Einleitung
In den modernen westlichen Demokratien spielen politische Parteien, so unterschiedlich ihre Geschichte und Ausrichtung in einzelnen Ländern auch sein mögen, eine zentrale Rolle. Sie repräsentieren den Willen der Bürger und Bürgerinnen im Parlament und übernehmen wichtige Funktionen zur Aufklärung der Bevölkerung.
Nach Artikel 21 des Grundgesetzes haben Parteien in Deutschland an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken und in ihrer inneren Ordnung demokratischen Grundsätzen zu entsprechen. Eine vergleichsweise hohe Wahlbeteiligung dokumentierte lange Zeit den Erfolg der Parteien, vor allem der beiden Volksparteien.
Sie verfügten über eine stabile Basis bei Wählern und Mitgliedern, die sich wiederum durch das Personal der Parteien vertreten sahen und ihm vertrauten. Der Rückgang der Wahlbeteiligung, vor allem auf den Ebenen der Länder und der Kommunen, und ein enormer Verlust an Mitgliedern verweisen jedoch derzeit auf Risse in der Legitimationsgrundlage der Parteien und ihrer Führungen.
Parteiendemokratie in der Krise?
Der Rückhalt in der Bevölkerung schwindet ausgerechnet in einer Zeit, in der Deutschland durch einen tief greifenden sozialen Wandel geprägt wird, der einen erheblichen politischen Gestaltungsbedarf aufwirft. Beide Volksparteien sind betroffen, auf besondere Weise die SPD: Ihre Geschichte ist geprägt vom Solidaritätsversprechen für Menschen, die Solidarität aufgrund ihrer prekären sozioökonomischen Lage dringend benötigen. Gerade diese Wähler und Mitglieder kehren ihr nun den Rücken zu, ihr Einfluss in den unteren Schichten schwindet. Auch bei Wahlen verweigern Angehörige von einkommensschwächeren und bildungsferneren Gruppen zunehmend die Teilnahme. Es besteht die Gefahr, dass deren Interessen nicht mehr durch die gewählten Politiker repräsentiert werden. Eine Repräsentations- und damit auch Partizipationslücke zwischen Bevölkerung und Politik wird sichtbar.
Gleichzeitig ist zu beobachten, dass sich das politische Spitzenpersonal durch Prozesse der sozialen Schließung abschirmt, wie sie von Max Weber, Raymond Murphy und Frank Parkin beschrieben wurden.
Der Versuch, die sich damit abzeichnende Entfremdung von Mitgliedern und Wählern zu überspielen und deren Vertrauen durch die Selbsternennung zur politischen Elite zu gewinnen, hat den Verdacht eher noch bekräftigt, in den großen Parteien herrschten Oligarchien, die sich gegenüber Wählervotum und Mitgliedermeinung immunisierten. Der Verlust an Einfluss der Parteimitglieder an der Basis auf ihr politisches Führungspersonal ist für die Entwicklung der Demokratie jedoch schon deshalb bedrohlich, da im Zeitalter der Medienmacht das Image oder Charisma eines Politikers konstruiert, produziert und damit gekauft werden kann. Kritik an den Parteien, die von einer konstruktiven Perspektive getragen wird, wie diese eine demokratische Filterfunktion ihrer Kandidaten künftig besser wahrnehmen können, wird daher dringend benötigt. Kritik, die dagegen die Entmachtung der Parteien fordert und die Zukunft der Demokratie in politischen Artikulations- und Aktionsformen außerhalb von Parteien sieht, zielt darauf, eine tragende Säule unserer Demokratie zum Einsturz zu bringen.
Schon Robert Michels analysierte, dass Parteien zwangsläufig Oligarchien, basisferne Parteieliten, hervorbringen, und hat dabei von einem "ehernen Gesetz der Oligarchie" gesprochen. Mit dieser These setzen wir uns hier auseinander: Wie ist verselbstständigter Elitenherrschaft beizukommen? Wie wird das Oligarchiegesetz in der jüngeren Parteien- und Demokratieforschung rezipiert? Wir diskutieren, inwieweit mehr direkte Demokratie eine Alternative darstellt. Zum Schluss streifen wir institutionelle Regelungen als "Gegengifte" zur Begrenzung von Elitenherrschaft.
Soziologie des Parteiwesens
Vor hundert Jahren erschien eine Studie, die bald "zu einem der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts" (Seymour Lipset) avancieren sollte: Robert Michels' "Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens". Der Autor befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen Demokratie, Parteien und Eliten, insbesondere am Beispiel der Sozialdemokratie. Er untersucht vor allem das Innenleben dieser Partei und fragt, inwieweit es ihr gelingt, die hohen Erwartungen an Demokratie in die Praxis der Organisation umzusetzen.
