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Fukushima: Gefahr gebannt? Lernen aus der Katastrophe | Ende des Atomzeitalters? | bpb.de

Ende des Atomzeitalters? Editorial Wissen und Moral - Stadien der Risikowahrnehmung - Essay Eine kurze Geschichte der deutschen Antiatomkraftbewegung Außenseiter oder Spitzenreiter? Das "Modell Deutschland" und die europäische Energiepolitik "Energiewende": Wohin führt der Weg? Abkehr vom Klimaschutz? Fukushima: Gefahr gebannt? Lernen aus der Katastrophe Von Risikoabschätzungen zum "guten Leben" - oder umgekehrt? Popularität der Apokalypse: Zur Nuklearangst seit 1945

Fukushima: Gefahr gebannt? Lernen aus der Katastrophe

Manfred Bürger Michael Buck Georg Pohlner Jörg Starflinger Jörg Starflinger Georg Pohlner / Michael Buck / Manfred Bürger /

/ 14 Minuten zu lesen

Der Unfall in Fukushima konfrontiert uns direkt mit der Frage nach unserer eigenen Sicherheitskultur. Diese ständig zu verbessern, bleibt auch nach dem Entschluss zum Atomausstieg eine Notwendigkeit. Eilige "Stresstests" reichen nicht aus.

Einleitung

Das Erdbeben und der Tsunami vom 11. März 2011 haben in Japan unvorstellbare Zerstörungen, den Tod von wohl mehr als 20000 Menschen und die Verwüstung ganzer Städte hervorgerufen. Das Hauptthema in Deutschland war jedoch der Reaktorunfall in Fukushima.

Das Ringen um die Kernschmelze und die Freisetzung von Radioaktivität beschäftigte die deutsche Öffentlichkeit, aktualisierte Ängste und führte schließlich zur Rücknahme der Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke und zur sofortigen Stilllegung von Anlagen in Deutschland. Die Naturkatastrophe verblasste demgegenüber in der Wahrnehmung.

Wie kommt es zu dieser unterschiedlichen Wahrnehmung? Kann die Naturkatastrophe nur schicksalhaft hingenommen werden, während der Reaktorunfall Anlass gibt, Alternativen zu bedenken? In Deutschland sind Erdbeben und Tsunami keine realen Bedrohungen, was wohl auch ein Grund ist, weshalb die Reaktorkatastrophe stärker wahrgenommen wurde. Dabei war der Bezug zu Diskussionen um Risiken der Technik und Alternativen gegeben.

Sicherheitskonzept und Krisenmanagement in Fukushima

Auf den Unfallablauf in Fukushima wird hier nicht näher eingegangen, wesentliche Aussagen sind schon publiziert. Das zentrale Problem war die Kühlung des Reaktorkerns nach Stromausfall als Folge des Erdbebens und der Ausfall der Notkühlsysteme infolge des Tsunamis. Zwar wurde die Kettenreaktion abgeschaltet, durch den Zerfall der entstandenen radioaktiven Stoffe tritt aber noch über längere Zeit eine erhebliche Wärmefreisetzung auf. Bei Ausfall der Kühlsysteme führt dies zum Ausdampfen des Kühlwassers, schließlich zum Aufheizen und Schmelzen des Kernmaterials. Durch die Oxidation der den uranhaltigen Brennstoff umschließenden Hüllrohre in Wasserdampf entsteht dabei ab etwa 1200°C Wasserstoff. Die Aufheizung wird durch die chemische Reaktion verstärkt, ab etwa 1800°C treten erste Schmelzvorgänge auf, und ab etwa 2700°C schmilzt schließlich der ganze Kern. Ohne Kühlung führt dieser Ablauf zum schrittweisen Versagen der Barrieren gegen die Freisetzung radioaktiven Materials, also der Brennstabhüllen, des Reaktordruckbehälters, des Sicherheitsbehälters (containment) und letztlich des Reaktorgebäudes selbst. Im Folgenden werden nur die hauptsächlichen im Unfallablauf zu Tage getretenen Schwachstellen zusammengefasst.

