Einleitung
Die Einwanderung von Türkeistämmigen
Die strukturellen Ursachen lagen in der beginnenden Bildungsexpansion und den damit verbundenen längeren Schul- und Ausbildungsjahren sowie dem sinkenden Renteneintrittsalter. Schließlich waren der Bau der Mauer im Jahr 1961 und die Schließung der Grenze zwischen der BRD und der DDR eine weitere Zäsur, da die ostdeutschen Arbeitskräfte wegfielen.
Die Lücke zwischen offenen Stellen und vorhandenen Arbeitskräften sollte durch die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte aus Italien (1955), Spanien (1960) und Griechenland (1960) gefüllt werden. Im Oktober 1961 wurde das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei unterzeichnet.
Die Anfänge
Durch die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften sollte eine flexible Steuerung der Arbeitsnachfrage sichergestellt werden. Daher wurde in der Anfangsphase die Aufenthaltserlaubnis auf maximal zwei Jahre begrenzt; danach sollten die "Gastarbeiter" zurückkehren und durch "neue" ersetzt werden. Die mit dem Rotationsverfahren verbundenen Fluktuationskosten für die Arbeitgeber stellten sich aber als zu hoch heraus und sollten durch längere Beschäftigungsphasen gesenkt werden. Daher wurde die Dauer des Aufenthalts verlängert.
Zum Einwanderungsland wurde Deutschland aber erst mit dem Anwerbestopp 1973.
Status quo der Erwerbstätigkeit
Die Zahl aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland nahm zwischen 2000 und 2009 um 1,6 Prozent ab. Bei Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit ist dieser Wert sogar um 14,8 Prozent gesunken.
Die Teilzeitarbeit stellt die häufigste und die am wenigsten vom Normalarbeitsverhältnis abweichende Form der atypischen Beschäftigung dar. Vor allem Frauen sehen in dieser Beschäftigungsform die Möglichkeit, Familie und Beruf besser miteinander zu vereinbaren, und nehmen im Gegenzug ein geringeres Erwerbseinkommen sowie geringere Leistungen aus dem Sozialversicherungssystem in Kauf. Gerade bei Frauen mit türkischer Staatsangehörigkeit ist mit 38,3 Prozent im Jahr 2009 die sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung eine weit verbreitete Erwerbsform (bei Männern mit türkischer Staatsangehörigkeit sind es 7,8 Prozent). Die Quote ist aber sowohl bei anderen Ausländergruppen (Männer: 9,3 Prozent, Frauen: 35,9 Prozent) als auch bei Personen mit deutscher Staatbürgerschaft (Männer: 5,5 Prozent, Frauen: 34,5 Prozent) ähnlich verteilt.
Auch bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, sogenannten Minijobs, ist eine Geschlechtertrennung zu erkennen: 19,9 Prozent der türkeistämmigen Frauen beziehungsweise 7,1 Prozent der türkeistämmigen Männer haben 2009 einen Minijob ausgeübt. Damit liegt der Wert bei Türkeistämmigen im Vergleich zu anderen Personengruppen mit Migrationshintergrund im Mittelfeld, aber weit über dem Wert der Personen ohne Migrationshintergrund (Männer: 4,4 Prozent, Frauen: 12,6).
Trotz des ökonomischen Strukturwandels zeigt sich auch heute ein hoher Anteil von Türkeistämmigen im produzierenden Gewerbe (über 40 Prozent der türkeistämmigen Erwerbstätigen). Gleichzeitig hat auch der Dienstleistungsbereich mit über 30 Prozent an Bedeutung gewonnen.
Status quo der Erwerbslosigkeit
Die Erwerbslosenquote ist der prozentuale Anteil der Erwerbslosen an den Personen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.
Die hohe Erwerbslosigkeit spiegelt sich auch in der Grundsicherungsleistung wider: Personen mit Migrationshintergrund (19 Prozent) sind mehr als dreimal so oft auf Grundsicherung angewiesen als Personen ohne Migrationshintergrund (6 Prozent).
Zusammenfassend heißt dies, dass das Arbeitsangebot an Personen mit türkischer Abstammung einer geringeren Nachfrage gegenübersteht. Das Ungleichgewicht ist hierbei gößer als bei Personen ohne Migrationshintergrund. Besonders prekär ist die Lage für türkeistämmige Frauen. Die schlechte Arbeitsmarktintegration spiegelt sich auch in der höheren Armutsgefährdungsquote
Pfadabhängigkeit der Qualifikationsstruktur
Die Humankapitaltheorie des Ökonomen Gary Becker besagt, dass das Arbeitslosigkeitsrisiko einer Person höher ist, je geringer die Investitionen in das eigene Humankapital in Form von schulischer und beruflicher Bildung ausfällt.
