Einleitung
Der Maastrichter Vertrag, der am 7. Februar 1992 unterzeichnet wurde, markiert in der Geschichte der europäischen Integration eine Zäsur. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts symbolisierte er den Willen der Mitgliedstaaten, dem Einigungsprozess neuen Schwung zu verleihen und die bis dahin dominante wirtschaftliche Integration durch eine politische Union zu überwölben. Am offenkundigsten war dies durch die Schaffung der zweiten und dritten Säule der Europäischen Union, die eine engere Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Innen- und Justizpolitik begründete. Aber auch die Einbeziehung weiterer Politikfelder wie der Bildungs- und Gesundheitspolitik, die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens sowie die damit verbundene Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments signalisierten eine deutliche Vertiefung der Integration, die durch die späteren Vertragsreformen von Amsterdam, Nizza und Lissabon fortgesetzt wurde. Insbesondere bedeutete Maastricht mit der Einigung auf das Ziel einer gemeinsamen Währung die Abkehr von der geld- und fiskalpolitischen Souveränität der meisten Mitgliedstaaten. Die Einführung des Euro war mit Einschränkungen der sozialpolitischen Handlungsfähigkeit verbunden, erforderte von den politischen und ökonomischen Systemen enorme Anpassungsleistungen und führte - wie heute täglich zu beobachten ist - zu einer engen wirtschaftspolitischen Verflechtung Europas.
Eine Zäsur bedeutete der Maastrichter Vertrag aber noch in einer anderen Hinsicht. Denn während das Binnenmarktprogramm und die Einheitliche Europäische Akte Ende der 1980er Jahre noch weitgehende Zustimmung bei den Bevölkerungen der Mitgliedstaaten gefunden hatte, stieß das Maastrichter Integrationsmodell bei weiten Teilen der Bevölkerung auf Skepsis und Zweifel.
Die sozialwissenschaftliche Integrationsforschung hat sich erst spät mit der Rolle der öffentlichen Meinung für die europäische Politik auseinandergesetzt. Bis in die 1990er Jahre folgte die Diskussion der viel zitierten Einschätzung, dass die Einstellungen der Bevölkerung auf einem permissive consensus
Das gilt zum Ersten für die Ebene der konstitutionellen Entwicklung, denn die EU bedarf auch künftig der Zustimmung der Bevölkerungen, wenn es darum geht, die vertraglichen Grundlagen neu zu fassen. In Irland muss das Volk zu jeder Vertragsänderung gefragt werden, in anderen Mitgliedstaaten ist das Votum der Bürgerinnen und Bürger meistens dann eingeholt worden, wenn die Politik eine zusätzliche Legitimation durch das Volk anerkannte und zugleich von einer Zustimmung ausging - das kann aber immer wenig als gesichert angenommen werden.
Zunahme der Euroskepsis?
Zur Kennzeichnung von kritischen Einstellungen zur EU sind die Konzepte des "Euroskeptizismus" beziehungsweise der "Euroskepsis" entwickelt worden.
Wie sieht es nun mit der Zustimmung der Bevölkerungen zur europäischen Integration aus? Ist eine Zunahme der Euroskepsis zu erkennen, die die Stabilität der EU mittel- bis langfristig zu unterminieren droht? Diesen Fragen soll im Folgenden auf der Grundlage von Daten des Eurobarometer-Projektes nachgegangen werden, das im Auftrag der Europäischen Kommission seit Anfang der 1970er Jahre die öffentliche Meinung in den Mitgliedstaaten misst.
Wie in den anderen Mitgliedstaaten auch waren die Werte zur Zustimmung oder Ablehnung der europäischen Einigung in Deutschland nicht konstant, sondern unterlagen erheblichen Schwankungen.
Im Zeitverlauf zeigt sich, dass die außergewöhnlich hohe Zustimmung der Deutschen einem eher zurückhaltenden Urteil gewichen ist. Zwar lässt sich - nach einer Hochstimmung zum friedlichen Ende des Ost-West-Konflikts - seit Beginn der 1990er Jahre in der gesamten EU eine deutliche Abnahme der Zustimmung erkennen. In Deutschland brechen die Werte in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre jedoch regelrecht ein. Wenn die Tendenzwende in der öffentlichen Meinung auch bereits vor der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrages eingesetzt hatte, so scheinen die Regierungskonferenz und der schwierige Prozess der Ratifikation diesen Trend verstärkt zu haben. Nach der Jahrtausendwende erholen sich die Werte zwar wieder, und der Anteil der Deutschen, der die Mitgliedschaft für eine "gute Sache" hält, steigt wieder über den EU-Durchschnitt. Nach den jüngsten Zahlen, die im November 2010 und im Mai 2011 erhoben worden sind, ist die Netto-Zustimmung mit 30 beziehungsweise 38 Prozent aber auf vergleichsweise geringem Niveau und erreicht die Werte der frühen 1990er Jahre bei Weitem nicht mehr.