Das vollständige Versagen der Notstrom- und Notkühlungssysteme durch den Tsunami stellt einen Ausfall mehrfacher Systeme durch eine gemeinsame Fehlerursache dar (common mode failure). Dies ist bei der Konstruktion derartiger Anlagen grundsätzlich zu vermeiden. Dazu wäre in Fukushima Daiichi eine gesicherte Unterbringung der Notstromdiesel und Notkühlpumpen gegen Überflutung durch Tsunamis notwendig gewesen. Ein weiterer Konstruktionsfehler trat im Verlauf des Unglücks bei der Druckentlastung zutage. Das Abblasen von Dampf (venting) und damit auch von Wasserstoff erfolgte, bedingt durch die Bauweise, ins Gebäudedach. Dort bildete der Wasserstoff mit der Luft zündfähige Gemische, deren Explosion den Dachbereich zerstörte. Grundsätzlich ist über einen höheren Kamin mit eigener Filterung ein gesichertes venting direkt ins Freie zu gewährleisten. Auch die Lage der Brennelementbecken im wenig geschützten oberen Gebäudeteil außerhalb des containments stellte sich als Schwachstelle heraus. So wurden die Becken durch die Explosionen freigelegt, mit dem großen Risiko, dass ein Versagen der Kühlung und eine Aufheizung der Brennelemente dort zur direkten Freisetzung großer Mengen an Radioaktivität in die Umgebung führt.

Beim Krisenmanagement erwies sich eine unzureichende messtechnische Erfassung des Anlagenzustandes während des Unfallablaufs als Problem. Viele Maßnahmen erschienen wenig begründet. Dies wirft Fragen nach einer speziellen messtechnischen Auslegung für solche schweren Unfälle auf. Grundsätzlich hat Kühlung bei derartigen Störfällen absolute Priorität. Die Unsicherheiten über den Anlagenzustand beeinträchtigten jedoch strategische Abwägungen, die vom Kraftwerksbetreiber TEPCO (Tokyo Electric Power Company) auch nicht kommuniziert wurden. So blieb unklar, welche Optionen zur Verfügung standen. Nach Stunden ohne Kühlung musste von Ausdampfen und erheblicher Aufheizung ausgegangen werden, erst recht nach den Wasserstoffexplosionen. Ein Einspeisen von Wasser in die heißen Kerne, mit starker Dampfentwicklung und Druckaufbau als Folge, kann nur alternierend mit venting funktionieren, was zunehmend mit radioaktiven Emissionen verbunden ist. Wenn allerdings die Chancen einer Kühlung, mit dem Hauptziel der Rückhaltung des radioaktiven Materials, immer kleiner werden und Lecks auftreten, dann ist eine Fortsetzung massiven Flutens zu hinterfragen, das dann gerade die Freisetzung von radioaktivem Material bewirkt. Maßnahmen der Einschließung müssten dann in den Vordergrund treten.

Folgen des Unfalls und Sanierungsmaßnahmen

Ein weiteres Unfallmanagement ist noch über längere Zeit erforderlich. So bleibt die Kühlung von Kernmaterial eine andauernde Aufgabe. Auch nach einem Jahr könnte noch Schmelzen auftreten, allerdings reicht dann ein stark reduzierter Wasserzustrom. Dies hängt aber auch von der Konfiguration der Schmelze ab. Große geschmolzene Anteile werden aber zunehmend unwahrscheinlicher, so dass Risiken daraus abnehmen. Eine weitere Verlagerung der Schmelze durch Beton- und Boden-Erosion sowie weitere Freisetzungen von Radioaktivität durch einen teilweise geschmolzenen Zustand sind aber nicht auszuschließen. Fortgesetztes massives Fluten kann kontraproduktiv sein.

Um eine weitere Verbreitung radioaktiven Materials zu verhindern, ist letztlich die gesamte Anlage durch stabile Umhüllungen einzuschließen. In der Umgebung müssen Dämme und im Erdreich tiefe Mauern errichtet werden. Auch sind verbesserte Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz gegen neuerliche Erdbeben und Tsunamis zu treffen. Erhebliche Belastungen in der Anlage selbst und einer weiten Umgebung resultieren bereits aus dem bisherigen Austrag radioaktiver Stoffe. Hierzu bedarf es intensiver, großräumiger Untersuchungen, wobei besonders lokale Spitzenbelastungen zu erfassen sind. Regelmäßige Gesundheitschecks sind erforderlich, zudem gilt es, im Bereich der Anlage und (abhängig von Messungen) in einer weiten Umgebung Dekontaminationsmaßnahmen einzuleiten. In den Anlagen steht das in großen Mengen angefallene, radioaktiv belastete Wasser im Vordergrund. Im Hinblick auf Wiederansiedlungen sind großflächige und tiefe Abtragungen des Erdreichs voraussichtlich unvermeidlich.

