Einleitung
Nach Abschluss des Anwerbeabkommens im Jahr 1961 reisten Menschen aus der Türkei vorwiegend als Arbeitskräfte in die damalige Bundesrepublik. Ihr Aufenthalt war nur temporär geplant, jedoch blieb ein Teil von ihnen langfristig in Deutschland, holte Familienmitglieder nach oder gründete eigene Familien in der neuen Heimat. Inzwischen leben ihre Nachkommen in der dritten und vierten Generation in der Bundesrepublik.
Eine sowohl aus soziologischer als auch (sozial-)politischer Sicht relevante Frage betrifft die Solidarität und das Unterstützungspotenzial in Familien und insbesondere zwischen den Generationen. Zwar hat sich die Forschung in Deutschland in den vergangenen Jahren in einer ganzen Reihe von Untersuchungen den Beziehungen zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern gewidmet. Familien mit Migrationshintergrund fanden jedoch ausgesprochen selten explizite Beachtung.
Dabei gibt es durchaus Anhaltspunkte, die Unterschiede zwischen Einheimischen und Migranten vermuten lassen. In der Migrationsforschung wurden insbesondere der soziokulturelle Hintergrund der Zuwanderinnen und Zuwanderer thematisiert sowie die spezifischen, mit der Migration einhergehenden Erfahrungen. Die theoretische Auseinandersetzung hiermit mündete in zwei konkurrierende Thesen: Während die Solidaritätsthese einen engen Zusammenhalt in Familien mit Migrationshintergrund behauptet, postuliert die Konfliktthese, dass Eltern-Kind-Beziehungen in besonderem Maße von Spannungen und Auseinandersetzungen geprägt sind.
Solidaritätsthese
Die Solidaritätsthese geht davon aus, dass sich die Herkunftskulturen der wichtigsten Migrantengruppen in Deutschland sowie die Migrationserfahrungen ihrer Mitglieder in einer größeren emotionalen Verbundenheit der Generationen niederschlagen. Gerade die türkeistämmige Migrantengruppe stammt aus einem Kulturkreis, dessen historisch gewachsene Familien- und Verwandtschaftsstrukturen sich von denen in Westeuropa unterscheiden. Die höchste Priorität kommt dort der (männlichen) Abstammungslinie zu, womit umfangreiche Verpflichtungen und Interaktionen zwischen Eltern und Kindern einhergehen.
Den zweiten Ursachenkomplex hierfür sieht die Solidaritätsthese in der Migrationserfahrung und der daraus resultierenden Situation als Fremde in einem neuen sozialen Umfeld. Der gesellschaftliche Kontextwechsel infolge von internationaler Migration wird als abrupt, massiv und alle Lebensbereiche umfassend beschrieben. Eine Stärkung des Familienzusammenhalts kann entsprechend als Reaktion auf die Migrationserfahrungen oder auf eine als fremd und feindlich erlebte Umwelt angesehen werden.
Dabei verschiebt sich die Perspektive der Migrationsforschung erst allmählich von Familien mit minderjährigen und jugendlichen Kindern hin zu Generationenbeziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern.
Konfliktthese
Ebenso wie die Solidaritätsthese hebt die Konfliktthese sowohl auf die kulturelle Distanz zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft als auch auf migrationsspezifische Erfahrungen von Migrantenfamilien im Aufnahmekontext ab. Während allerdings bei der Solidaritätsthese von zwei weitgehend unabhängig voneinander existierenden Mechanismen ausgegangen wird, greifen bei der Konfliktthese die beiden Erfahrungsbereiche Kultur und Migration stärker ineinander. Der Generationenkonflikt resultiert demnach nicht aus einem Transfer bestimmter Beziehungsmuster aus dem Herkunftsland, sondern entsteht erst in der Migrationssituation. Die Hauptaussage der Konfliktthese lautet: Eine Wanderung von einer traditionellen in eine moderne Gesellschaft führt zum Auseinanderbrechen des vormals stabilen Familienverbandes.
Die Konfliktthese, welche die Diskussion um Migrantenfamilien lange Zeit dominierte, orientiert sich dabei an klassischen modernisierungstheoretischen Annahmen: Plakativ gesprochen prallen der traditionelle Familialismus in der zugewanderten Bevölkerung und der funktionale Individualismus in modernen kapitalistischen Aufnahmeländern aufeinander. In Migrantenfamilien führt dann die Sozialisation in zwei Kulturen - der Herkunftskultur und der Kultur der Aufnahmegesellschaft - zu einem Kulturkonflikt, der zwischen den Generationen in einer Familie ausgetragen wird, mit intergenerational divergierenden Wertvorstellungen und Lebensplänen.
