Einleitung
In Paris brannten 2005 die Vorstädte. Sechs Jahre später rebellieren in London Immigranten und Marginalisierte mit eruptiver Gewalt gegen ihre Ausgrenzung von Gesellschaft, Wohlstand und Lebenschancen. In Griechenland protestieren große Teile der Bevölkerung gegen ein Spardiktat, das ihnen internationale Finanzinstitutionen und die eigenen politischen Eliten aufzwingen. In Stuttgart gehen gut situierte Bürgerinnen und Bürger gegen "öffentliche Verschwendung" und die Arroganz einer sich unangreifbar wähnenden Landesregierung auf die Straße. In Madrid besetzen "Empörte" die öffentlichen Plätze und wollen "das System" zur Rechenschaft ziehen. So unterschiedlich Anlässe, Motive und soziale Herkunft der Protestierenden auch sein mögen, ein gemeinsamer Zusammenhang könnte sich aus den Ursachen ergeben: Bürgerinnen und Bürger fühlen sich zunehmend weniger ernst genommen und in ihren Interessen repräsentiert. Auch wenn daraus nicht umstandslos auf eine allgemeine Krise der repräsentativen Demokratie geschlossen werden kann, könnten die Proteste doch die zunehmend krisenhafte Signatur der "demokratischen Repräsentation"
Liest man kritisch die theoretisch dünne wie empirisch dürftige Krisendiagnostik postdemokratischer Pauschalierung,
Wer die erheblichen Positionsgewinne von Frauen und ethnischen wie sexuellen Minderheiten nicht ernsthaft in die Gesamtdiagnose einbezieht, desavouiert seine Diagnose. Es kann überhaupt keinen vernünftigen Zweifel daran geben, dass die meisten westlichen Demokratien heute eine weit höhere Qualität aufweisen als ihre Vorgänger vor fünfzig Jahren. Eine differenzierte Analyse würde indes ergeben, dass ihre Entwicklung von Ungleichzeitigkeit geprägt ist: Den erwähnten erheblichen Verbesserungen stehen besorgniserregende Entwicklungen insbesondere im Bereich der politischen Partizipation und Repräsentation entgegen. Stehen die repräsentativen Institutionen unter Druck, taucht mit schöner Regelmäßigkeit die Forderung nach mehr "direkter Demokratie" auf. Auch wenn diese weit mehr als Volksinitiativen, Volksentscheide und Referenden umfasst, kapriziert sich vor allem hierzulande die öffentliche Debatte besonders auf diese, so etwa im Zusammenhang der Proteste in Stuttgart. Was ist dran an der Forderung, die notleidenden Organisationen und Institutionen der repräsentativen durch Elemente der direkten Demokratie zu ergänzen oder bei einzelnen Entscheidungen gar zu ersetzen? Kann "direkte Demokratie" eine heilkräftige Medizin ohne Nebenwirkungen sein?
Die historische Debatte
Volksabstimmungen werfen eine "Prämie für Demagogen" ab, argumentierte Theodor Heuss unter dem Eindruck der Erfahrungen des "Dritten Reichs" und der Weimarer Republik.
Umsichtiger argumentierte Max Weber, für den Referenden zwar ungeeignet für "alle einigermaßen verwickelten Gesetze und Ordnungen der inhaltlichen Kultur" waren, der aber trotz seiner generellen Skepsis Volksabstimmungen auch als "geeignetes Revisionsmittel" zur Brechung von Entscheidungsblockaden ansah.