Eine Einschätzung aller Folgen des Unfalls ist nach wie vor schwierig. Im Vergleich zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 ist nach vorliegenden Informationen viel weniger radioaktives Material freigesetzt worden, vor allem weil es in Fukushima keine unkontrollierte nukleare Kettenreaktion ("nukleare Exkursion") und keinen Graphitbrand gab wie in Tschernobyl. Die Wasserstoff-Explosionen öffneten dagegen hauptsächlich nur Pfade für die Freisetzungen, die sich daher auf die nähere Umgebung konzentrierten. Die gesundheitlichen Auswirkungen der freigesetzten radioaktiven Stoffe sind noch schwerer zu beurteilen. Als Unfallfolgen sind aber auch die Belastungen aus der Evakuierung von mehr als 100000 Menschen zu betrachten sowie die Unsicherheiten mit den fortbestehenden Gefährdungen. Maßnahmen entsprechend den hier aufgeführten sind auch Gegenstand einer "Roadmap" von TEPCO. Die darin angegebenen Ziele und Wege gehen in die richtige Richtung. Sie zeigen gleichzeitig den langen und aufwendigen Weg an.

Lehren für Sicherheitskonzepte

Welche Lehren sind für Deutschland und Europa zu ziehen? In einer eilig herbeigeführten Entscheidung beschloss die Bundesregierung kurz nach der Katastrophe in Japan ein dreimonatiges Moratorium, und setzte die wenige Monate zuvor beschlossenen Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke aus. Die älteren Anlagen wurden vorläufig stillgelegt. Zugleich sollte durch einen "Stresstest" deutscher Kernkraftwerke eine Basis für endgültige Entscheidungen geschaffen werden. Beim "Stresstest" sollte eine anlagenspezifische Sicherheitsüberprüfung darüber durchgeführt werden, ob Sicherheit aufgrund neuer Annahmen neu definiert werden muss.

Welche Fragen ergeben sich also aus Fukushima? Offensichtlich handelt es sich nicht um bisher unerkannte Gefährdungen. Die Besonderheit einer Tsunami-Situation ist für Deutschland praktisch nicht gegeben. Festzustellen sind also allenfalls Defizite durch eine Nichtbeachtung von vorher bereits erkennbaren Risiken. Dann beinhaltet die Fragestellung für Deutschland und Europa eine Kritik an bisherigen Sicherheitsanalysen. Es reicht aber nicht aus, für jahrzehntelang Bearbeitetes in kurzer Frist neue Einschätzungen zu fordern. Das Funktionieren der Sicherheitsforschung und des Sicherheitssystems selbst ist dann zu überprüfen. Es drängt sich somit der Eindruck auf, dass der "Stresstest" vor allem der Argumentation für den politisch gewollten Ausstieg dienen sollte.

Letztendlich wurde als hauptsächliches Kriterium für die Abschaltung einzelner Kraftwerke die Absicherung gegen Flugzeugabstürze herangezogen. Tatsächlich handelt es sich hier um äußere Ereignisse, die am ehesten ein Außerkraftsetzen auch von geschützten Notstromsystemen verursachen könnten. Durch Explosionen und großräumige Brände könnten auch längere Zeit Zugänge versperrt sein. Weitere Betrachtungen solcher "Restrisiko"-Szenarien scheinen geboten, schon im Hinblick auf die noch laufenden Reaktoren in Deutschland und die Perspektiven in Europa.

Anforderungen an eine Sicherheitskultur

Fukushima konfrontiert uns direkt mit der Frage nach einer funktionierenden Sicherheitskultur. Eine solche erfordert einen ständigen Prozess der Analyse von Sicherheitsfragen und der Erarbeitung eines Sicherheitsstandards, wobei auch der Prozess selbst und seine Mängel und Ausblendungen zu reflektieren sind. Wenn Kritik an den mangelhaften Notfallkonzepten in Fukushima bzw. an deren mangelhafter Auslegung erst jetzt zutage tritt, muss ein Versagen der internationalen Sicherheitskultur konstatiert werden.