Es wird davon ausgegangen, dass solche Konflikte vor allem in Familien auftreten, deren Kinder während oder vor der Enkulturationsphase (bis zum sechsten Lebensjahr) eingewandert beziehungsweise in Deutschland geboren sind, da diese Kinder (später) besonders in ihrer identifikativen und kulturellen Orientierung (sowie in ihrer Kompetenz) von den im Herkunftsland sozialisierten Eltern abweichen. So wird argumentiert, dass sich die Kinder nicht nur an anderen kulturellen Werten orientieren, sondern auch in der sprachlichen Anpassung ihren Eltern voraus sind. Eine Folge kann elterlicher Autoritätsverlust durch Rollentausch sein, der wiederum zu einer Zunahme intergenerationaler Auseinandersetzungen führt.
Die konflikttheoretische Perspektive wird in der deutschsprachigen Migrationsforschung sehr kritisch diskutiert.
Familienbeziehungen in Deutschland
Im Folgenden soll empirisch geprüft werden, welche der beiden Thesen die Realität in Familien mit Migrationshintergrund am besten erklärt. Für die hier präsentierte Analyse wird auf die 2008 und 2009 erhobenen Daten des Beziehungs- und Familienpanels (pairfam) zurückgegriffen (erste Erhebungswelle).
Betrachtet wird die Beziehungsqualität, welche über die emotionale Verbundenheit und die Konflikthäufigkeit abgebildet wird. Die emotionale Verbundenheit wurde über eine entsprechende Einschätzung des Befragten zur Enge der Beziehung unter Rückgriff auf eine fünfstufige Antwortskala gemessen, die von "gar nicht eng" (Wert 1) bis "sehr eng" (Wert 5) reichte. Die Konflikthäufigkeit wurde über einen Mittelwert-Index operationalisiert, der auf die beiden Fragen zurückgeht: "Wie oft sind Sie und Ihre leibliche Mutter (Vater) unterschiedlicher Meinung und streiten sich? Wie oft sind Sie und Ihre leibliche Mutter (Vater) ärgerlich oder wütend aufeinander?" Für deren Beantwortung standen den Befragten jeweils eine Skala von "nie" (Wert 1) bis "immer" (Wert 5) zur Verfügung. Im Folgenden wird zunächst das Ausmaß von intergenerationaler Verbundenheit beziehungsweise von Konflikten in den beiden hier interessierenden Gruppen präsentiert. Es folgt die Darstellung und Diskussion vertiefender Analyseergebnisse.
Vergleichende Befunde
Die Ergebnisse zeigen leichte, gleichwohl statistisch bedeutsame Unterschiede zwischen den beiden Gruppen, die zumindest tendenziell die Solidaritätsthese stützen: Türkeistämmige Personen fühlen sich ihren Eltern emotional stärker verbunden als Einheimische, die ihrerseits häufiger von Konflikten mit ihren Eltern berichten (siehe Abbildung 1 der PDF-Version).
Eine differenzierte Betrachtung nach Generationenzugehörigkeit legt einen interessanten Befund offen: Türkeistämmige Befragte der zweiten Generation weisen eine etwas höhere emotionale Verbundenheit auf als Angehörige der ersten Generation und unterscheiden sich damit stärker von den einheimischen Deutschen. Gleichzeitig zeichnen sie sich durch ein höheres Konfliktniveau aus. Türkeistämmige Kinder, die in Deutschland geboren wurden oder vor ihrem sechsten Lebensjahr eingereist sind (zweite Generation), ähneln auf dieser Beziehungsdimension den Einheimischen stärker als diejenigen, die erst nach ihrem sechsten Lebensjahr nach Deutschland gekommen sind (erste Generation) und entsprechend stärker im Herkunftsland der Eltern sozialisiert wurden. Dieser Befund verweist darauf, dass bei Angehörigen der zweiten Generation beide Thesen gleichzeitig greifen, da mehr Konflikte und größere Verbundenheit zusammenfallen.