Im europäischen Vergleich lassen sich keine klaren Muster der Meinungsverteilung erkennen. So werden beispielsweise in den älteren Mitgliedstaaten nicht durchgehend höhere (oder auch niedrigere) Zustimmungswerte gemessen als in den neuen. Während sich für Mai 2011 im EU-Durchschnitt eine Netto-Zustimmung von 29 Prozent ergibt, finden sich besonders hohe Werte für Luxemburg (59), die Niederlande (56), Belgien (54) und Irland (51), aber auch für Rumänien (46) und Polen (43). Ungefähr auf dem deutschen Niveau liegen die Werte für Estland (40), Schweden und Dänemark (je 39) sowie Bulgarien und Spanien (je 38). Die beiden Gründungsmitglieder Italien (24) und Frankreich (27) liegen noch unter den deutschen Zahlen. Am Ende der Skala rangieren Tschechien, Österreich und Zypern (je 12), Ungarn (10) Griechenland (5), Lettland (4) und Großbritannien (-6).
Im Ergebnis zeigt sich damit, dass die generelle Befürwortung der Mitgliedschaft in den Mitgliedstaaten seit den frühen 1990er Jahren tendenziell rückläufig ist. Deutschland gehört dabei nicht zu den Ländern, die ein besonders starkes Niveau der Zustimmung aufweisen, vielmehr befindet es sich im Mittelfeld. Eine ausgesprochene Begeisterung der deutschen Bevölkerung für Europa gehört schon lange der Vergangenheit an.
Vorteile durch die Mitgliedschaft?
Die Unterstützung der EU wird von verschiedenen Faktoren bestimmt. Eine zentrale Rolle kommt der Zufriedenheit mit ihren Leistungen zu.
Daran hat sich im Grundsatz bis in die Gegenwart wenig geändert. Die Bevölkerung nimmt die Verteilung des Nutzens durch die EU aber anders wahr als die politischen und ökonomischen Eliten. Das kann an den Antworten auf die Frage abgelesen werden, ob die Mitgliedschaft in der EU dem eigenen Land nutze oder nicht. Zwar war hier das Meinungsbild seit jeher ausgeglichener als bei der Frage nach der generellen Zustimmung zur EU. Bis in die frühen 1990er Jahre war aber eine große Mehrheit der Deutschen der Ansicht, das eigene Land profitiere von der EU, während nur eine Minderheit mehr Nachteile sah.
Das hat sich geändert. Im Zeitverlauf kann im EU-Durchschnitt ein ähnlicher Trend wie bei der generellen Zustimmung festgestellt werden (Abbildung 2 in der PDF-Version). Nach einem Höhepunkt gegen Ende der 1980er Jahre sinkt die Nutzenwahrnehmung während der 1990er Jahre, zieht dann zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder leicht an, um zuletzt wieder deutlich zu sinken. Die auf Kosten- und Nutzenkalküle basierenden Einschätzungen haben damit in der gesamten EU schon deutlich vor der Maastricht-Debatte einen Dämpfer erhalten. Das gibt einen Hinweis darauf, dass die gescheiterten beziehungsweise nur knapp erfolgreichen Volksabstimmungen zu Maastricht den Wandel des Meinungsklimas eher widergespiegelt als dass sie ihn hervorgerufen haben.
Aufschlussreich sind hier die Werte für Deutschland, denn die Bevölkerung ist hinsichtlich der Vorteile der Mitgliedschaft fast durchgehend kritischer als der EU-Durchschnitt. Der Abstand zwischen wahrgenommenen Vor- und Nachteilen ist nach 1990 beträchtlich kleiner geworden. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre rutscht der Netto-Nutzen sogar mehrfach ins Negative, das heißt, die Mehrheit der Deutschen hat mehr Nachteile als Vorteile in der Mitgliedschaft gesehen. Zuletzt hat sich das Meinungsbild zwar wieder etwas entspannt, aber der deutsche Wert bleibt weiterhin unter dem europäischen Durchschnitt.
Nach der jüngsten Umfrage sind die Deutschen in deutlich geringerem Ausmaß (48 Prozent) der Ansicht, ihr Land profitiere von der Mitgliedschaft als der EU-Durchschnitt (52 Prozent). Berechnet man den Netto-Nutzen als die Anzahl der Personen, die Vorteile erkennen, abzüglich der Personen, die diese nicht erkennen, ist das Bild noch klarer. Während sich im EU-Durchschnitt ein Netto-Nutzen von 15 Prozent ergibt, bleibt für Deutschland lediglich ein Nettowert von 6 Prozent. Niedrigere Nettowerte finden sich lediglich in Italien (2), Zypern (2), Lettland (0), Österreich (-2), Griechenland (-3), Ungarn (-9) und Großbritannien (-19). Besonders hohe Nettowerte zum Nutzen der Mitgliedschaft finden sich in Irland (66), Luxemburg (53), Niederlande (51), Polen (55) und der Slowakei (50).
Europäische Projekte im Urteil der Bevölkerung
Neben der Einschätzung der generellen Entwicklung befragt das Eurobarometer die Bürgerinnen und Bürger regelmäßig dazu, wie sie einzelne politische Themen oder Vorhaben beurteilen. Zu den Schlüsselthemen für die künftige Gestaltung der europäischen Integration gehört die Frage der sozialen Sicherheit. Die Kompetenz für dieses Politikfeld liegt nach den Verträgen primär in den Händen der Mitgliedstaaten, zugleich sind aber in den vergangenen Jahren deutliche Rückwirkungen der europäischen Ebene auf die nationalen Systeme festzustellen.