Das Problem von Risikobetrachtungen und Sicherheitsanalysen bei Kernreaktoren liegt in der Komplexität der Prozesse, physikalisch wie technisch. Dazu kommt, dass Unfallabläufe wie in Fukushima nur anhand von Modellen untersucht werden können sowie in Experimenten in kleinem Maßstab und meist mit Simulationsmaterialien. Wie sind damit aber abgesicherte Erkenntnisse zu gewinnen? Die Qualität der Urteile zu Sicherheitsfragen basiert auf einer kulturellen Qualität, die nur über Zusammenarbeit und Auseinandersetzung entstehen kann. Ohne gemeinsames Bemühen und ohne Auseinandersetzung über Ziele und Wege gibt es keine Sicherheit. Formale Definitionen und Festlegungen helfen nur begrenzt. Natürlich ist die Fixierung und Einhaltung von Regeln wichtig, um eine Kultur zu erreichen, in der Verlässlichkeit und Beachtung des gemeinsam Festgelegten hohe Werte sind. Andererseits darf ein solches System auch nicht erstarren, sondern bedarf hinsichtlich der aufgestellten Regeln und ihrer Basis der ständigen Überprüfung.

Der US-amerikanische Risikoforscher Theofanis Theofanous skizziert ein entsprechendes Verhältnis von Wissenschaft, Ingenieurwesen und Management als Basis von Sicherheitskultur. Vereinfachend weist er der Wissenschaft das Hinterfragen, dem Ingenieurwesen das praktische Anpacken und dem Management bzw. der Politik eine steuernde und ausgleichende Rolle zu. Erst aus dem Zusammenwirken aller drei könne sich Sicherheitskultur herausbilden. Ein offensichtliches Versagen liegt demzufolge vor, wenn bloße Anpassung herrscht, aber auch, wenn die Funktionen auseinanderfallen, wenn Zerstrittenheit dominiert. In beiden Fällen kann es vorkommen, dass Korrekturen sich nur durch Katastrophen oder Alarmismus ergeben, sei er berechtigt oder nicht.

Theofanous führt Beispiele aus der Raumfahrt (etwa der Absturz der "Challenger" 1986) ebenso wie aus der Kerntechnik an, in denen die Sicherheitskultur eklatant versagte. In allen Fällen sei es entscheidend um ein Wahrnehmungsvermögen für kritische Defizite gegangen. Sicherheitskultur sei daher auch als eine Kultur des Verstehens der Natur, der Technik und von gesellschaftlichen Prozessen zu interpretieren. Daher wendet er sich gegen Versuche, eine funktionierende Sicherheitskultur an quantitativen Maßstäben zu messen. Defizite seien nur in der lebendigen Auseinandersetzung zu bemerken. Theofanous sieht ein zunehmendes Auseinanderfallen, eine Isolierung der Herangehensweisen, wodurch die schwierige Bestimmung notwendiger Detailklärung im Verhältnis zur Orientierung an Relevanz (fitting for purpose) beeinträchtigt werde. Dies wiederum resultiere in verselbstständigten Rechencodes und Empirismus sowie einer blinden Gläubigkeit gegenüber errechneten Resultaten zulasten wirklichen Verständnisses: "Experts go away but codes stay." Tatsächlich ist festzustellen, dass die bloße Anwendung von Rechencodes den Versuch des Verstehens zunehmend ersetzt.

Auch den generellen kritischen Aussagen und Schlüssen von Theofanous bezüglich des Zustands unserer Sicherheitskultur schließen wir uns an. Eigene Erfahrungen stützen die Kritik an einem unzureichenden Zusammenwirken der Beteiligten im Sinne eines produktiven Spannungsverhältnisses. Dies betrifft die Realitätsferne mancher wissenschaftlicher Arbeiten, aber auch eine fehlende Bereitschaft bei Herstellern, Betreibern und Politik, Kritik und Vorschläge anzunehmen und im Zusammenwirken konsequent zu bearbeiten. Ebenso zutreffend ist die Kritik an wissenschaftlichen Arbeitsweisen, die Resultate von Simulationsrechnungen über den eigentlichen Klärungsprozess stellen, international jedoch immer stärker dominieren. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass ein rechtzeitiges und nachdrückliches Hinterfragen auch im Fall des Kraftwerks von Fukushima offenbar nicht stattfand.