Es stellt sich die Frage, welche Mechanismen diesen Mustern zugrunde liegen. Den Thesen folgend ist zu vermuten, dass spezifische Charakteristika der verschiedenen Gruppen als verdeckte, sich möglicherweise auch gegenseitig aufhebende Effekte wirken und Kompositionseffekte darstellen. Von Bedeutung in diesem Zusammenhang können kulturelle Merkmale sein: So sind die türkeistämmigen Befragten im Schnitt nicht nur religiöser (2,5 Punkte auf einer Skala von 0 bis 6, im Vergleich zu 1,5 Punkten bei den Einheimischen), sondern, im Hinblick auf familienbezogene Werte, auch konservativer (3,6 Punkte auf einer Skala von 1 bis 5, im Vergleich zu 2,7 Punkten bei den Einheimischen). Beides sollte sich positiv auf die intergenerationale Verbundenheit auswirken und die Anlässe für Konflikte reduzieren, wenn man annimmt, dass erstens eine ausgeprägte Religiosität mit einer starken Wertschätzung der Familie einhergeht, und zweitens die Eltern der hier Befragten, die alle im Herkunftsland sozialisiert wurden, ebenfalls eher religiös und traditionell eingestellt sind. Die intergenerationale Übereinstimmung sollte daher entsprechend groß sein und wenig Anlass für Konflikte bieten.
Die Forschung zu Generationenbeziehungen hat überdies die Relevanz von Gelegenheitsstrukturen herausgestellt, allen voran die Wohnentfernung zwischen den Generationen. Hier lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den Gruppen erwarten, die sich auch bestätigen: Der Anteil der erwachsenen Kinder, die im selben Haus oder Haushalt wie das jeweilige Elternteil leben, ist bei den türkeistämmigen Befragten (26 Prozent) wesentlich höher als bei den Einheimischen (20 Prozent). Zugleich ist die Wohnentfernung in türkeistämmigen Migrantenfamilien insgesamt deutlich größer. In nur acht Prozent aller einheimischen Familien leben die Eltern mehr als drei Stunden entfernt. Bei türkeistämmigen Befragten trifft dies dagegen für 36 Prozent aller Eltern-Kind-Beziehungen zu. Dabei handelt es sich wahrscheinlich zu einem Großteil um Eltern, die im Herkunftsland leben und entweder gar nicht mit nach Deutschland eingereist oder bereits wieder zurückgekehrt sind.
Weitere soziodemografische Merkmale, die in den Analysen kontrolliert werden, ergeben folgendes Bild: In beiden Gruppen haben zu gleichen Teilen Männer und Frauen an der Untersuchung teilgenommen; 80 Prozent der Befragten leben in einer Partnerschaft. Allerdings haben türkeistämmige Befragte viel häufiger Geschwister (nur drei Prozent sind Einzelkinder, im Vergleich zu elf Prozent bei den Einheimischen) und sind selbst schon Eltern. Das beeinflusst nach bisherigen Forschungserkenntnissen die Beziehungen zu den eigenen Eltern stark. Vor allem die Existenz von Geschwistern kann sich unterstützend und konfliktreduzierend auswirken.
Einflussfaktoren auf die Beziehungsqualität
Welche Einflussfaktoren sind es, die auf die Beziehungsqualität wirken und die beobachteten Befunde erklären können? Das statistische Analyseverfahren der linearen Regression ermöglicht es, diese Zusammenhänge ("Beta-Werte") zu beschreiben. In den folgenden Grafiken sind die "Beta-Werte" für die einzelnen Faktoren abgebildet: Ein Wert unter Null bedeutet einen negativen Zusammenhang mit der Konflikthäufigkeit (siehe Abbildung 2 der PDF-Version) beziehungsweise der emotionalen Verbundenheit (siehe Abbildung 3 der PDF-Version), ein Wert über Null einen positiven. Lange Balken symbolisieren hohe Werte, das heißt größere und dann in der Regel auch statistisch signifikante Zusammenhänge; ein Sternchen (*) weist auf einen schwachen, aber signifikanten Zusammenhang mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von fünf Prozent, zwei Sternchen (**) weisen auf einen starken Zusammenhang mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von einem Prozent.
Der oben beschriebene Unterschied in der Konflikthäufigkeit zwischen türkeistämmigen und einheimischen Befragten erweist sich in der weiteren Analyse, ohne Einbeziehung anderer Merkmale, als statistisch hoch signifikant (siehe Abbildung 2 der PDF-Version, Modell 1). Im Gesamtmodell allerdings, in welchem die oben beschriebenen spezifischen Verteilungen in den beiden Gruppen hinsichtlich der Wohnentfernung und kultureller, soziodemografischer und sozioökonomischer Charakteristika berücksichtigt werden (siehe Abbildung 2 der PDF-Version, Modell 2), verliert der Unterschied zwischen Einheimischen und Türkeistämmigen stark an Bedeutung. Dies bedeutet, dass die beobachteten (wenngleich geringen) Unterschiede zwischen türkeistämmigen und einheimischen Befragten in der Konflikthäufigkeit letztlich vor allem auf Unterschiede in diesen anderen Merkmalen zurückgeführt werden können.