Das Ausgangsszenario seines Werkes ist die Situation in den europäischen Kernländern mit absolutistischen Traditionen im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das moderne Parteienwesen ist bereits voll entfaltet, doch noch immer beherrscht der Adel in Deutschland den Staat. Das Bürgertum, wie Michels schreibt, "feudalisiert": Statt die Aristokratie abzulösen und sich für Freiheit und Demokratie einzusetzen, orientiert es sich am Adel, lässt sich von ihm "aufsaugen" und bildet mit ihm zusammen eine Oligarchie, welche die Macht im Staat unter sich aufteilt. Andere soziale Schichten, insbesondere die Arbeitermassen, sind ausgeschlossen und für sich genommen unfähig, sich aus dem Joch der ökonomischen und gesellschaftlichen Unterdrückung zu befreien. Von allen Beteiligten, vor allem aber von der Arbeiterklasse, verlangen die Bedingungen des politischen Kampfes, sich zu organisieren und schlagkräftige Parteien zu bilden, um ihre Interessen zu vertreten. Organisation ist das Mittel im Zeitalter der Industrialisierung, um der politischen Ohnmacht zu entkommen.
Die Oligarchietendenz wiege gerade in den linken Parteien wie der SPD schwer: Statt die Revolution zu verwirklichen, wandele sich die Partei unter der Herrschaft einer Oligarchie vom Mittel zum Selbstzweck. Denn die Parteioligarchie präge ein "Eigeninteresse, ein Interesse an sich selbst und für sich selbst". Sie werde strukturkonservativ; die verselbstständigte Parteibürokratie erschöpfe ihre Energie im selbsterhaltenden Organisationsritualismus, und die persönlich arrivierten Parteiführer arrangierten sich parlamentarisch mit den herrschenden Verhältnissen. Die Umkehrung des demokratischen Prinzips bestimme die Partei. Welche Ursachen sind nach Michels für die Asymmetrie und Umkehrung der Macht zwischen den Führern und ihrer Basis verantwortlich?
"Reine" Demokratie als Selbstregierung der Massen sei schon wegen der großen Zahl mechanisch und technisch unausführbar. Das moderne Parteienwesen präge den politischen Kampf, bei dem die Partei als "Waffe der Schwachen im Kampf mit den Starken" nur als "Kampforganisation" bestehen könne. Hieraus resultiere ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Demokratie und organisatorischer Effizienz (Schlagkraft, Beweglichkeit, Arbeitsteilung, Spezialisierung, Hierarchie und Zentralisation). Moderne Parteiorganisationen entwickelten sich mit zunehmendem Wachstum zu riesigen Bürokratien, unüberschaubar für die Mitglieder, beherrscht von "Parteibeamten".
Die Professionalisierung der Führungsschicht verhindere demokratische Kontrolle. Hinzu komme ihre funktionale Unentbehrlichkeit, weil sie sich zur Aufrechterhaltung der Organisation als Spezialisten des Parteiapparates und des politischen Kampfes auf der Basis von Expertise, Dienstwissen und Routine berufsmäßig etablierten. Die von Michels beschriebene Professionalisierung der Parteifunktionäre bedeute für diese beruflichen Aufstieg, der sie von ihrer Herkunft entfremde. Die verbürokratisierte Sozialdemokratie fungiere für sie insofern als "Klassenerhöhungsmaschine". Das Positionsinteresse der Führer bestehe vor allem darin, ihre Macht auszubauen.
Den Parteiführern sei das Streben inhärent, ihre Machtstellung innerparteilich zu festigen und ihren Volksvertreterstatus zu verewigen. Hierzu schotteten sich die Führungszirkel nach außen durch Kartellbildung ab und ergänzten sich durch Kooptation statt durch Wahl. Machtkämpfe zwischen alten und neuen Eliten beförderten nicht deren Zirkulation, sondern endeten in der Amalgamierung der etablierten mit den nachrückenden Kräften. Einmal an der Macht, wandelten sich die Revolutionäre zu "Reaktionären". Aufgrund ihrer Machtposition verfügten sie über die kulturellen Ressourcen, ihren Ruhm als öffentliche Mandatsträger zu sichern, sich persönlich unantastbar zu machen, ihre Haltung als "Gesamtinteresse" auszugeben und Gegenströmungen zu disziplinieren.