Die meisten dieser Argumente sind konservativ eingefärbt. Sie befürchten Demagogie wie Polarisierung und betonen die Gefahren für Stabilität, Kompetenz und Effizienz. Überwiegt bei den Gegnern direktdemokratischer Verfahren vorurteilsbeladene Skepsis, dominiert bei den Befürwortern häufig wirklichkeitsfremder Optimismus. Anders als in der repräsentativen Demokratie, so die Überzeugung, drückten direktdemokratische Verfahren unverfälscht und direkt die Volkssouveränität aus. Der Volkswille würde nicht durch oligarchische Parteien, Interessengruppen und Parlamente gebrochen, sondern authentisch in verbindliche Entscheidungen umgesetzt. Dieses nicht zuletzt auf Jean-Jacques Rousseau zurückgehende Argument ist keineswegs sofort von der Hand zu weisen. Dies gilt auch für Flächenstaaten - für die Rousseaus direktdemokratische Vorstellung nie konzipiert war -, wenn Volksabstimmungen komplementär zu den repräsentativen Institutionen gedacht werden. Dass auch Carl Schmitt solchen plebiszitären Voten zugetan war und in ihnen den eigentlichen "Souveränitätsakt"
Befürworter der Volksabstimmung betonen das Verfahren und den Akt selbst als segensreich. Volksabstimmungen gehen häufig intensive politische Debatten voraus. Die Bürger
Die Erwartungen der Befürworter sind hoch. Die Hoffnungen richten sich vor allem auf die Intensivierung demokratischer Partizipation, die Entwicklung von Bürgertugenden, auf Diskurs und Deliberation während der Abstimmungskampagnen sowie eine Stärkung der vertical accountability. Um die Debatte zwischen Befürwortern und Kritikern, Optimisten und Pessimisten gehaltvoll führen zu können, genügt ein erneuter Abgleich der allgemeinen Positionen nicht. Die Argumente müssen vielmehr gerade auf jene Bereiche unserer Demokratien bezogen werden, die sich unter Stress befinden und offensichtlich die ihnen zugedachten demokratischen Funktionen nicht (mehr) hinreichend erfüllen.
Herausforderungen, Versprechen, Realitäten
Die Demokratien, die vor allem im Verlauf des 20. Jahrhunderts ihre gegenwärtige Gestalt angenommen und komplettiert haben, stehen zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor bedeutenden Herausforderungen. Wirtschaft und Gesellschaft haben sich verändert und mit ihnen Einstellungen, Werte und Verhaltensmuster der Bürger. Schon aus diesem Grund stehen die konventionellen Institutionen, Organisationen und Verfahren der Demokratie unter Anpassungsdruck. Nun ließe sich argumentieren, dass zusätzliche direktdemokratische Elemente wie insbesondere Volksabstimmungen die Qualität der Demokratie heben, wenn sie mindestens eine dieser Herausforderungen demokratischer lösen als die gegenwärtigen Institutionen der repräsentativen Demokratie, ohne die genannten demokratischen Positionsgewinne zu gefährden oder den Status quo der anderen Problemsphären noch weiter zu verschlechtern. Dies soll im Folgenden anhand von zehn Herausforderungen geprüft werden.
Soziale Selektivität.
Die Wahlbeteiligung geht in vielen etablierten Demokratien zurück. Dies mag an sich schon problematisch sein, da, anders als eine gleichbleibend niedrige Wahlbeteiligung wie in den USA und der Schweiz, der rasche Rückgang der Teilnahme an Wahlen ganz offensichtlich eine wachsende Unzufriedenheit mit den zur Wahl stehenden Parteien ausdrückt.
Können Referenden das Problem zurückgehender Partizipation und ansteigender sozialer Selektion lindern oder gar beheben? Geht "das" Volk tatsächlich zu Volksabstimmungen? Aus der empirischen Forschung wissen wir, dass die Teilnahme an Volksabstimmungen auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene hinter der Beteiligung an allgemeinen Wahlen zurückbleibt. Dies gilt insbesondere im Vergleich zu den nationalen Parlamentswahlen. Hohe Beteiligungsquoten bei Volksabstimmungen wie etwa bei der Frage des Beitritts der Schweiz zur UNO im Jahr 2002 (57,6%) bleiben die Ausnahme. Die durchschnittliche Partizipationsrate lag in der Schweiz bei Volksabstimmungen auf Bundesebene in den vergangenen 40 Jahren (1971-2010) bei 42,5%.
Nicht das Volk in seiner Gesamtheit, sondern die höheren und mittleren Schichten, die Gebildeten und überproportional die Männer stimmen typischerweise bei Referenden ab. Der politisch aktive Demos ist dabei mehr als halbiert und hat bei Volksabstimmungen damit eine noch größere soziale Schieflage als bei den nationalen Parlamentswahlen. Auch der reflexhafte Appell der Referendumsbefürworter, dies müsse eben verändert werden, zeugt eher von naiver Wirklichkeitsferne denn von empirischen Einsichten in die Steuerbarkeit des politischen Partizipationsverhaltens. Volksabstimmungen gewähren dem Volk tatsächlich mehr Mitwirkungsmöglichkeiten, aber sie verstärken die Tendenz der Überrepräsentation jener gut situierter Schichten, die schon in den Organisationen und Institutionen der repräsentativen Demokratie überproportional vertreten sind.