Die Investitionsbereitschaft in das Humankapital der angeworbenen Arbeitskräfte war schließlich sowohl von Seiten der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer durch die "fiktive Rückkehroption" (die Vorstellung, nach einigen Jahren wieder in die Heimat zurückzukehren) eingeschränkt. Die geringere Arbeitsmarktintegration der ersten Generation kann damit durch ihre fehlende Humankapitalausstattung erklärt werden.
Das Bildungsniveau auch der Nachfolgegenerationen mit türkischer Abstammung zeigt erhebliche Defizite: Der Anteil derjenigen 14- bis 45-Jährigen, die keinen Schulabschluss haben, lag 2001 noch bei zwei Prozent und ist 2006 auf vier Prozent gestiegen, wohingegen der Anteil derjenigen mit Haupt- oder Realschulabschluss gesunken ist. Der Anteil der türkeistämmigen Abiturienten ist von 13 Prozent auf 16 Prozent gestiegen - dennoch liegt dieser Wert im Vergleich zu Personen ohne Migrationshintergrund (36 Prozent) auf einem geringeren Niveau. Im Bereich der beruflichen Bildung ist das Bild ebenfalls kritisch: Der Anteil derjenigen, die keine berufliche Ausbildung haben, ist von 44 Prozent (2001) auf 57 Prozent (2006) gestiegen. Im Umkehrschluss dazu ist der Anteil derjenigen mit Berufsausbildung von 55 auf 40 Prozent gesunken. Einen akademischen Abschluss hatten im Jahr 2006 lediglich drei Prozent der Nachkommen von türkischen Zuwanderern.
Nach der Humankapitaltheorie sind die schlechteren Arbeitsmarktbedingungen der Nachfolgegeneration auf die mangelnde Investition in das eigene Humankapital zurückzuführen. Hierbei wird angenommen, dass der Mensch losgelöst von jeglichen äußeren Einflüssen rationale Entscheidungen trifft und folglich "Armut und Arbeitslosigkeit entsprechend dem Präferenzmuster und Rationalverhalten individuell verschuldet" seien.
Aus der Bildungssoziologie ist bekannt, dass sich Bildungsnachteile auch bei Folgegenerationen fortsetzen können.
Pfadabhängige Segmentierung
Innerhalb der Arbeitsmarktökonomie ist bekannt, dass Arbeitsmärkte in der Realität nicht vollkommen sind, sondern nach der Segmentationstheorie auch geschlossene Teilarbeitsmärkte aufweisen können; diese wiederum produzieren ebenfalls Arbeitsmarktungleichheiten.
Die Tatsache, dass die erste Generation der türkeistämmigen "Gastarbeiter" hauptsächlich auf Arbeitsplätze im sekundären Teilarbeitsmarkt verteilt wurde, ist - neben ihrer Rückkehroption - unter anderem auf das Machtgefälle innerhalb der Arbeitnehmerschaft zurückzuführen.
Der "Wilde Streik" in den Kölner Ford-Werken 1973, der vor allem von den 12000 türkeistämmigen Ford-Arbeitern getragen wurde, ist ein exemplarisches Beispiel für die fehlende Interessenvertretung der Randbelegschaft: Die Arbeitsniederlegung wurde sowohl vom Betriebsrat und der IG Metall als auch von der deutschen Stammbelegschaft abgelehnt und nicht mitgetragen, so dass der bislang größte Streik ausländischer Arbeiter mit Polizeigewalt beendet wurde.
Für die Nachfolgegenerationen treffen diese Rahmenbedingungen - die bei der "ersten Generation" eine Verortung im sekundären Arbeitsmarkt begünstigten - nicht mehr zu: Einerseits gibt es keine Rückkehroption (mehr), andererseits hat sich der Organisationsgrad der Türkeistämmigen innerhalb von Betriebsräten und Gewerkschaften verbessert. Damit liefert die Segmentationstheorie zwar Erklärungen für die Arbeitsmarktungleichheit (trotz gleicher Qualifikation) der ersten, nicht aber für die der Nachfolgegenerationen.