Die Notwendigkeit, sich um eine Verbesserung der Sicherheitskultur zu kümmern, bleibt auch nach dem Entschluss zum Atomausstieg bestehen. Bei Restlaufzeiten von rund zehn Jahren wäre es fahrlässig, Mängel nicht zu beheben. Die Herausforderung, die Standards hoch zu halten, ist mit der Ausstiegsperspektive eher größer geworden. Angesichts des Weiterbetriebs und sogar Neubaus von Anlagen im europäischen Umfeld bleibt es zudem notwendig, Entwicklungen in anderen Ländern zu beurteilen und gegebenenfalls zu beeinflussen. Gibt Deutschland seine Beteiligung an der internationalen Sicherheitskultur und an ihrer Ausgestaltung auf, resultieren daraus unabsehbare Risiken. Eine weitere Beteiligung setzt die Fortsetzung der eigenen know-how-Entwicklung voraus.

Sicherheitskultur, Expertentum und Demokratie: Wie wird entschieden?

Risiken von vergleichbaren oder sogar größeren Ausmaßen, die angesichts der Komplexität der Prozesse und Zusammenhänge nur schwer einzuschätzen sind, existieren auch in anderen Bereichen. So können Klimaveränderungen kaum absehbare Zerstörungen und soziale Verwerfungen verursachen, Gentechnik könnte zu einer bedrohlichen Evolution von Schädlingen und Krankheitserregern führen. Ähnliche Risiken bestehen schon bei der konventionellen Lebensmittelproduktion aufgrund des Einsatzes chemischer Mittel. Die Gefährdungen in diesen Fällen sind eher schleichender Art, nicht durch einen einzelnen Unfall bedingt. In Fukushima gab es allerdings auch keine direkten Todesfälle durch Radioaktivität - auch hier sind ebenfalls eher längerfristig auftretende Schäden zu erwarten, deren Ausmaß noch nicht absehbar ist.

Die verschiedenen Risiken sollen hier nicht gegeneinander abgewogen werden. Es geht vielmehr zunächst um die Erkenntnis, dass es übergreifend notwendig ist, sich mit komplexen Zusammenhängen zu beschäftigen, wobei sich ähnliche Fragestellungen wie zur Sicherheitskultur in der Kerntechnik ergeben. Ein Verstehen der wesentlichen Einflüsse und Zusammenhänge ist essenziell und muss die Basis für Abwägungen in einem Prozess der Auseinandersetzung bilden. Es geht letztlich um Entscheidungen, bei denen Gefahren einem Gewünschten gegenüberstehen, also keine Eindeutigkeit besteht. Die Alternativen sind in solchen Prozessen zu erarbeiten.

Die Entscheidungen bezüglich der Kernenergie zeigen, dass es hier auch um Abwägungen zwischen Alternativen der Energieversorgung geht, nicht nur um Fragen einer Sicherheitskultur in der Kerntechnik. Neben Fragen der Sicherheit spielen unterschiedliche Erfahrungen und Auffassungen zu Lebenszielen und Lebensweisen eine große Rolle. Die kulturelle Dimension in den Abwägungs- und Entscheidungsprozessen wird im Gefolge von Fukushima deutlich. Dabei kollidieren scheinbar rationale, jedoch auch auf technische Sichtweisen begrenzte Verarbeitungen mit gefühlsbestimmten Reaktionen, die aber auch Argumente aus Erfahrungen und anderen Lebensorientierungen einbringen können. Wie sind dabei sinnvolle Wege der Konsensbildung zu finden oder faire Entscheidungen zu treffen? Wie ist bloße Konfrontation in produktive Lösungssuche zu überführen?

Die Konfliktlage ist wie folgt: Einerseits sind weit verbreitete Ängste auszumachen, die von Seiten der Technik-Experten in der Regel dem Verdikt der Irrationalität ausgesetzt sind. Umgekehrt wird den Experten begrenzte Wahrnehmung vorgeworfen, verbunden mit dem Vorwurf der Interessen-Orientierung. Beide Sichtweisen sind teilweise richtig, in ihren Ausblendungen und Konsequenzen aber nicht weiterführend. Ängste haben sich angesichts von technikbedingten Katastrophen vielfach bewahrheitet, ihnen liegen Erfahrungen mit falschen Sicherheitsversprechungen und mit Problemen technischer Verheißungen zugrunde. Andererseits sind die Vorzüge technischer Entwicklung und auch fachlich begrenzter Rationalität nicht von der Hand zu weisen.

