Einleitung
In einem vergleichenden Forschungsprojekt wurden im November und Dezember 2007 in Österreich, Polen, Tschechien und Ungarn je 1000 Personen ab dem 18. Lebensjahr hinsichtlich ihrer individuellen autoritären Einstellungen befragt.
Unter autoritärer Persönlichkeit
Normenkonventionalismus: Gehorsam und absoluter Respekt gegenüber Autoritäten stehen im Vordergrund, wobei strenge Bestrafung bei Normverletzungen Teil dieses Faktors ist. Dazu gehört ein starkes formalistisches Rechtsstaatlichkeitsdenken. Bedeutsam sind auch eine repressive Sexualmoral und der Glaube an die Bedeutung von materiellem Reichtum. Immer wieder entzündet sich Normenkonventionalismus an der Auseinandersetzung über moderne Kunst. Übertriebener Nationalismus ist ebenfalls stark ausgeprägt.
Wunsch nach Macht und Stärke und Ablehnung/Verachtung des Schwachen: Dazu gehören der Ruf nach einem "starken Mann", nach einem "Führer", sowie die Suche nach Sündenböcken und Feindbildern (Juden, Fremde, Ausländer ...), sowie Antisemitismus und Verklärung des Zweiten Weltkriegs. Kennzeichnend ist überdies ein starker Irrationalismus, symbolisiert durch den Glauben an Astrologie oder unsichtbare Mächte. Sozialdarwinismus ("der Tüchtige setzt sich durch") gedeiht in einer derartigen Umwelt ebenso wie ausgeprägter Militarismus, die beide auch den Alltag und die sozialen Beziehungen prägen.
Methodischer Ausgangspunkt aller Studien zum Autoritarismus ist eine bahnbrechende sozialwissenschaftliche Studie aus dem Jahr 1950, entwickelt von einer Gruppe deutscher und österreichischer Exilanten und Exilantinnen, darunter Max Horkheimer und Else Frenkel-Brunswik,
Bisher basierten Autoritarismusstudien primär auf soziologischen, psychologischen und psychoanalytischen Fragestellungen. Bei unserem Zugang sind erstmals Geschichtsbilder (als Teil von Geschichtspolitik) als zusätzliche Indikatoren für autoritäres bzw. demokratisches Potential relevant. Überdies halten wir historisches Kontextwissen über Rahmenbedingungen für andere Indikatoren des autoritären Potentials ebenso für wesentlich, wenn es um Interpretationen von Veränderungen beziehungsweise Beharrungstendenzen von Einstellungen zu Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Homophobie sowie Demokratiefeindlichkeit geht. Ich bin mir bewusst, dass die Autoritarismustheorie nach Adorno seit Altemeyer
In diesem Beitrag wird ein spezifischer Aspekt autoritärer Einstellungen hervorgehoben, der in den traditionellen Autoritarismusstudien nur eine marginale Rolle spielt. Während diese vor allem die aggressiven oder unterwerfenden Dimensionen autoritärer Einstellung analysiert haben, wurde in unserer Untersuchung aufgrund der Entwicklungen in Zentraleuropa besonderes Schwergewicht auf "Anomie" gelegt; es wurden vor allem die Subdimension "Orientierungslosigkeit" und Gefühle "politischer Machtlosigkeit" gemessen.
Es ist bemerkenswert, wenngleich nicht von der Literatur reflektiert, dass der französische Soziologe Émile Durkheim
1998 haben die Wiener Soziologin Hilde Weiss und ihr Kollege Christoph Reinprecht Anomie als Analysemuster für Autoritarismus und Identitätsmuster in Ostmitteleuropa verwendet.
Weiss und Reinprecht zeigen in ihrer Analyse zu demokratischem Patriotismus oder ethnischem Nationalismus in Ostmitteleuropa einen signifikanten Effekt von subjektiver Orientierungslosigkeit auf nationalistische Einstellungen (positiver Zusammenhang) und Demokratieunterstützung (negativer Zusammenhang) für zwei der vier untersuchten Länder auf, insbesondere für die Slowakei und Ungarn. Mit zunehmender subjektiver Desorientierung und Unzufriedenheit korreliert überdies ein unkritisches Geschichtsbewusstsein, eine Art Mythisierung der Vergangenheit. Das Autorenteam kommt zum Schluss, dass ethnische Intoleranz selten nur eine Folge der "Transformationsanomie" ist, sondern "eine historisch tief verwurzelte Tradition, die daher wohl leicht aktivierbar und politisch instrumentalisierbar und nur durch intensive Bildungs- und Aufklärungsanstrengungen revidierbar ist".