Vertrauensverlust.
Parteien und Parlamenten werden sehr niedrige Vertrauenswerte attestiert. Bei allen seriösen Umfragen (z.B. Eurobarometer) signalisieren die Ergebnisse den beiden Kerninstitutionen der repräsentativen Demokratie einen erheblichen Vertrauensentzug.
Mitgliederverlust.
Die politischen Parteien, zumal die großen Volksparteien,
Überalterung.
Die Mitgliedschaften fast aller Parteien sind stark überaltert. Dies gilt wiederum besonders für die Volksparteien. Junge Menschen treten nur noch selten in die politischen Parteien ein. Die politisch kreativsten unter ihnen folgen eher normativen Überzeugungen als Karriereambitionen. Sie schließen sich NGOs wie Amnesty International, Human Rights Watch, Transparency International, Greenpeace oder anderen Menschenrechts- und Umweltvereinigungen an, weil sich dort die Partizipation unbürokratischer, authentischer, direkter und ereignisreicher vollzieht. Diese kreativen Potenziale können dann über Referenden genutzt werden, wenn sich solche NGOs als Initiatoren und Motoren von Volksinitiativen engagieren. Dies ist bisweilen der Fall; in der Summe treten NGOs jedoch seltener als Promotoren von Volksinitiativen auf als wirtschaftliche Interessengruppen. Dies gilt für die Schweiz, verstärkt für Kalifornien. Bei Volksentscheiden dominieren seit eh und je Regierungen, Parteien und Interessengruppen.
Diskurs und Deliberation.
Die Medien beeinflussen die politische Agenda auf ungesicherter legitimatorischer Grundlage. Zudem verhindert ihre Kommerzialisierung häufig anspruchsvolle und problemangemessene politische Diskurse. Ändert sich das in den Debatten, die Volksabstimmungen vorausgehen? Systematische Diskursanalysen stehen hier noch aus. Bei hochpolitischen Fragen wie UN- oder EU-Beitritt oder bei EU-Referenden zu zentralen Verträgen tragen Volksabstimmungen tatsächlich zu intensivierten Diskursen bei. Auch Positionen außerhalb des etablierten Politik- und Medienbetriebs haben Chancen, Gehör zu finden. Die Diskurse befreien sich dabei häufig von den üblichen Personaldebatten und verlagern sich auf Sachfragen. Im optimalen Fall entsteht das, was Jürgen Habermas emphatisch als "Öffentlichkeit" bezeichnet, auch wenn diese Debatten - keineswegs jenseits von Macht- und ökonomischen Interessen - nur partiell dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments unterworfen werden. Das sind jedoch Sternstunden von Referendumskampagnen, die sich im Alltag der zahlreichen Policy-Referenden in der Schweiz oder etwa Kalifornien nicht zeigen oder wiederholen lassen. Claus Offe sieht im Abstimmungsakt nicht das demokratische, sondern das "schlechtere Ich" der Bürger begünstigt, weil die Bürger bei der Abstimmung "von diskursiven Anforderungen und dem Zwang zur argumentativen Rechtfertigung völlig entlastet sind".
Interessengruppen.
Die Verfügbarkeit von Macht und Geld entscheidet über den Einfluss auf politische Entscheidungen. Sie gewährt mächtigen Interessenverbänden und multinationalen Unternehmen einen asymmetrisch privilegierten Einfluss. Das politische Gleichheitsprinzip wird verletzt. Ändert sich das in Volksinitiativen oder Volksentscheidungen? Übertrumpft der Demos die Mächtigen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft? Fast alle empirischen Untersuchungen geben zu erheblicher Skepsis Anlass. Volksabstimmungen werden nicht vom "Volk" initiiert. Es bedarf der Initiatoren - und die kommen aus den meinungsstarken politisierten Mittelschichten, Interessengruppen, NGOs, nicht selten auch aus Regierung und Parteien. Der Erfolg ist keineswegs nur, aber stets auch von der Kampagnenfähigkeit der Initiatoren abhängig.