Die Auseinandersetzung weist eine grundsätzliche Dimension auf. Die Rationalitätsansprüche von Aufklärung und der mit ihr beförderten Wissenschaft haben sich heute weitgehend auf innerwissenschaftliche Forderungen begrenzt, die Rationalität des Ganzen kaum noch hinterfragend. Technische Entwicklung hat sich im Kontext kapitalistischer Dynamik verselbstständigt und von gesellschaftlichen Zielen abgelöst. Sie gehorcht oftmals nur noch den Anforderungen eigener Entwicklung und blindem ökonomischem Wachstum. Dass letzteres und die gesamte durch das Kapital getriebene Dynamik selbst irrationale Züge aufweisen, wird deutlich in Überschussproduktion als Krisenursache, in Finanzkrisen als Resultat überschüssiger Finanzmittel, die zu Spekulationsgeschäften treiben und auf der anderen Seite als Konsequenz in Form von Staatsverschuldungen wieder Sparzwänge hervorrufen. Das generelle Versprechen der Lösung von Problemen durch Technik, Innovation und Großprojekte sowie dadurch angetriebenes Wachstum hat seine Unschuld verloren.

Daraus ergibt sich auch eine ethische Dimension. Die Handlungsreichweite moderner Technik brachte den Philosophen Hans Jonas (1903-1993) dazu, über Kant hinaus das Prinzip der Verantwortung zu postulieren, das auf eine Verantwortung für die Zukunft abzielt und Forderungen nach Nachhaltigkeit begründet. Wie bei der Sicherheitskultur scheinen erweiterte Postulate und Bestimmungen, hier einer Ethik, aber kaum weiterzuhelfen. Es ist eine gesellschaftliche Auseinandersetzung um Ziele und Alternativen zu führen. Dabei wird beides gebraucht: die allgemeine Bestimmung von Orientierungen (Wie wollen wir leben?) und die wissenschaftlich-technische Prüfung der Möglichkeiten. Beide Seiten müssen sich öffnen. Gestaltungsfähigkeit bedarf allerdings des politischen Primats, das es in der Auseinandersetzung selbst wieder zu erringen gilt.

Wie aber ist angesichts der Komplexität der Fragen Entscheidungskompetenz zu gewinnen? Selbstverständlich darf die Komplexität der Probleme kein Argument dafür sein, letztlich nur Experten entscheiden zu lassen. Dann verkommt Demokratie zu bloßer Akklamation. Sowohl die Komplexität unserer hoch technisierten Gesellschaft als auch deren Sachzwänge produzieren zwar eine zunehmende Bedeutung von Fachleuten, aber dem Experten eines Fachgebiets entzieht sich oft der Sinn fürs Ganze. Dies jedoch betrifft keineswegs nur Vertreter des wissenschaftlich-technischen Bereichs.

Umso mehr müssen Transparenz und Entwicklung von Entscheidungsfähigkeit eingefordert werden. Es gilt, eine bewusste Öffentlichkeit zu bilden, eine Kultur der Auseinandersetzung, welche Expertenurteile einfordert und einschließt. Darin enthalten ist die Forderung an Experten, sich so einzubringen, dass die entscheidenden Gesichtspunkte und Fragestellungen verständlich herausgearbeitet werden und so zur Grundlage für Entscheidungen in einem demokratischen Prozess werden können. Alternativen mit Für und Wider müssen so aufbereitet werden, dass Entscheidungsfähigkeit für alle entsteht, dass der Bezug zu Alltagsfragen und zum "großen Ganzen" deutlich wird. Vereinfachungen sind hierzu notwendig, nicht jedes Detail ist wichtig. Vielmehr sind die wesentlichen Bedeutungen und Unterscheidungen sichtbar zu machen, wie bei der Sicherheitskultur zur Kerntechnik auch.

Exemplarisch können Fragen des Expertentums und der Beziehung zum demokratischen Prozess bei "Stuttgart 21" betrachtet werden. In der Schlichtungsveranstaltung um den Streit um den Stuttgarter Bahnhofsumbau ging es letztlich um eine Rückgabe von Entscheidungskompetenz an die Öffentlichkeit. Auch hier sollte ein "Stresstest" durch Experten eigentlich eine verbesserte Entscheidungsgrundlage schaffen. Das Resultat wurde dann aber zum Urteilsspruch uminterpretiert und ein als besser dargebotener Alternativvorschlag derselben Experten dagegen unter Verweis auf weit zurückliegende Beurteilungen nicht beachtet.

