Einleitung
Zwanzig Jahre nach Unterzeichnung der Maastrichter Verträge und dem Wandel der Wirtschaftsgemeinschaft EG zur stärker politisch ausgerichteten EU befindet sich das europäische Projekt in seiner bisher wohl tiefsten Krise. In der Eurozone, in der die Integration am weitesten vorangeschritten ist, geraten nach Irland, Griechenland und Portugal immer mehr Euro-Länder an den Rand ihrer Liquidität und sind auf Bürgschaften anderer Staaten angewiesen. Die Schuldenkrise bedeutet eine Belastungsprobe, die den Bestand des Euros gefährdet. Darüber hinaus werden in den Ländern neben gegenseitigen Vertrauens- und Solidaritätsbekundungen immer stärker Antagonismen sichtbar, die nicht nur der Krisenbewältigung zuwiderlaufen, sondern den Zusammenhalt innerhalb der gesamten EU erschüttern: Auf der einen Seite geht in vielen Euro-Ländern die Angst um, von Griechenland und anderen Krisenstaaten mit in den Abgrund gerissen zu werden,
Gegen diese Zerfallserscheinungen stemmen sich Verteidiger der EU - in Deutschland beispielsweise Altbundeskanzler Helmut Schmidt
Konstruktion europäischer Identität in öffentlichen Diskursen
Eine kollektive Identität der EU-Mitglieder impliziert zwar zeitlich konstant bleibende Gemeinsamkeiten zwischen den Staaten, bei näherer Betrachtung verändern sich aber sowohl die Inhalte als auch die Intensität von Identität dynamisch. Was es bedeutet, der EU anzugehören und Europäer zu sein, wird nicht durch Geburt oder die europäische Staatsbürgerschaft determiniert. Die Bedeutung und Verbindlichkeit kollektiver Identität muss erst konstruiert werden und dies geschieht in öffentlich geführter Kommunikation.
Im öffentlichen Diskurs werden die unterschiedlichen Deutungen miteinander konfrontiert. Es vollzieht sich ein Deutungswettkampf, in dem die beteiligten Akteure ihre jeweilige Sichtweise auf die EU begründen und durchzusetzen versuchen. Dabei kristallisiert sich - ähnlich dem Prozess öffentlicher Meinungsbildung - eine öffentliche Identität heraus: eine Identität, die kollektiv und öffentlich diskutiert wurde und der Kritik standgehalten hat.
Nationale Vielfalt europäischer Identitätskonstruktionen
Solange der Diskurs über die EU nicht abreißt, bleibt die Konstruktion europäischer Identität im Fluss. Sie unterliegt einem fortlaufenden Prozess, dessen Resultate immer nur auf Zeit Gültigkeit beanspruchen können. Zudem ist es in segmentierten Gesellschaften unwahrscheinlich, dass sich im Diskurs ein einziger Identitätsinhalt durchsetzt, von dem sich alle Gesellschaftsakteure gleichermaßen als Europäer repräsentiert fühlen. Der Prozess öffentlicher Reflexion ist also längst nicht gleichbedeutend mit einer Konsensbildung. Vielmehr können trotz langwieriger öffentlicher Debatten unterschiedliche Identitätsdeutungen in einem reflektierten Dissens nebeneinander bestehen bleiben. Es kann also umstritten bleiben, von welchen Traditionen oder welcher Geschichtsdeutung die EU beispielsweise als eine "Kulturgemeinschaft" zusammengehalten wird und welcher Stellenwert dem Christentum für die Selbstbeschreibung der EU zukommt.
Unterschiede in den Identitätsdeutungen sind innerhalb nationaler Gesellschaften keineswegs unwahrscheinlich und können in Abhängigkeit zur Heterogenität der jeweiligen Gesellschaft stehen. Besonders ausgeprägt ist die Segmentierung innerhalb der EU jedoch zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten: Länder sehr unterschiedlicher Größe, ökonomischer Stärke und mit unterschiedlichen Kulturen stehen sich gegenüber. Dass sich in den einzelnen Nationen jeweils eigene Sichtweisen auf die EU entwickelt haben, hat die Forschung bisher hinreichend bewiesen.
Diese Vielfalt wird in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mittlerweile anerkannt und als postnationale oder kosmopolitische Identität behandelt.
Konstruktives Potenzial von Identitätskrisen
Der diskursive Konstruktionsprozess europäischer Identität verharrt zwar zu großen Teilen, aber keineswegs konsequent an den nationalen Grenzen. Wie die Forschung zur europäischen Öffentlichkeit gezeigt hat, sind europaweite Diskurse auch unter den Bedingungen national verhafteter Medien möglich.