In der von dem Autor und Günther Ogris geleiteten Erhebung Ende 2007 wurde das sozialpsychologische Konstrukt Anomie mit den Dimensionen "Orientierungslosigkeit" und "politische Machtlosigkeit" gemessen (siehe Grafik 1 der PDF-Version). Zur besseren Einordnung folgt eine kurze Zusammenfassung der übrigen abgefragten Items. Ausgehend von den historischen Erfahrungen der Berkeley-Gruppe um Adorno wurde mit dem Konstrukt der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit die Tendenz zur autoritären Aggression gegen Personengruppen, die im weitesten Sinn als "Andere" bezeichnet werden könnten, untersucht. Überdies haben wir mögliche Eingriffe in zentrale Bürgerrechte als eine Form des Neuen Politischen Autoritarismus reflektiert. Durch die Integration dieses Konstrukts in unser theoretisches Modell und in unsere Analysen tragen wir der aktuellen Entwicklung Rechnung. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem von den USA in der Folge geführten war on terror hat diese Thematik rasch in den europäischen politischen Diskurs Einzug gehalten. Diskussionen über Beschneidungen von Bürgerrechten werden im Rahmen der Debatte um die Terrorismusbekämpfung geführt.
Das Konzept der Demokratie wurde anhand dreier Dimensionen erfasst: 1. konkretes eigenes politisches Verhalten; 2. Vertrauen in demokratische Institutionen; 3. Zufriedenheit mit der aktuellen Demokratie. Mit Hilfe dieses Konstrukts sollen die Einstellungen zur Demokratie bzw. zu autoritären Regierungsformen (Rückkehr zum Kommunismus, Militärdiktatur, Herrschaft eines starken/autoritären Führers) gemessen werden.
Umfrageergebnisse mit Schwergewicht auf Anomie
Ungarn.
Deutlich wurde in den empirischen Ergebnissen für Ungarn, dass vor allem zwei Schlüsselereignisse das Opfernarrativ der Gesellschaft dominieren - der Friedensvertrag von Trianon aus dem Jahr 1920, durch den Ungarn zwei Drittel seines Territoriums verloren hatte, und die blutige Niederschlagung der ungarischen Revolution durch die Sowjetunion 1956. Árpád von Klimo stellt fest, dass es trotz dieser starken historischen Referenzpunkte im historischen Bewusstsein der ungarischen Gesellschaft kaum direkte Korrelationen zwischen aktuellen autoritären Einstellungen und revisionistischen Geschichtsbildern gibt.
In Ungarn ist die Einstellung besonders stark vertreten, dass es keine Möglichkeiten gibt, den politischen Prozess zu beeinflussen. Rund 60% zeigen sich desillusioniert, und dieses stark von Anomie geleitete Einstellungsmuster wirkt sich negativ auf die funktionstüchtige Demokratieeinstellung aus, mit knapp 16% Zustimmung verglichen mit noch 32% im Jahre 1991. Insgesamt lassen sich ein vergleichsweise niedriger politischer Aktivismus und ein extrem hohes Misstrauen gegenüber politischen Parteien und dem Parlament nachweisen. Dieser Trend verstärkt sich mit einer pessimistischen Lebenseinstellung, was die persönliche Zufriedenheit betrifft. Grundsätzlich unterstreichen zahlreiche Ergebnisse im Falle Ungarns eine starke Krise des demokratischen politischen Systems und eine extrem hohe Unzufriedenheit mit den klassischen demokratischen Institutionen und den Parteien.