Erkennt Michels Chancen, dass die Mitglieder gegen die Oligarchen aufbegehren? Nein, denn er betrachtet die Parteibasis zumeist als initiativlose und inkompetente Masse, autoritätsgläubig und bereit, sich leiten zu lassen, und dankbar gegenüber der Führung. Die Masse nehme ihre zunehmende Entmachtung willenlos hin. Dabei greift er auf die Sozialpsychologie von Gustave Le Bon zurück, dessen pessimistische Theorien um die vorletzte Jahrhundertwende äußerst einflussreich waren. Das industrielle Zeitalter bringe kein souveränes Volk, sondern entindividualisierte Massen hervor, die zur vernunftgesteuerten politischen Willensbildung nicht in der Lage seien. Le Bon konzipiert die Figur eines charismatischen Führers, der die Massen durch die Beherrschung ihrer unbewussten Affekte zur Gefolgschaft veranlasst.
Michels war ein kosmopolitischer, vielgereister Gelehrter großbürgerlicher Herkunft, der 1876 in Köln geboren wurde und 1936 in Rom starb. Eine brennende Sehnsucht trieb ihn an, seinen Platz in revolutionären Bewegungen zur Überwindung der alten Gesellschaft des Fin de Siècle zu finden. Schon während seiner Studienzeit in Paris, München, Leipzig und Halle schloss er sich syndikalistischen und sozialistischen Bewegungen an, von 1903 bis 1907 war er aktives SPD-Mitglied (Ortsverein Marburg), mit besten Kontakten zu den linken Führern. Seine Kandidatur zum Reichstag blieb ohne Erfolg. Aus politischen Gründen an einer akademischen Karriere in Deutschland gehindert, verließ er das Land und wurde 1913 italienischer Staatsbürger. Zunächst 1907 in Turin und dann auch in Basel lehrend, trat er aus allen Parteien aus. Vor dem Hintergrund seiner Rezeption der Elitetheorien von Vilfredo Pareto und Gaetano Mosca veröffentlichte er 1911 von Turin aus "Zur Soziologie des Parteiwesens", sein Hauptwerk. Nach Benito Mussolinis Marsch auf Rom 1922 bekannte er sich zur faschistischen Bewegung. Er unterrichtete in Chicago, bis ihn im Jahr 1928 der Duce auf eine Professur an der faschistischen Hochschule in Perugia berief. In seinen Schriften kommt das tiefe Krisenbewusstsein der Intellektuellen vor und nach dem Ersten Weltkrieg zum Ausdruck.
Im Kern hielt Michels, Jean-Jacques Rousseau auf spezifische Weise auslegend, die Verwirklichung von Demokratie für unmöglich. Die Artikulation des politischen Willens erfordere Parteien; diese werden nicht vom Volk, sondern von Oligarchien beherrscht.
Michels' Oligarchiegesetz in der neueren Forschung
Mit seinem Werk hat Michels die Geschichte des politischen Denkens bis heute stark beeinflusst. Da er seine Einsichten auch auf andere Parteien, sogar auf moderne Gesellschaften und Organisationen insgesamt, verallgemeinerte, avancierte "Zur Soziologie des Parteiwesens" bis heute zum Klassiker von Politik- und Sozialwissenschaften, Parteienforschung, Elitensoziologie und Organisationstheorie. Für die innerparteiliche Demokratieforschung ist das Oligarchiegesetz nach wie vor "primärer Bezugspunkt" (Oskar Niedermayer). Ein Zweig hielt nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin am "demokratischen Schein und oligarchischen Sein" (Maurice Duverger) der Parteien fest und steuerte die These bei, dass sich innerparteiliche Führungsgruppen zu einer "herrschenden Koalition" (Angelo Panebianco) zusammenschließen würden. Eine andere einflussreiche Gruppe ging in Konfrontation zu Michels' Oligarchiegesetz. An der innerparteilichen Elitenherrschaft sei nicht zu rütteln. Aber durch strukturelle Vorkehrungen ließe sich Elitenmacht begrenzen und an die Wünsche der Parteimitglieder binden. Mit der amerikanischen Pionierstudie von Samuel S. Eldersveld
Es bleibt aber das Problem der Abkopplung der Parteispitzen von der im Gesellschaftlichen verwurzelten Parteibasis und der Verselbstständigung der aus den Parteien hervorgehenden Berufspolitiker auf der Ebene von Parlament und Regierung. Dort, so die Kritik, bemächtige sich die politische Klasse staatlicher Ressourcen und Privilegien,
Für Michels bilden auch die in Parlament und Regierung herrschenden Eliten eine Oligarchie. Dass deshalb Demokratie gar "Betrug am Volk" sei (Gaetano Mosca), rief nach dem Zweiten Weltkrieg eine sich davon absetzende Denkschule auf den Plan, die sich, angeführt durch den österreichisch-amerikanischen Ökonomen Joseph Schumpeter, als sogenannte Realistische Demokratietheorie bzw. Theorie demokratischer Elitenherrschaft verbreitete.
