Einleitung
Stuttgart 21" ist zum Symbol für Proteste gegen Großprojekte in Deutschland geworden. Die Auseinandersetzung um den Stuttgarter Hauptbahnhof veranlasste den "Spiegel" im Sommer 2010 zu einer Titel-Story über die "Dagegen-Republik". Vor allem Infrastrukturprojekte aus den Bereichen Verkehr und Energie stoßen immer wieder auf den Widerstand von Teilen der Bevölkerung: Flughafenerweiterungen, der Ausbau von Autobahnen, Eisenbahnstrecken, die Fehmarnbelt-Querung, Strom-Überlandleitungen, Kraftwerksneubauten, CO2-Endlager, das Pumpspeicherkraftwerk im Schwarzwald.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Überall artikulieren lokale Bürgerinitiativen ihren Unmut. Umwelt- und Naturschutzverbände wie der BUND springen ihnen bei. Und in der Regel werden die Konflikte auch von Parteien aufgegriffen, teilweise für bevorstehende Kommunal- oder Landtagswahlen instrumentalisiert. Nicht selten eskaliert die Auseinandersetzung, Fronten verhärten sich, und ein sachlicher Austausch findet kaum noch statt. Kann eine "Sachschlichtung" - wie von Heiner Geißler im Fall "Stuttgart 21" geleitet - einen sinnvollen Beitrag zur Meinungsbildung leisten? Welche Rolle spielt Kommunikation im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Akzeptanz von Großprojekten?
Vielfältige Ursachen für Protest
Die Proteste gegen Großprojekte haben viele Ursachen. Ihr Ausgangspunkt sind meist Einwände gegen einzelne Aspekte eine Projektes: Beispielsweise stufen Menschen Eingriffe in die Natur als nicht vertretbar ein. Ihnen sind die Kosten eines Projektes zu hoch. Oder sie bezweifeln seinen grundsätzlichen Sinn. Hinzu kommen wahrgenommene Einschränkungen der eigenen Lebensqualität: Der Fluglärm stört, ein Strommast verschandelt den Ausblick. Solche Aspekte finden sich vor allem bei den direkt Betroffenen vor Ort, die sich dann in einer Bürgerinitiative zusammenschließen. Es kommt zu ersten Versammlungen; Demonstrationen und Menschenketten folgen.
Doch sachbezogene Einwände alleine reichen noch nicht aus, um einem Protest eine solche Dynamik zu verleihen, wie sie bei "Stuttgart 21" zu beobachten war. Breitere Aufmerksamkeit erfährt der Protest vor allem dann, wenn er sich mit grundsätzlicher Skepsis gegenüber "der Politik" oder "der Wirtschaft" verbindet und wenn die Art des Umgangs der Parlamente und der Projektträger mit "der Bürgerschaft" bemängelt wird. So wird der Vorwurf erhoben, Informationen seien unvollständig, sie seien zu spät oder gar nicht zur Verfügung gestellt worden. Gelegentlich wird den Beteiligten auch bewusste Falschinformation unterstellt. Bei "Stuttgart 21" gipfelte dies in der Schmähung "Lügenpack", die an den Oberbürgermeister der Landeshauptstadt ebenso gerichtet war wie an die Landesregierung und den Bahnvorstand. Bürgerinitiativen starten Informationskampagnen. Dabei kommen neben Flugblättern und Broschüren zunehmend Soziale Netzwerke zum Einsatz - vor allem Facebook und Twitter. In diesen tauscht man sich aus, entwickelt eine Argumentation und organisiert den Protest. Ein Dialog von Gruppen mit verschiedenen Sichtweisen findet dort jedoch kaum statt. Man bleibt in seiner Facebook-Gruppe unter sich - nicht selten schaukelt sich dort der Unmut weiter auf.
Neben die direkte Kommunikation tritt die massenmedial vermittelte. Sie ist wichtig, um auch weniger interessierte Menschen zu erreichen und im Kampf um die öffentliche Meinung zu bestehen. Dafür werden mediengerechte Anlässe inszeniert. Aktivisten ketten sich an Bagger, besetzen Bäume, platzieren Transparente an Kraftwerksschornsteinen oder seilen sich von Brücken ab. Das Ziel ist stets, ein medientaugliches Bild zu schaffen und so Eingang in die Berichterstattung zu finden.
