf Kielmannsegg postuliert, so wichtig ist es, die Pluralität teilweise gegenläufiger kollektiver Gedächtnisse in Europa - nicht nur im Verhältnis Deutschlands zu Frankreich und Polen, sondern unter anderem auch zu Griechenland, Italien, Spanien oder dem Balkan - anzuerkennen. Als Voraussetzungen hierfür sollen drei Faktoren genannt werden: (1) die Ersetzung des normativen Postulats einer "europäischen Erinnerungsgemeinschaft" durch den analytischen Begriff des "europäischen Gedächtnisraums"; (2) mediale und politische Formen der transnationalen Repräsentation, Kommunikation und Anerkennung; und (3) ein rechtlich-demokratisches Fundament der EU als einer neuartigen politischen Union.
Erst im Laufe der vergangenen Jahre haben Begriffe wie "europäischer Gedächtnisraum" oder "europäischer Erinnerungsraum" ihren Weg in die öffentlichen Europadebatten gefunden.
Dieses Problemfeld ist charakterisiert durch transnationale Dynamiken, die unabhängig von EU-Institutionen die Bilder nationaler Vergangenheiten der Deutschen und Griechen, Spanier oder Italiener, der Briten und Franzosen, oder der Ungarn und Rumänen in Beziehung zueinander setzen. In den nach 1989 entstandenen neuen europäischen Erinnerungskonstellationen drehen sich die Erzählungen der Nationalgeschichten immer weniger um die eigene Nation als einzige oder dominante Achse und öffnen sich immer mehr dem Blick der Nachbarn und für deren Geschichten.
Differenzen zwischen "gegenläufigen Gedächtnissen" (Diner) können aber nur dann - vielleicht erstmals - auf zivile Weise und konstruktiv bearbeitet werden, wenn der Boden hierfür auch bereitet ist, vor allem durch universelle Menschenrechtsnormen und demokratische Prinzipien, Verfahren und Institutionen.