Die relativ hohen Werte an Anomie lassen sich durchaus vor dem Hintergrund der Transformationsprobleme bei der Etablierung neuer sozioökonomischer und politischer Strukturen nach 1989 und 1990 interpretieren. Dazu kommt ein europaweiter Trend der politischen Apathie als Folge von Globalisierungseffekten und politischen Entscheidungsmechanismen, die vielen Menschen als nicht mehr nachvollziehbar und transparent erscheinen. Durch die Weltwirtschafts- und Finanzkrise wird dieser Effekt noch verstärkt. Zunehmend werden die in Ost- und Westeuropa im Kalten Krieg relativ stabilen Lebensplanungen in Frage gestellt.
Tschechische Republik.
Das von Muriel Blaive ausgewertete tschechische Ergebnis
Ein Vergleich mit Österreich zeigt klare Unterschiede und auch in der Tschechischen Republik einen deutlichen Trend in Richtung Anomie und Apathie. Auf die Frage "Es ist heute alles so in Unordnung geraten, dass niemand mehr weiß, wo man eigentlich steht" stimmten beispielsweise in Tschechien 49,6% zu, in Österreich 32,6%.
Polen.
Piotr Buras konnte bei der Auswertung und beim Vergleich der Umfrageergebnisse feststellen,
Vor dem Hintergrund der autoritären Vergangenheit Polens in der Zwischenkriegszeit überrascht das Faktum, dass es keine direkte Korrelation zwischen autoritären Einstellungen und der hohen Pisudski-Verehrung besteht. Jozef Pisudskis Staatsstreich 1926 wird von seiner Funktion als Staatsgründer losgelöst. Hingegen besteht beispielsweise eine solche Verbindung in Österreich: Bewunderer von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, der 1933 nach einer Geschäftsordnungskrise das Parlament aufgelöst und den Bürgerkrieg des Februars 1934 mitzuverantworten hatte, wiesen eine stärkere Tendenz zu submissiver autoritärer Einstellung auf. Im Gegenzug sahen jene, die für Minderheitenrechte eintraten, Dollfuß eher als Zerstörer der Demokratie. Jene, die Dollfuß als Märtyrer einstuften, votierten wiederum deutlicher gegen Minderheitenrechte.
Auseinandersetzung mit dem Holocaust
Beim Vergleich der Auswertung der Antworten zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust durch Christian Gerbel und Rosalina Latcheva fällt in allen vier Ländern die hohe Rate an Nicht-Antworten auf - von 40,2% in Polen bis zu 47,7% in Österreich. Bezüglich der Frage nach einem gemeinsamen Zugang zur Akzeptanz einer Mitverantwortung für den Holocaust zeigen sich deutliche Unterschiede - mit einer relativ hohen Bereitschaft in Österreich, politische Mitverantwortung zu zeigen, einer deutlichen Zurückweisung dieser Vorstellung in Polen und einer starken Tendenz in Ungarn, dieser Frage auszuweichen. In Tschechien dominiert der polnische Zugang, trotz stärkerer Bereitschaft, eine teilweise Mitverantwortung für den Holocaust zu thematisieren.
Erstmals wurde ein direkter Zusammenhang zwischen Tendenzen, die Rolle der eigenen nationalen Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg und im Holocaust zu überhöhen und die Kollaboration zu verdrängen, und antisemitischen Grundeinstellungen nachgewiesen. In der Tschechischen Republik gibt es diese Korrelation nur bei jenen, die einen hohen Anteil an Hilfe für Juden vermuten.
Zusammenfassend kann man sagen, dass es zu dem in allen vier Ländern erlebten Krieg und dem Holocaust keine gemeinsame europäische Perzeption gibt, dass sich aber in beiden Fällen zumindest clusterartige gemeinsame europäische Entwicklungen abzeichnen. Bezüglich der Reflexion über die NS-Verbrechen tendiert Österreich stärker in Richtung der Geschichtspolitik in Deutschland, während die drei postkommunistischen Staaten ähnliche Zurückhaltung bezüglich einer "Mitverantwortung" üben. Polen und Tschechien und in einem geringeren Grad Ungarn signalisieren dabei die klare Priorität des eigenen Opferstatus, trotz Pogromen wie "Jedwabne" oder der aktiven Kollaboration bei der Vernichtung der ungarischen Juden gegen Kriegsende durch das Pfeilkreuzler-Regime von Ferenc Szálasi.