Ferner wird meist auch der Stil der Kommunikation kritisiert: Politiker und Projektträger würden nur "von oben herab" mit "den Bürgern" sprechen, sie würden "die Bürger" und ihre Einwände nicht ernst nehmen. Der damalige Vorsitzende der Grünen im Landtag von Baden-Württemberg und jetzige Ministerpräsident, Winfried Kretschmann, warf der Landesregierung in der Landtagssitzung am 6. Oktober 2010 vor: "Glauben Sie mir, die Hauptquelle des Protestes ist, dass Sie den Protest gar nicht ernst nehmen und dass Sie denken, die Gegner hätten noch nicht einmal gute Argumente." Dementsprechend versprach er einen neuen Politikstil: eine "Politik des Gehörtwerdens".
Das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, kann Protesten gegen Großprojekte einerseits eine breitere Verankerung in der Bevölkerung geben, es kann sie andererseits auch erheblich verschärfen. Auf Demonstrationen gegen "Stuttgart 21" manifestierte sich dies auf Transparenten mit der Aufschrift "Wir sind das Volk". Sowohl diese Parole als auch die Wahl des Begriffs "Montagsdemonstration" suggerieren Parallelen zum Aufstand der Bürgerinnen und Bürger gegen das Unrechtsregime der DDR Ende der 1980er Jahre. Auch setzten einige Demonstranten die Baustelle auf Transparenten mit dem "Platz des Himmlischen Friedens" oder mit "Ground Zero S21" gleich. In der nächsten Eskalationsstufe gipfelte diese Moralisierung in einer Kriminalisierung der Projektträger: So fand sich am Bauzaun ein Plakat im Stil der RAF-Fahndungsplakate. Unter der Überschrift "Terroristen" waren die Fotos von Vertretern der Landesregierung, der Stadt und der Deutschen Bahn AG zu sehen. Eine andere Montage zeigte Stuttgarts Oberbürgermeister als Joseph Goebbels - versehen mit der Unterschrift: "Wollt ihr den totalen Abriss?"
Zwar sind solche Plakate weder typisch für die Mehrheit der Gegner von "Stuttgart 21", noch findet man sie in dieser Vehemenz bei Protesten gegen andere Großprojekte. Sie sind jedoch massiver Ausdruck einer kommunikativen Eskalation, die von der anfänglichen Sachauseinandersetzung über die einsetzende Emotionalisierung zur Moralisierung und schließlich zur Kriminalisierung von Projektträgern und Politikern reicht. In einem solchen Klima ist sachorientierte Meinungsbildung kaum noch möglich. Ähnliches gilt für die zeitliche Nähe von Wahlen. In der Regel wirken Wahlen für Proteste wie Katalysatoren. Wenn sich die landes- oder bundespolitische Machtkonstellation mit Hilfe des Protestes gegen ein Großprojekt beeinflussen lässt (wie im Fall von "Stuttgart 21"), trägt dies zur Intensivierung und Verstetigung der Protestaktivitäten bei. Eine Lösung des Konfliktes ist vor einer Wahl nicht zu erwarten.