Vor diesem Hintergrund könnte an dieser Stelle die Frage nach der Art des Ausbildungsberufs eine Erklärung für die nach wie vor vorhandenen Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt bieten. Hierzu ist die Situation am Übergang von der Ausbildung in den Arbeitsmarkt zu betrachten, denn der Arbeitsmarkterfolg hängt neben dem Bildungsabschluss auch von der Berufserfahrung ab.
Übergangsprobleme an dieser sogenannten zweiten Schwelle (die "erste Schwelle" ist der Übergang von der Schule in die Ausbildung) können auf die Rahmenbedingungen des Ausbildungsbetriebs und die Wahl des Ausbildungsberufs zurückgeführt werden:
Kurzum: Allein durch die Wahl des Ausbildungsberufs und Ausbildungsbetriebs können Nachfolgegenerationen der Zugewanderten ihre Verortung im sekundären Teilarbeitsmarkt zementieren und so eine geringere Arbeitsmarktintegration aufweisen. Nähere Untersuchungen hierzu sind aber bisher nicht vorhanden und stellen eine Lücke innerhalb der Arbeitsmarktforschung dar. Festzuhalten bleibt auch, dass die Wahl des Ausbildungsberufs und Ausbildungsbetriebs nicht nur von individuellen Präferenzen abhängt, sondern auch von sozialen Netzwerken determiniert wird.
Zwischen Strukturwandel und Eigenverantwortung
Im Jahr 2011 wird die 50-jährige Geschichte der Türkeistämmigen in Deutschland gefeiert. Sie ist auch eine Geschichte des deutschen Arbeitsmarkts. Die Arbeitsmarkthistorizität der Türkeistämmigen bildete sich im Zuge des ökonomischen Strukturwandels aus: Der Zusammenbruch der Hauptbeschäftigungsbranchen und die daraufhin mangelhafte Bewältigung der strukturellen Arbeitslosigkeit seitens des deutschen Staates wirken sich bis heute auf die Nachfolgegenerationen aus. Erklärungen für die Arbeitsmarktungleichheiten können innerhalb der Humankapital- und der Segmentationstheorie gefunden werden. Doch liefern sie lediglich für die erste Generation eine gute Erklärungsgrundlage, nicht jedoch für die Nachfolgegenerationen.
In den öffentlichen Debatten wird deren mangelhafte Arbeitsmarktintegration oftmals auf fehlende schulische und berufliche Bildung zurückgeführt, doch erklärt wird sie dadurch nicht - die einfache Zuweisung auf die individuelle "Eigenverantwortung" bei der Qualifikation greift zu kurz. Hier muss die Bildungssoziologie eine größere Beachtung finden, die für Deutschland die "Vererbung" von Bildungsnachteilen attestiert. Damit liegen neben individuellen vor allem strukturelle Gründe für die mangelhafte Arbeitsmarktintegration vor.
Auch gilt es, zu klären, weshalb gerade Türkeistämmige trotz eines vergleichbaren Bildungsniveaus geringere Arbeitsmarktchancen aufweisen. In der bisherigen Forschungslandschaft ist keine fundierte Erklärung dieses Ungleichgewichts vorhanden. Zurückzuführen wäre dies durchaus auf die Wahl des Ausbildungsberufs: Ausbildungsberufe, die für den Betrieb mit geringeren Kosten verbunden sind, werden eher den sekundären Arbeitsmärkten (das heißt Arbeitsmärkten mit geringeren Arbeitsmarktsicherheiten) zugewiesen. Die Bereitschaft von Ausbildungsbetrieben, ihre Ausbildungsabsolventen in ein festes Arbeitsverhältnis zu übernehmen, nimmt erst mit den Kosten der Ausbildung zu.
Ausblick
Für einen zukunftsfähigen Arbeitsmarkt ist die Integration der Türkeistämmigen unabdingbar - vor allem der stark benachteiligten Frauen. Die oben zitierten Forschungsergebnisse zeigen, dass Arbeitsmarktungleichheiten pfadabhängig sind und sich auch nach 50 Jahren bei ihren Nachfahren widerspiegeln. Daher ist ein politisch gestalteter Pfadwechsel dringend erforderlich, der auch (und gerade) mit einer Bewusstseinsänderung einhergehen muss. In diesem Sinne ist schließlich anzumerken, dass die letzte große Arbeitsmarktreform 2005 zwar die einzelnen Problemgruppen des Arbeitsmarkts im Gesetzestext berücksichtigt hat,
Ich danke Prof. Dr. Werner Sesselmeier für hilfreiche Kommentare.