Neuer Politischer Autoritarismus
Ralf Dahrendorf hat 2006 die Folgen der Attentate vom 11. September 2001 auf die bürgerlichen Rechte vor dem Hintergrund massiver staatlicher Eingriffe zur Terrorbekämpfung diskutiert.
Bemerkenswert ist, dass das bisher nachgewiesene, typische postkommunistische Muster hier nicht auftritt - ganz im Gegenteil, in Polen, Tschechien und Ungarn ist die Abwehrhaltung gegen eine Online-Durchsuchung von Computern oder gegen die Überwachung von Telefongesprächen größer als in Österreich (siehe Grafik 2 der PDF-Version). Dies kann durchaus auf die jüngere Diktaturerfahrung zurückgeführt werden. Überdies zeigt sich, dass umfassendere Bildung vor allem in Ungarn und Polen Tendenzen zur Akzeptanz des Neuen Politischen Autoritarismus zurückdrängt, weniger in Österreich. In der Tschechischen Republik gibt es einen derartigen Bildungseffekt überhaupt nicht.
Der starke Trend Richtung politischer Apathie und Anzeichen von Anomie wirkt auch in den Einschätzungen der Bedeutung der geo- und gesellschaftspolitischen Veränderungen 1989/1991 nach, und es dominieren höchst unterschiedliche Vorstellungen.
Ein interessantes Ergebnis der Studie ist, dass in den drei postkommunistischen Staaten Frauen, welche die schwierigen Lebensumstände in vielen Fällen im Alltag und in der Familie zu spüren bekommen und aufzufangen versuchen, eher zurückhaltend und nicht so klar positiv wie Männer auf die "Wende" reagieren. Aber auch in Österreich, jenem Land, das bis 1989 die Existenz des Eisernen Vorhanges heftig beklagt und als negativ für die ökonomische und politische Entwicklung dargestellt hat, ist die Rezeption von 1989 in der Gegenwart höchst ambivalent. Nur knapp unter 50% der Befragten sehen einen Vorteil in der Öffnung der Grenzen, und auch hier sind Frauen skeptischer als Männer.
Conclusio
Autoritäre Einstellungen lassen sich nicht nur als aggressive oder unterwerfende Dimensionen nachweisen, sondern auch in Form von "Anomie", d.h. Orientierungslosigkeit und Gefühle politischer Machtlosigkeit. In allen vier Ländern zeigte sich,
Im Vergleich mit den anderen drei Ländern sind diese Dispositionen in Österreich seltener anzutreffen. Generell zeigen die Umfrageanalysen,
Die empirisch gut belegte Faustformel "je jünger und je besser ausgebildet, desto geringere autoritäre Einstellungen" gilt auch für die Anomie. In allen vier Ländern zeigen jene, die hohe Zustimmung bei den Fragen zu autoritärer Unterwürfigkeit signalisieren, starke Tendenzen in Richtung Orientierungslosigkeit im aktuellen sozialen Transformationsprozess. In Österreich, Polen und Tschechen hängen Gefühle der politischen Machtlosigkeit mit einer Law-and-Order-Mentalität zusammen. Politische Machtlosigkeit geht häufig mit Tendenzen einher, Minderheitenrechte abzulehnen und diese Gruppen als "Sündenböcke" zu stigmatisieren - so beispielsweise in Tschechien vor allem die Roma. Dieser Effekt ist auch in Österreich und Polen vorhanden.
Nach wie vor kann aber - wie bereits bei der Studie Adornos und seines Teams - durch die Analyse autoritärer Persönlichkeitsmerkmale und Anomie nicht automatisch erklärt werden, wann diese individuellen Einstellungen zu Diktaturen oder faschistischen Regimes funktionalisiert werden können. Es gilt die historische Erfahrung, dass ausgleichende und gesellschaftlich nicht spaltende sozioökonomische Entwicklungen und ein breites und hohes Bildungsniveau mittelfristig die sicherste Strategie gegen neue und permanente autoritäre Regime sind.