Legitimation durch Kommunikation
Der Protest gegen "Stuttgart 21" wurde durch das Verhalten der Projektträger begünstigt. Erstens haben Bahn, Stadt, Land und Bund anfangs nicht mit einer Stimme gesprochen. Zudem ließ ihre Koordination untereinander zu wünschen übrig. Ein Erfolg versprechendes Themen- und Issues-Management ist so nicht möglich. Zweitens wurde lange Zeit nur scheibchenweise informiert - erst auf Drängen und beharrliches Nachfragen hin statt proaktiv. Zahlreiche Menschen hatten deshalb den Eindruck, sie stünden übermächtigen Projektträgern gegenüber. Auf deren Wohlwollen fühlten sie sich angewiesen, wenn sie Antworten auf ihre Fragen zum Projekt haben wollten. Auch vermissten sie Respekt und Wertschätzung gegenüber ihren Einwänden, Vorschlägen und Sorgen. In ihrer Kommunikation haben die Projektträger drittens sehr stark technische Aspekte beleuchtet. Wie viele Kubikmeter Erde werden bewegt? Welche Methode für den Tunnelbau kommt zum Einsatz? Die technische Seite ist wichtig, noch wichtiger aber ist die Frage, welchen Nutzen ein Projekt für die Gesellschaft hat. Dieser muss im Mittelpunkt der Kommunikation stehen. Dazu gehört viertens, eine Lösung nicht als "alternativlos" darzustellen. Stattdessen müssen drei Fragen beantwortet werden: Welches Ziel soll mit dem Großprojekt erreicht werden? Welche Alternativen wurden geprüft? Warum wurden bestimmte Alternativen verworfen? Pläne und Modelle alleine genügen nicht, es braucht zahlreiche Gespräche. Dass so etwas gelingen kann, zeigt der Bau des neuen Durchgangsbahnhofs in Wien. Anders als "Stuttgart 21" ist er für die Wiener kein "Wutbahnhof", obwohl auch hier eine lokale Initiative gegen den Neubau protestierte. Die intensive Diskussion über mögliche Alternativen führte letztlich zur Akzeptanz dieses Großprojektes durch die Mehrheit der Wiener. Ähnliches ließ sich in der Schweiz beim Bau des Gotthard-Basistunnels beobachten.
Bei einer Planungszeit von mehr als 15 Jahren genügt es auch nicht, die Fragen nach den Zielen und den Alternativen einmal zu beantworten und dann ad acta zu legen. Vielmehr müssen die Entscheidungen immer wieder begründet werden. Gerade bei Großprojekten genügt der Verweis darauf, dass sich Parlamente wiederholt und mit großer Mehrheit für ein Projekt ausgesprochen haben, nicht mehr. Selbst wenn, wie im Fall von "Stuttgart 21", sämtliche damit befassten Parlamente (Gemeinderat, Regionalversammlung, Landtag) im Rahmen zahlreicher Sitzungen sowie die Gerichte im Rahmen von Planfeststellungsverfahren eindeutige Entscheidungen getroffen haben, muss neben diese "Legitimation durch Verfahren" die "Legitimation durch Kommunikation" treten. Diese ersetzt die unabdingbare rechtsstaatliche "Legitimation durch Verfahren" nicht, sondern ergänzt sie.
Akzeptanz kann nur entstehen, wenn in der Diskussion über ein Großprojekt von Anfang an "auf Augenhöhe" kommuniziert wird. Dazu gehört auch, dass frühzeitig ein Interessenausgleich zwischen Projektträgern und relevanten Anspruchsgruppen angestrebt wird. So stellte der Präsident des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, fest: Parlamente und Regierungen neigten dazu, "die Kommunikation mit den Bürgern unter Hinweis auf ihre Zuständigkeit und möglicherweise auch auf die Überprüfung der getroffenen Entscheidungen durch ordentliche Gerichte zu versäumen oder gar zu verweigern". Andererseits warnte er Gegner von Großprojekten davor, "den Rechtsstaat dadurch an seine eigenen Grenzen oder darüber hinaus zu führen, dass man für die eigenen Interessen eine höhere Autorität reklamiert als die durch parlamentarische und gerichtliche Verfahren legal zustande gekommenen Entscheidungen".
Was passiert, wenn die Anforderungen an eine "Legitimation durch Kommunikation" nicht ausreichend erfüllt werden, konnte man bei "Stuttgart 21" beobachten. Im schlimmsten Fall eskaliert der Protest, und man befindet sich in einer festgefahrenen Situation, in der Sachargumente kaum noch durchdringen können. So ist es nicht verwunderlich, dass der Höhepunkt der Eskalation, die Auseinandersetzung am 30. September 2010 im Stuttgarter Schlossgarten, zugleich die Geburtsstunde für ein in dieser Form neuartiges "Demokratie-Experiment" war, wie es einige nannten: für die Sachschlichtung zu "Stuttgart 21". Sie begann am 22. Oktober 2010 unter Leitung von Heiner Geißler. Am 30. November 2010 folgte sein Schlichterspruch. Er war zwar rechtlich unverbindlich, wies aber eine bedeutende psychologische Wirkung auf.