Nicht selten führen unterschiedliche Identitätsdeutungen zu gegensätzlichen Interpretationen der Problemlagen und Handlungsoptionen. Nur in wenigen Konfliktfällen wird dabei aber die Frage nach europäischer Identität auch offensiv gestellt. Dies ändert sich erst, wenn grundlegende Werte oder die Gestalt der EU berührt sind wie etwa bei außenpolitischen Problemstellungen oder Fragen zu einer tiefer gehenden Integration. Ein prominentes Beispiel, das einen expliziten Selbstverständigungsdiskurs ausgelöst hat, ist der "Fall Haider" aus dem Jahr 2000: Als in Österreich die rechtspopulistische Partei Jörg Haiders, die FPÖ, in die Regierungsverantwortung genommen wurde, entzündete sich daran eine EU-weite Debatte über europäische Werte und Sanktionen gegen das EU-Mitglied Österreich.
Mehr denn je scheint diese Notwendigkeit vor dem Hintergrund der aktuellen Krise im Euroraum zu bestehen. Anders als während der Debatten über einen Türkei-Beitritt, die Osterweiterungen oder das Projekt einer europäischen Verfassung befindet sich die EU im Kontext der Schuldenkrise in keiner Erweiterungs- oder Vertiefungskrise, in der sie ihre Gestalt geplant verändert und bei unüberbrückbaren Widerständen im Status quo verharren kann. Während es sich bei den angeführten Beispielen um kontrollierte Diskussionen über das Ausmaß und die Geschwindigkeit des Zusammenwachsens handelte, in denen Rücksichtnahmen möglich waren, steht nunmehr der Bestand der erreichten Integration auf dem Spiel. Um einen Zerfall abzuwenden, sind die Staaten deutlich stärker dazu angehalten, sich auf einen europäischen Selbstverständigungsdiskurs einzulassen.
Für den europäischen Zusammenhalt liegt in dieser Situation durchaus ein Gefahrenpotenzial vor, das akut wird, wenn sich die einzelnen Staaten trotz des Verständigungsdrucks einem gemeinsamen Diskurs verschließen. In diesem Fall beharren die Staaten auf ihren bisherigen nationalen Konstruktionen europäischer Identität anstatt sie in konstruktiver Kommunikation zur Disposition zu stellen und wenden sich in der Konsequenz von der gemeinsamen europäischen Politik und den anderen Mitgliedstaaten ab. In dieser Logik lässt sich beispielsweise die Entscheidung Großbritanniens auf dem EU-Gipfel vom 10. Dezember 2011 verstehen, sich als einziges Land einer stärkeren finanzpolitischen Koordinierung zwischen den Staaten zu verweigern. Damit ist Großbritannien einem offenen, europäischen Selbstverständigungsdiskurs ausgewichen, um seine nationale Sichtweise auf die EU als liberaler Markt beibehalten zu können und keine Spannung zwischen seiner nationalen und seiner europäischen Identität zu riskieren.
Andere Staaten mögen mehr Mut aufbringen als die britische Regierung und Inkonsistenzen zwischen nationaler und europäischer Identität in Kauf nehmen. Ihr Engagement im Selbstverständigungsdiskurs wird dabei zwar ebenfalls kaum frei von Skepsis sein, denn sie müssen sich auf Erwägungen ihnen bislang fremder oder nicht genehmer Inhalte einlassen, die in den Ländern wiederum Deutungskonflikte zwischen Politik und Bevölkerung hervorrufen können. Damit muss aber keine Entfremdung von der EU einhergehen. Vielmehr kann bereits die aktive Beteiligung am Diskurs genügen, damit sich die Länder und ihre Bevölkerungen unabhängig von den im Einzelnen debattierten Inhalten als legitime Mitglieder der Gemeinschaft fühlen - und von den anderen Nationen als solche anerkannt werden. Das integrative Pozential europäischer Identität liegt nicht in der Fixierung konkreter Bedeutungen, sondern im Prozess der gemeinsamen Suche nach Identität. Es entfaltet sich, wenn die Identitätskonstruktionen nicht in einer Vielzahl separater nationaler Debatten, sondern in miteinander verknüpften europäisierten Diskursen stattfinden, die auch die breite Bevölkerung einbinden. In der Forcierung solcher integrativer Identitätsdiskurse besteht schließlich die konstruktive Wirkung von Krisen.