Wahl und Konkurrenzprinzip verhinderten die Verselbstständigung der Politiker und ihre Loslösung von den Wählerpräferenzen. Dies wird von dem Glauben gestützt, dass es keine geschlossene, oligarchisch herrschende Führungsschicht gebe, sondern dass sich die nach unten hin durchlässige Politikerschicht pluralistisch zusammensetze und in Teileliten zerfalle, die gegeneinander frei konkurrierten. Schumpeter hat ungewollt massive Kritik an der eigenen Auffassung geäußert. So bezeichnet er die Vorstellung von einer "freien Konkurrenz um freie Stimmen" als "völlig wirklichkeitsfremdes Idealbild", dem realiter Verhältnisse entgegenstünden, "die wir als 'unfaire' oder 'betrügerische' Konkurrenz oder als Konkurrenzbeschränkung bezeichnen".
Dass der Elitenwettbewerb Kartellbildungen, Wettbewerbsverzerrungen und der Manipulation des Wählerwillens unterworfen ist, wurde zuletzt durch den britischen Soziologen Colin Crouch hervorgehoben.
Institutionelle Fesselung der Elitenherrschaft
Der repräsentativen Demokratie wohnt eine Tendenz zur Oligarchisierung und Verselbstständigung der gewählten Politiker inne. Dies wirft die Frage auf, wie die Herrschaft der Gewählten über die Wähler begrenzt und stärker an den Wählerwillen gebunden werden könnte. In diesem Zusammenhang wird gefordert, die repräsentativdemokratische Berufspolitikerherrschaft einzuschränken bzw. durch mehr unmittelbare Demokratie im Sinne einer authentischen Selbstregierung des Volkes und einer bürgerschaftlichen Selbstorganisation zu ersetzen.
Die Stärkung unmittelbarer bürgerschaftlicher Beteiligungsmöglichkeiten durch Volksbefragungen, Volksbegehren und Volksentscheide in Sachfragen ist ein bereits auf Länderebene praktizierter Weg. Politikerherrschaft wird dadurch aber nur punktuell begrenzt, nicht etwa ausgehebelt. Bislang ergaben sich für plebiszitäre Demokratie auf der Ebene der Länder und der Kommunen nur wenige Gelegenheiten, viele Verfahren scheiterten an hoch angesetzten Erfolgshürden.
Elitenherrschaft, ob demokratisch oder oligarchisch, desillusioniert den Glauben an das demokratische Gleichheits- und Selbstbestimmungsprinzip und damit an die grundlegende demokratische Idee, dass Regierende und Regierte identisch sein könnten. Mehr direkte Demokratie räumt partielle und sachlich punktuelle bürgerschaftliche Selbstbestimmungsmöglichkeiten ein; sie "ergänzt" (Dieter Rucht) die repräsentative Demokratie. Vor Oligarchisierung indes schützt letztendlich nur, bei den Wurzeln verselbstständigter, verewigter Elitenherrschaft anzusetzen. Folgt man Michels, hieße dies: bei den Parteien. Dies umso mehr, als dort das Kandidatenvorschlagsrecht von Vorständen, ausgekungelte Listenwahlen, Personalwahlen ohne Auswahl, Ämterkumulationen und medial inszenierte Personenkultparteitage zur Oligarchisierung beitragen.
Bereits zu Beginn der 1990er Jahre wurden Anläufe für innerparteiliche Organisationsreformen begonnen, die einer "Verbonzung" (Helmut Kohl) Einhalt gebieten und die direktdemokratischen Beteiligungsmöglichkeiten der Parteimitglieder stärken sollten. Einen Schritt in diese Richtung unternimmt gegenwärtig die SPD, die auf ihrem Parteitag im Dezember 2011 die Urwahl von Amtsträgern und unmittelbare Mitgliedervoten in Sachfragen zur Abstimmung stellt. Bei diesen, aber auch bei Reformplänen anderer Parteien fällt auf, dass institutionelle Eingriffe zur Ämterbegrenzung und Amtszeitbefristung der innerparteilichen Führungsschicht gezielt außen vor bleiben.