Dominanz der Exekutive.
Im Zuge der Europäisierung, Globalisierung und der krisenhaften Entwicklung der Finanzmärkte werden Entscheidungen zunehmend von der Exekutive kontrolliert oder dem parlamentarischen Prozess vorweggenommen. Dadurch wächst die Intransparenz staatlicher Entscheidungen. Sie sind weder vertikal noch horizontal zureichend kontrollierbar. Nur in Ausnahmefällen ist vorstellbar, dass Volksabstimmungen Regierungen besser kontrollieren können als Parlamente. Dies könnte bei der Ratifizierung grundlegender Vertragstexte der Fall sein: Für komplizierte Fragen der Finanzmarktregulierung kann das sicherlich nicht gelten. Wenn man zusätzlich sieht, welch erhebliche Rolle gerade die Regierungen mit ihren finanziellen und informationellen Ressourcen bei Volksabstimmungen in der Schweiz spielen,
Legitimitätsglaube/Kongruenzverlust.
Die zunehmende Macht supranationaler Organisationen, internationaler Politikregime und deregulierter (Finanz-)Märkte schränkt die staatliche Souveränität ein. Die legitim gewählten Vertreter nationaler Gemeinschaften müssen ihre Entscheidungsgewalt mit dünn oder überhaupt nicht legitimierten Akteuren teilen. Die Kongruenz von Herrschaftsadressaten und Herrschaftsautoren löst sich zunehmend auf. Auf diese zentrale Demokratielücke bieten Volksabstimmungen keine überzeugende Antwort. Allerdings wäre vorstellbar, dass Referenden dann obligatorisch abgehalten werden sollten, wenn über internationale Verträge sichtbar Souveränitätsrechte abgetreten werden sollen. In Deutschland spielt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eine solche Wächterrolle. Würden solche Fragen auch der Bevölkerung (bei einer Verfassungsänderung) vorgelegt, dürften weiteren Souveränitätsabgaben vermutlich relativ starke Riegel vorgeschoben werden.
Wachsende Ungleichheit.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist auch in reifen Demokratien eine wachsende sozioökonomische Ungleichheit zu beobachten:
Die Erfahrungen mit Volksabstimmungen in der Schweiz und in Kalifornien zeigen im Ergebnis jedoch häufig die Durchsetzung konservativer oder neoliberaler Fiskalpolitik mit negativen Verteilungskonsequenzen für die unteren Einkommensschichten. Neoliberale Politikmuster zeigen sich dort, wo in Referenden zur Steuerpolitik abgestimmt wird. Wenn in Referenden über haushaltspolitische Materien entschieden wird, bedeutet dies stets: Senkung der Steuereinnahmen und Reduzierung der Staatsausgaben. Dies heben neoklassische Ökonomen in ihren international vergleichenden Studien und ihren Analysen zu den Schweizer Kantonen stets (positiv) hervor.
Regierungseffizienz.
Mit der Deregulierung und Globalisierung der Märkte und der informationstechnologischen Revolution wurden wirtschaftliche Entwicklungen und Reaktionen in einem unerhörten Ausmaß beschleunigt. Dies gilt vor allem für die Ausbreitung von ökonomischen Krisen und ihre Verteilungskonsequenzen. Den Regierungen und Parlamenten wird vorgeworfen, dass sie nur nachtrabend reagieren und akzeptieren, aber nicht gestaltend agieren. Gerade der demokratisch legitimierte Entscheidungsprozess braucht Zeit. Anonyme Märkte und ihre stärksten Teilnehmer können rascher agieren und prägen die Lebenswirklichkeit der Bürger ohne demokratisches Mandat. Das Problem der unterschiedlichen Geschwindigkeiten in Wirtschaft und Politik hat sich verschärft. Volksabstimmungen befördern sicherlich nicht die Regierungseffizienz. Aber insbesondere im schweizerischen Kontext muss man zwischen Volksinitiativen und Referenden unterscheiden. Volksinitiativen können durchaus innovative, aber vernachlässigte Interessen und Ideen in die politische Agenda einspeisen oder gar durchsetzen. Referenden, die schon getroffene parlamentarische Beschlüsse aufheben können, taugen eher zur "sachfragenspezifischen Opposition". Sie erweisen sich häufig als Vetoinstrument, das schnelle politische Entscheidungen und bisweilen auch den Fortschritt hemmt.