Sachschlichtung als Lösung?
Vor dem Start wurde das Schlichtungsverfahren zu "Stuttgart 21" von Beobachtern als "Prototyp" einer neuen Form von Bürgerbeteiligung bezeichnet. Zwar gibt es Moderationen, Schlichtungen und Runde Tische bereits seit langem - nicht zuletzt in Form "erweiterter Beteiligungsmöglichkeiten" in der Stadtentwicklungspolitik. Neu war allerdings, dass die Sachschlichtung - oder der "Fakten-Check", wie sie Heiner Geißler nannte - in voller Länge im Fernsehen (live bei "Phoenix", in Teilen auch beim SWR) und im Internet sowie auf eine Großbildleinwand im Stuttgarter Rathaus übertragen wurde. Durch maximale Transparenz sollte es den Bürgerinnen und Bürgern möglich sein, die Argumente beider Seiten im direkten Aufeinandertreffen zu hören und zu bewerten. Geißler stellte die Schlichtung in die Tradition von Immanuel Kant: Sie solle die Menschen in die Lage versetzen, "jederzeit selbständig zu denken".
Diese Form der Aufklärung interessierte viele Menschen. So fanden die Live-Übertragungen von nahezu 80 Stunden Schlichtung mehr als fünf Millionen Zuschauer. "Phoenix hat mit dazu beigetragen, dass dieses Demokratie-Experiment erfolgreich gewesen ist", stellte Geißler fest. Dabei hatte der Inhalt der Diskussionen zwischen Befürwortern und Gegnern von "Stuttgart 21" eigentlich nicht das Zeug zum Quotenrenner: Gipskeuper, Tunnelquerschnitte, die Blauflügelige Sandschrecke, Taktfahrpläne oder die Neigung der Bahnsteige des neuen Durchgangsbahnhofs gehören nicht eben zu den Themen, die Menschen tagtäglich in Atem halten. Und dennoch war die Faszination groß, wohl auch, weil es möglich war, live dem direkten Austausch von Für und Wider zu folgen. Es ist jedoch fraglich, ob die Übertragung ohne die vorangegangene Eskalation so viel Aufmerksamkeit gefunden hätte. Hier liegt zugleich ein Dilemma für die Kommunikation über Großprojekte: Die Aufmerksamkeit ist in der Regel dann am größten, wenn sich die Fronten bereits verhärtet haben.
In neun Sitzungen wurden nach und nach die Teilaspekte von "Stuttgart 21" besprochen. Jeweils sieben Vertreter der Befürworter und der Gegner von "Stuttgart 21" saßen sich gegenüber - darunter die damalige baden-württembergische Umwelt- und Verkehrsministerin Tanja Gönner und Bahnvorstand Volker Kefer auf der Pro-Seite sowie der Grüne Winfried Kretschmann, sein Parteifreund und Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, und Vertreter des Aktionsbündnisses gegen "Stuttgart 21" auf der Contra-Seite. Je nach Thema wurden Experten hinzugezogen - Geologen, Juristen und Verkehrswissenschaftler. Vor allem die Experten ermahnte Geißler immer wieder, ihre Argumente verständlich vorzutragen. "Das versteht kein Mensch!", war oft von ihm zu hören. So wurden die "Überwerfungsbauwerke" der Ingenieure übersetzt in den verständlichen Begriff "Brücke". Und aus der "Ertüchtigung" des Bahnhofs wurde seine "Verbesserung". Geißler trat als Anwalt der Zuschauer auf. Er sorgte dafür, dass aus der sonst bei ähnlichen Diskussionen üblichen, nur schwer verständlichen Experten-Experten-Kommunikation eine Experten-Laien-Kommunikation wurde, der man meist auch ohne entsprechende Vorbildung folgen konnte.
Wie die Menschen im Großraum Stuttgart die Sachschlichtung beurteilen sowie ob und in welcher Form sie zur Meinungsbildung beigetragen hat, haben wir mit Hilfe eines Forschungsprojektes untersucht. Dazu wurden die Befragten sowohl vor der Schlichtung als auch nach dem Schlichterspruch um ihre Meinung gebeten. 426 Personen haben an beiden Befragungen teilgenommen.