In keinem anderen Mitgliedstaat stand die Bevölkerung der Einführung des Euro derart ablehnend entgegen wie in Deutschland. Inflationsbefürchtungen, Zweifel an der Stabilität der Währung und die Furcht, künftig währungspolitisch unter den fiskalpolitischen Fehlern anderer Mitgliedstaaten leiden zu müssen, waren in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitet.
Wie Abbildung 3 (vgl. Abbildung 3 in der PDF-Version) zeigt, hat sich die große Skepsis der späten 1990er Jahre mittlerweile gelegt. Die Zustimmung liegt seit dem Beginn des Jahrzehnts wieder über dem Durchschnitt der EU. Das dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass sich der Euro sowohl hinsichtlich der Kaufkraft als auch im Außenverhältnis stabil gezeigt hat. Es gibt damit Grund für die Annahme, dass die Zustimmungsraten zum Euro sensibel auf die reale Entwicklung der Währungsintegration reagieren. Das lässt für die gegenwärtige Eurokrise allerdings erwarten, dass alte Ängste und Kritikpunkte revitalisiert werden und die Skepsis gegenüber der gemeinsamen Währung wieder zunimmt. Es bleibt abzuwarten, wie sich dies künftig in den Eurobarometer-Daten widerspiegelt.
Besonders kritisch sehen die Deutschen schließlich die Frage der Erweiterung. Schon in den 1990er Jahren, im Vorfeld der großen Erweiterungsrunde um zehn beziehungsweise zwölf neue Mitglieder, ist in der Bundesrepublik eine ausgesprochen starke Ablehnung gemessen worden.
Andererseits hat die mit der Erweiterung größer gewordene Heterogenität die Beantwortung der Frage, was die EU im Kern zusammenhält und welche Ziele sie verfolgt, immer schwerer gemacht. Die Debatte über weitere Erweiterungen ist nicht zuletzt mit der Mitgliedschaft der Türkei verbunden. Die Umfrageergebnisse des Eurobarometers weisen aus, dass mit Ausnahme von Österreich in keinem Mitgliedstaat die Ablehnung einer erneuten Erweiterung in den nächsten Jahren derart stark ist wie in Deutschland. Nur 22 Prozent der Befragten sprechen sich für eine solche Erweiterung aus, wohingegen 71 Prozent dagegen sind (vgl. Abbildung 4 in der PDF-Version). Eine Mehrheit für weitere Erweiterungen findet sich in den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten, aber beispielsweise auch in Spanien, Portugal und Schweden. In allen anderen (alten) Mitgliedstaaten ist die Mehrheit gegen neue Beitritte.
Ausblick: Fragile Stabilität der EU
In Deutschland wird die Mitgliedschaft des eigenen Landes zwar weiterhin von einer deutlichen Mehrheit generell befürwortet, diese Mehrheit ist aber in den vergangenen 20 Jahren kleiner geworden. Zugleich zeichnet sich mit zuletzt 15 bis 20 Prozent der Befragten, die die Mitgliedschaft als "schlechte Sache" bezeichnen, ein bemerkenswertes Niveau der EU-Gegnerschaft ab. Zudem ist das Verständnis des Integrationsprozesses instrumenteller geworden. Die Menschen achten nicht nur genauer darauf, welche Vor- und Nachteile einzelne Projekte mit sich bringen, sie können auch insgesamt weniger Vorteile erkennen.
Weiterhin kann festgestellt werden, dass die Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich der gewünschten Prioritäten der EU-Politik klare Präferenzen haben. Während sie in den Feldern Kriminalitätsbekämpfung, Umweltpolitik oder Energie eine starke Rolle der Union wünschen, lehnen sie diese in der Sozialpolitik ebenso deutlich ab wie eine Erweiterung der EU. Gleichwohl lassen sich nur für kleine Anteile der deutschen Bevölkerung Hinweise auf eine "harte" Euroskepsis finden.
Umgekehrt kann aber von einer generellen und ungeteilten Unterstützung der EU, die das gesamte Projekt einschließlich ihrer aktuellen Politiken umfasst, ebenso nicht gesprochen werden. Vielmehr finden sich auch in der deutschen Bevölkerung starke Hinweise auf das, was die Forschung als "weiche" beziehungsweise "konstruktive" Euroskepsis bezeichnet. Das heißt zugleich: Die Ablehnung einzelner Erscheinungsformen oder Vorhaben der EU kann sich temporär in einer qualifizierten Opposition zur Union insgesamt äußern. Bei der EU handelt es sich mithin auch aus deutscher Sicht um ein kontroverses Projekt, dessen politische Vorhaben auf Zustimmung oder Ablehnung treffen.
Die Legitimität der EU ist zutreffend als "prekär" gekennzeichnet worden, weil zwar gegenwärtig weder eine handfeste Legitimitätskrise festzustellen noch von einer stabilen Legitimität der Union auszugehen ist.