Mehr Demokratie wagen?
Taugen Volksabstimmungen als Therapie für die Malaisen der repräsentativen Demokratie in unseren Zeiten der Globalisierung? Von den zehn diskutierten zentralen Herausforderungen lassen Volksabstimmungen nur bei zweien positive Auswirkungen erwarten: Das Vertrauen und der Legitimationsglaube in direktdemokratisch getroffene Entscheidungen ist größer als bei Parlamentsgesetzen oder Regierungsbeschlüssen. Das demokratische System erhält dadurch eine notwendige Legitimationszufuhr. Dies ist nicht wenig. Aus nationalkonstitutionalistischer Sicht kann zudem auch ein verzögerter Kongruenzverlust demokratischer Politik zwischen Herrschaftsautoren und Herrschaftsunterworfenen verbucht werden. Der Souveränitätsverlust wird sich langsamer und kontrollierter als in jenen Demokratien vollziehen, wo allein die repräsentativen Eliten die letzte Entscheidung zu treffen haben.
Für vier der gegenwärtigen Demokratieprobleme, nämlich die Überalterung der Parteimitgliedschaften, den Mitgliederverlust, die Regierungseffizienz und die Dominanz der Exekutive, verhalten sich Volksabstimmungen in ihrer Wirkung neutral.
Bei den verbliebenen vier Herausforderungen "soziale Selektivität", "Diskurs und Deliberation", "Interessengruppen" und "wachsende Ungleichheit" haben Volksabstimmungen gravierende negative Nebenwirkungen und nicht intendierte Effekte, die ihren Befürwortern ganz offensichtlich verborgen sind. Folgt man deren Generalargument, Volksabstimmungen stärkten "das Volk" als Ganzes, lassen sich hinsichtlich dieser Herausforderungen geradezu paradoxe Effekte diagnostizieren, da hier nicht "das Volk", sondern die gut situierten und wohl repräsentierten Mittelschichten noch ein weiteres Mal gestärkt werden.
Die vier "Paradoxa" entzaubern die basisdemokratischen Erwartungen der Befürworter direktdemokratischer Verfahren in ihrem Kern. Dies sind nicht die üblichen konservativen Einwände gegen die Unsicherheit von Volksabstimmungen und ihre angeblich destabilisierenden Wirkungen. Es ist vielmehr die Perspektive des unteren Drittels unserer Gesellschaft. So paradox es auch klingen mag: Dessen Interessen sind in repräsentativen Institutionen besser aufgehoben als in Entscheidungen, die "das Volk" trifft. Wer in Volksentscheiden vor allem initiiert und dekretiert, ist nämlich nicht ein repräsentativer Querschnitt, oder gar das Volk selbst. Beides ist eine Fiktion. Die Idee, "ein Votum für direkte Demokratie würde auch ein Stück Selbstentmachtung der Parlamentarier bedeuten",
Die Selbstentmachtung eines mit zwei Dritteln der Bevölkerung gewählten Parlaments zugunsten eines häufigen Ein-Drittel-Referendums-Demos wie etwa bei der Hamburger Schulreform dünnt fundamentale legitimationstheoretische Grundlagen unserer Demokratie aus. Die große Malaise der gegenwärtigen Demokratien, nämlich der schleichende Ausschluss der unteren Schichten, würde noch erheblich beschleunigt. Den Besitzstand wahrenden Abwehrreflexen der wirtschaftlich und sozial Begünstigten unserer Gesellschaften wird mit Volksabstimmungen häufig eine zusätzliche Arena zur Privilegiensicherung eingerichtet. Nicht "das" Volk, sondern eine meist numerisch wie sozial ausgedünnte Schrumpfversion des Volkes entscheidet. Volksabstimmungen sind im Kern ein Instrument für die mittleren und oberen Schichten unserer Gesellschaft. Nicht "mehr", sondern "weniger" Demokratie würde gewagt werden. Das kann keine Perspektive für das 21. Jahrhundert sein.
Dieser Beitrag entstand unter Mitarbeit von Aleksandra Kulesza und Gudrun Mouna.