Damit konnte ein wesentliches Ziel der Schlichtung erreicht werden. Aber die Versachlichung war kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung für mehr, wie Geißler in seinem Schlichterspruch anmerkte: "Wichtiges Ziel der Schlichtung war (...), durch Versachlichung und eine neue Form unmittelbarer Demokratie wieder ein Stück Glaubwürdigkeit und mehr Vertrauen für die Demokratie zurückzugewinnen. Die Schlichtung hat mit dem sachlichen Austausch von Argumenten unter gleichberechtigter Teilnahme von Bürgern aus der Zivilgesellschaft etwas nachgeholt, was schon vor vier oder fünf Jahren hätte stattfinden sollen. Die Schlichtung konnte jedoch diesen Fehler nur teilweise reparieren."
Aber haben die Schlichtungsgespräche tatsächlich zu einer besseren Information beigetragen? Haben sie die Grundlage dafür geschaffen, dass sich Menschen eine eigene Meinung bilden können? Und haben sich dadurch die Einstellungen zu dem Großprojekt geändert? Vor Beginn der Schlichtungsgespräche sagte lediglich ein Viertel der Befragten, es gebe ausreichende Informationen über "Stuttgart 21". Zwei Drittel meinten, es solle mehr informiert werden. Einen Teil dieses wahrgenommenen Informationsdefizits konnte die Schlichtung beheben, ganz beseitigen konnte sie es nicht: Nach der Schlichtung war fast die Hälfte der Befragten der Meinung, es gebe ausreichend Informationen. Aber immer noch 45 Prozent meinten, es sollte mehr informiert werden.
Aufgrund der breiteren Informationsbasis sahen sich nach der Schlichtung 58 Prozent der Befragten besser in der Lage, "Stuttgart 21" zu bewerten. Auch gaben zahlreiche Befragte an, durch die Schlichtung neue Argumente erfahren zu haben. Dabei kam es jedoch zu der aus der Einstellungsforschung bekannten "selektiven Wahrnehmung": Menschen mit stark ausgeprägten Voreinstellungen zu einem Thema neigen dazu, vor allem jene Argumente aufzunehmen und in ihrem Gedächtnis abzuspeichern, die ihre Voreinstellungen bestätigen. Argumente, die den eigenen Voreinstellungen widersprechen, werden hingegen deutlich seltener wahrgenommen. Bezogen auf die Meinungsbildung bei Großprojekten bedeutet dies: Ist die öffentliche Diskussion erst einmal eskaliert, lassen sich die verfestigten Meinungen nur sehr schwer durch neue Argumente verändern. Bei den Befürwortern und Gegnern eines Projektes ändern neue Argumente meist nur die Intensität der eigenen Einstellungen, nicht aber deren grundsätzliche Richtung (pro bzw. contra). Sie suchen in der Diskussion vor allem nach einer Bestätigung ihrer eigenen Position. Offen für neue Argumente sind im Wesentlichen die wenigen noch Unentschiedenen.
Die Ergebnisse unserer Befragung zu "Stuttgart 21" bestätigen diese allgemeinen Erkenntnisse zur Meinungsbildung in verfestigten Konflikten: Durch die Schlichtung haben sich die Positionen der Befragten zu einzelnen Aspekten des Großprojektes nicht gravierend verändert (siehe Abbildung 2 der PDF-Version). Sowohl vor als auch nach der Schlichtung hat eine Mehrheit der Befragten drei positive Aspekte des komplexen Großprojektes wahrgenommen. Die Folgen für den Wirtschaftsstandort stellen aus Sicht der Befragten den größten Aktivposten von "Stuttgart 21" dar. Verbesserungen im Fernverkehr folgen an zweiter Stelle. 53 Prozent der Befragten erwarten solche Verbesserungen - das sind jedoch fünf Prozentpunkte weniger als noch vor Beginn der Schlichtung. Zwar wird zunehmend bezweifelt, dass durch "Stuttgart 21" Verkehr von der Straße auf die Schiene verlagert wird (-4 Prozentpunkte). Dem stehen aus Sicht der Befragten auf der Positiv-Seite schnellere Zugverbindungen und die Tatsache gegenüber, dass der Stuttgarter Flughafen an das Schnellbahnnetz angeschlossen wird. Den dritten Aktivposten sehen die Befragten in der Möglichkeit, die frei werdenden Gleisflächen für die Stadtentwicklung zu nutzen. Von den 100 Hektar frei werdender Fläche sollen 20 Hektar der Parkerweiterung zugute kommen, 80 Hektar sind für die Gestaltung neuer Stadtteile vorgesehen. Nach der Schlichtung ist mehr Menschen als zuvor bewusst, dass mitten in der Stadt ein neues Wohnviertel entstehen kann (+5 Prozentpunkte). Das Gleiche gilt für die Erweiterung der Parkanlagen durch "Stuttgart 21" (ebenfalls +5 Prozentpunkte).