Vor allem zwei Faktoren erweisen sich dabei als besonders einflussreich: So reduziert sich die Konflikthäufigkeit signifikant bei hoher Wohnentfernung zwischen Kindern und Eltern (drei Stunden und mehr) und steigender Geschwisterzahl der befragten Person. Beides ist bei türkeistämmigen Migranten häufiger anzutreffen. Weitere bedeutsame Einflussfaktoren sind das Geschlecht des Elternteils (Kinder berichten häufiger in Bezug auf Mütter von Konflikten als in Bezug auf Väter) und die Werthaltung: Erwartungsgemäß berichten Personen mit traditionelleren Familienwerten weniger über Konflikte mit ihren Eltern. Möglicherweise harmonieren hier Kinder und Eltern in ihren Einstellungen ("intergenerationale Konsonanz") mit entsprechenden Konsequenzen für die Beziehungsqualität, oder aber Konflikte werden schlicht nicht ausgetragen.
Differenziert man zusätzlich nach der Generationenzugehörigkeit der türkeistämmigen Befragten (hier nicht abgebildet), wird deutlich, dass für Angehörige der ersten Generation trotz Berücksichtigung der als erklärungsrelevant erachteten Merkmale die bereits festgestellte geringere Konflikthäufigkeit auf signifikantem Niveau bestehen bleibt, während sich Befragte der zweiten Generation nicht von Einheimischen unterscheiden. Die beobachteten Unterschiede zwischen den Generationen können demnach nicht allein mit der größeren Wohnentfernung zu den Eltern in der ersten Generation oder mit den weiteren kulturellen, soziodemografischen und sozioökonomischen Spezifika erklärt werden. Vielmehr sind sie auf die Generationenzugehörigkeit selbst und damit verbundene, hier nicht berücksichtigte Erfahrungen zurückzuführen. Es kann vermutet werden, dass eine starke intergenerationale Verbundenheit, so wie sie hier definiert ist, eher mit einer geringen Konflikthäufigkeit einhergeht. Allerdings gibt es auch ambivalente Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, in denen beides stark ausgeprägt ist, so dass zu klären ist, ob die Faktoren, die konfliktreduzierend wirken, umgekehrt auch kohäsionsfördernd sind, also die emotionale Verbundenheit stärken (siehe Abbildung 3 der PDF-Version).
Im Abbildung 3, Modell 1 (siehe PDF-Version) wird zunächst wieder nur der Zusammenhang zwischen der Herkunft der befragten Person und der emotionalen Verbundenheit abgebildet. Ohne Berücksichtigung weiterer Merkmale ist der Unterschied in der emotionalen Verbundenheit zu den jeweiligen Eltern zwischen türkeistämmigen Migranten und Einheimischen zunächst hochsignifikant bedeutsam. Hier sind es, wie bereits erwähnt, vor allem die Angehörigen der zweiten Generation, die sich ihren Eltern enger verbunden fühlen als Einheimische, aber auch jene der ersten Generation. Spielt hier die Wohnentfernung ebenfalls eine Rolle? In Abbildung 3, Modell 2 (siehe PDF-Version) , in welchem die verschiedenen Merkmalsverteilungen berücksichtigt werden, bleibt der Unterschied zwischen den einheimischen und türkeistämmigen Befragten leicht signifikant bestehen, das heißt unabhängig von anderen Faktoren ist die emotionale Verbundenheit zu den Eltern bei Türkeistämmigen größer. Das Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt wirkt sich deutlich positiv aus, kann aber nicht alle Unterschiede erklären.
Eine ausgeprägte Religiosität erhöht die emotionale Nähe, und erneut spielt das Geschlecht eine Rolle: Töchter berichten über eine größere Verbundenheit als Söhne, und beide fühlen sich vor allem ihren Müttern emotional nahe. Auch mit dem Vorhandensein eines Partners geht ein positiver Effekt auf die Beziehung zu den eigenen Eltern einher. Unbedeutend bleiben dagegen die anderen Einflussfaktoren wie die Geschwisterzahl, eine größere Wohnentfernung, kulturelle Einstellungen oder das Bildungsniveau. Bemerkenswerterweise gilt dieses Muster auch, wenn nach Generationenzugehörigkeit unterschieden wird (hier nicht abgebildet): Türkeistämmige Angehörige der zweiten Generation fühlen sich nicht allein deswegen ihren Eltern stärker verbunden, weil sie häufiger noch mit ihnen zusammenleben. Unabhängig von der Wohnentfernung bleibt nämlich auch in diesem Modell ein positiver Effekt für die zweite Generation bestehen. Die erste Generation dagegen unterscheidet sich nicht mehr von den Einheimischen, wenn die anderen soziodemografischen Merkmale (wie Geschlecht, Geschwisterzahl und Partnerschaft) und die kulturellen Charakteristika (wie Werthaltungen zu Familie und Religiosität) untersucht werden.