Diesen Positiv-Aspekten stehen aus Sicht der Befragten zwei Negativ-Aspekte gegenüber: Auch nach der Schlichtung erwarten 49 Prozent der Befragten negative Folgen für die Umwelt. Vor allem werden Gefahren für die Mineralwasserquellen und Belastungen der Anwohner durch Lärm, Abgase und Staub während der Bauphase gesehen. Am negativsten werden jedoch die Kosten von "Stuttgart 21" bewertet: 72 Prozent der Befragten beurteilen die Finanzierung negativ.
Zu welchem Gesamturteil Menschen gelangen, wenn sie sich eine Meinung über ein komplexes Großprojekt bilden, hängt wesentlich davon ab, wie viel Gewicht sie den unterschiedlichen Teilaspekten beimessen. Nicht alle Befragten, welche die Finanzierung kritisch beurteilen, lehnen "Stuttgart 21" ab. Für sie wiegen die wirtschaftlichen, verkehrlichen und städtebaulichen Teilaspekte die Kosten auf. Für andere hingegen ist die Finanzierungsfrage so wichtig, dass sie wahrgenommene Vorteile anderer Teilaspekte in den Hintergrund drängt. Das Gesamturteil kann sich daher auch dann ändern, wenn die einzelnen Teilaspekte unverändert bewertet werden - dann nämlich, wenn sich deren Gewicht für das Gesamturteil verschiebt. Dies lässt sich auch nach der Schlichtung zu "Stuttgart 21" beobachten. Unmittelbar vor der Schlichtung bewerteten 37 Prozent unserer Befragten das Projekt insgesamt positiv, 47 Prozent bewerteten es negativ und 16 Prozent antworteten mit "teils/teils". Direkt nach der Schlichtung herrschte zwischen Befürwortern und Gegnern Gleichstand: Der Anteil der Befürworter unter den Befragten ist von 37 auf 43 Prozent gestiegen, der Anteil der Gegner von 47 auf 43 Prozent gefallen (siehe Abbildung 3 der PDF-Version).
Der Stimmungsumschwung hat sich nach der Landtagswahl im März 2011 noch verstärkt. Einer repräsentativen Umfrage von Infratest dimap zufolge sprachen sich im August 2011 im Großraum Stuttgart 60 Prozent der Befragten für das Projekt aus, nur noch 28 Prozent waren dagegen.
Dialog statt Basta
Was lässt sich aus der Sachschlichtung lernen? Kann sie als Prototyp für die Meinungsbildung bei Großprojekten dienen? Unbestritten hat die Schlichtung zu einer Versachlichung der sehr emotional geführten Debatte geführt. Sie hat die Eskalationsspirale gestoppt. Und sie hat dazu beigetragen, die eingeforderte Transparenz herzustellen. Das zuvor wahrgenommene Informationsdefizit konnte zwar nicht beseitigt werden, es wurde aber verringert. Angesichts der Ausgangslage sind dies wertvolle Erfolge. Dennoch ist die Schlichtung mit einem erheblichen Makel behaftet: Sie hat viel zu spät stattgefunden. Dies ist nicht dem Schlichter und den Teilnehmenden an der Schlichtung vorzuwerfen. Künftig sollten solche Gespräche aber nicht erst stattfinden, wenn sich die Positionen bereits verfestigt haben. Ein Einfluss von Sachargumenten auf die Meinungsbildung ist wegen der selektiven Wahrnehmung dann nur noch sehr schwer möglich.
Mit Protesten werden alle Großprojekte weiterhin leben müssen, denn sie berühren vielfältige Interessen. Sehr wahrscheinlich stehen lokale Bürgerinitiativen auch künftig Großprojekten vor der eigenen Haustür skeptisch gegenüber. In der Frühphase eines Projektes sind sie aber selten unversöhnliche Gegner des Vorhabens. Oft suchen Bürgerinitiativen zunächst das Gespräch, um ihre Bedenken und Interessen geltend zu machen. Sie bringen Einwände vor, stellen Fragen und formulieren Bedenken. Das kann auch helfen, Projekte zu verbessern, und sollte daher nicht von vornherein als "störend" abgetan werden. Ein Fakten-Check zu Beginn eines Projektes kann helfen.
Beispiele dafür gibt es, ihre Erfolgsbedingungen sind bekannt: 1. Die Gespräche müssen für alle Interessierten zugänglich sein. Internet-Übertragungen und deren öffentlich zugängliche Speicherung ermöglichen es, dass sich auch die Menschen ein eigenes Bild machen können, die zum Zeitpunkt der Gespräche aus familiären oder beruflichen Gründen verhindert sind. 2. In den Gesprächen müssen sowohl Befürworter als auch Kritiker eines Projektes gleichberechtigt vertreten sein. Der Dialog muss "auf Augenhöhe" stattfinden. 3. Die Gespräche dürfen nicht von einer der beiden Seiten geleitet werden, sondern es bedarf eines neutralen Moderators. Er hat auf die Einhaltung der Regeln und die Wahrung des gegenseitigen Respekts zu achten. 4. Die Gespräche sollten sich auf Sachfragen konzentrieren.
Diese Gespräche müssen um eine Diskussion über die Ziele ergänzt werden, die mit einem Großprojekt verfolgt werden sollen. In solchen Gesprächen sollten Projektträger und Bürger, Parlamente, Regierungen und Bürgerinitiativen ihre Standpunkte darlegen können und versuchen, einen Interessenausgleich herbeizuführen. Nicht immer wird dies gelingen. Aber von dem ernsthaften und ehrlichen Versuch wird es abhängen, ob das Ergebnis von möglichst vielen Menschen akzeptiert wird. Am Ende muss nicht allumfassende Einigkeit stehen, aber es muss glaubhaft erkennbar sein, dass alle Einwände gehört wurden und dass man sich sachgerecht und konstruktiv mit ihnen auseinandergesetzt hat.
Von solch einem Verfahren geht dann - anders als von einem Bürgerentscheid - zwar keine rechtliche Bindung aus. Es dürfte Parlamenten aber schwer fallen, gegen eine öffentliche Meinung zu entscheiden, die frühzeitig auf diese Art und Weise und unter Beteiligung aller relevanten Gruppen zustande gekommen ist. Für Parlamente bietet sich hier eine Chance: Sie können - als Ort der Repräsentation der Bevölkerung - dieses Verfahren anstoßen und den Austausch forcieren. Die Akzeptanz der Gesprächsergebnisse setzt ein transparentes Verfahren voraus. Sie setzt auch voraus, dass Meinungen nachvollziehbar und verständlich begründet werden. Und sie ist notwendig, weil Parlamente im Zweifelsfall auch bei Großprojekten eine Entscheidung treffen müssen, in der es um das Abwägen von gegensätzlichen Interessen geht. In den Parlamenten muss der Ausgleich zwischen dem Gemeinwohl dienenden Maßnahmen (beispielsweise dem Bau einer Stromtrasse für den Transport von Öko-Strom) einerseits und berechtigten Partikularinteressen vor Ort andererseits stattfinden. Damit dieser Ausgleich akzeptiert werden kann, müssen die oben genannten Regeln der Transparenz, der Beteiligung und des Gesprächs auf Augenhöhe eingehalten werden. Heiner Geißler stellte dazu in seinem Schlichterspruch fest: "Die Zeit der Basta-Politik ist vorbei, auch Parlamentsbeschlüsse werden hinterfragt, vor allem wenn es Jahre dauert, bis sie realisiert werden. Sie müssen jedenfalls in dieser Zeit immer wieder begründet und erläutert werden."