Diskussion
Die Untersuchung hat gezeigt, dass die theoretische Diskussion die Unterschiede bezüglich der Beziehungsqualität von jungen Erwachsenen und ihren Eltern mit und ohne Migrationshintergrund deutlich überschätzt. So kann hier bestätigt werden, dass die Generationenbeziehungen beider Gruppen von hoher emotionaler Verbundenheit geprägt sind und Konflikte vergleichsweise selten vorkommen. Entgegen der Vorhersage der Konfliktthese weisen türkische Einwandererfamilien sogar eine leicht höhere Beziehungsqualität auf als einheimische Deutsche.
Kulturell lässt sich das mit familienbezogenen Werteinstellungen und der Bedeutung von Religion begründen: So berichten konservativ eingestellte Personen - und türkeistämmige Migrantinnen und Migranten sind insgesamt konservativer orientiert - seltener von Konflikten, und die unter ihnen ebenfalls stärker ausgeprägte Religiosität geht mit einer höheren Verbundenheit zwischen den Generationen einher. Dahinter ist eine stärkere, mit diesen kulturellen Werten verbundene Familienloyalität zu vermuten. Ob allerdings die Einstellungen und Werthaltungen in ihrer festgestellten Ausprägung aus dem Herkunftskontext "importiert" wurden, oder ob sie sich nicht im Zuge der Migrationserfahrung erst verstärkt haben, muss hier offen bleiben.
Dass die Migration eine Ursache für die Gruppenunterschiede darstellt, wird durch die Differenzen zwischen den Einwanderergenerationen angedeutet: So erleben lediglich die Angehörigen der ersten Generation seltener Konflikte mit ihren Eltern, wohingegen sich nur die in Deutschland geborenen oder früh immigrierten Befragten (zweite Generation) ihren Eltern enger verbunden fühlen als die einheimischen Deutschen. Basierend auf den hier verwendeten Indikatoren lässt sich resümieren, dass eine eigene Migrationserfahrung offenbar zwar konfliktreduzierend wirkt, aber nicht zwangsläufig die emotionale Verbundenheit fördert. Mit der Akkulturation und dem Einleben im Aufnahmeland entwickelt sich über die Generationen hinweg eine spezifische intergenerationale Verbundenheit. Gleichzeitig nimmt die Konflikthäufigkeit zu und passt sich der der Einheimischen an. Die veränderten Rahmenbedingungen für die Ausgestaltung von Generationenbeziehungen - wie die größere Wohnentfernung zu den Eltern in der ersten Generation oder die verbreitete Koresidenz in der zweiten Generation - sind hier sehr wichtige, jedoch keine alleinigen Erklärungen.
Welche Folgen die berichtete emotionale Qualität für das Wohl der Kinder und ihrer Eltern hat und wie hiervon weitere Beziehungsaspekte wie die gegenseitige Hilfe im Alltag sowie Unterstützungsleistungen in Notlagen beeinflusst werden, kann aus den Analysen nicht geschlossen werden. Insgesamt lassen die Ergebnisse jedoch eine große familiäre Stabilität und ausgeprägte Unterstützungspotenziale vermuten: Die Familie bleibt ein wichtiger Bezugspunkt für das Individuum. Hier erfährt es Anerkennung und emotionale Nähe, auch im Erwachsenenalter und bei einer "transnationalen Organisation" der Familie. Umgekehrt können die Eltern auf ihre Kinder zählen; für einen Rückzug der Kinder und eine Entfremdung zwischen den Generationen finden sich keine Hinweise. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines steigenden Anteils Älterer im Zuge des demografischen Wandels ist dies bedeutsam, steigen im höheren Alter doch die Unterstützungsbedarfe.
In der Beziehungsqualität unterscheiden sich einheimische und türkeistämmige Familien kaum. Der kulturelle Herkunftskontext und die mit einer Migration einhergehenden Erfahrungen machen einen Unterschied, sind aber in der Konsequenz für die Generationenbeziehungen wesentlich unbedeutsamer als häufig angenommen.