Konsequenzen der Energiewende

Nach dem Beschluss zur Energiewende in Deutschland, abgestützt durch die flankierend zum Reaktor-"Stresstest" eingesetzte Ethikkommission, stehen höchst komplexe Gestaltungswege und Entscheidungen an. Einerseits verweist das Unglück in Fukushima darauf, dass die Lösung der globalen Energieprobleme über den Ausbau der Kernenergie sicherheitstechnisch problematisch wäre. Um in die Größenordnung relevanter Beiträge zum gesamten Energiebedarf zu kommen, also in eine bezüglich der Klimaproblematik entscheidende Dimension, wären Tausende neuer Reaktoren weltweit notwendig, was auch ökonomisch kaum gangbar erscheint. Andererseits sind Wege allein über regenerative Energien, insbesondere Wind und Sonne, schwer vorstellbar, außer über politisch schwierige Großprojekte im Bereich der Solarenergie in Wüstenregionen. Räumliche und zeitliche Schwankungen erfordern Speicherung und Netzausgleich in großem Maßstab. Bedarfsorientierte Modelle der lokalen Nutzung ("Energieautonomie") erscheinen daher nur begrenzt einsatzfähig, am ehesten noch im Sinne des allerdings wichtigen Ziels der Einsparung. Es kommt darauf an, die Schwierigkeiten und Wege realistisch zu beschreiben, um fundierte Entscheidungsprozesse zu ermöglichen.

Fraglich bleibt, inwieweit Wege überhaupt gangbar sind, die nicht auf Einschränkungen des Produktionswachstums zielen, trotz Steigerung von Energieeffizienz und Energiesparen. Ob eine solche Wachstumsbegrenzung Askese-Forderungen bedeutet oder sogar eher eine qualitativ bessere Lebensweise einleiten könnte, bedarf einer separaten Diskussion. Ob der Beschluss zum Ausstieg aus der Kerntechnik Übergänge eher fördert, da er sie erfordert, oder angesichts der absehbaren Probleme und Konflikte eher blockiert und Katastrophen-Tendenzen befördert (etwa durch soziale Brüche), hängt auch von der Entwicklung einer öffentlichen Kultur politischer Auseinandersetzung ab.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bernhard Kuczera, Das schwere Tohoku-Seebeben in Japan und die Auswirkungen auf das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi, in: atw, 56 (2011) 4-5, S. 234-241; Ludger Mohrbach, Unterschiede im gestaffelten Sicherheitskonzept: Vergleich Fukushima Daiichi mit deutschen Anlagen, in: ebd. S. 242-249; Bernhard Kuczera et al., Fukushima auch in Deutschland?, in: Spektrum der Wissenschaft, (2011) 8, S. 76-83.

  2. Vgl. Manfred Bürger/Michael Buck/Günter Lohnert (guest eds.), Core melt accidents in LWRs - State of the Art of "Coolability of Porous Debris", Nuclear Engineering and Design, 236 (2006).

  3. Vgl. Current Status of "Roadmap towards Restoration from the Accident at Fukushima Daiichi Nuclear Power Station, TEPCO" (Revised edition), 17.8.2011, online: www.tepco.co.jp/en/press/corp-com/release/betu11_e/images/110817e3.pdf (29.9.2011).

  4. Vgl. Theofanis G. Theofanous, Risk, Severe Accidents and Thermohydraulics, in: Proceedings of the International Topical Meeting on Nuclear Thermal-Hydraulics, 10th International Topical Meeting on Nuclear Reactor Thermal Hydraulics (NURETH-10), Seoul, October 5-9, 2003.

Diplomphysiker, geb. 1946; Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit, Systeme und Umwelt (RSU) am Institut für Kernenergetik (IKE) der Universität Stuttgart, Pfaffenwaldring 31, 70569 Stuttgart. E-Mail Link: manfred.buerger@ike.uni-stuttgart.de

Dr.-Ing., geb. 1963; wissenschaftlicher Mitarbeiter am IKE (s.o.). E-Mail Link: michael.buck@ike.uni-stuttgart.de

Diplomphysiker, geb. 1963; wissenschaftlicher Mitarbeiter am IKE (s.o.). E-Mail Link: georg.pohlner@ike.uni-stuttgart.de

Dr.-Ing., geb. 1966; Professor für Kerntechnik und Reaktorsicherheit, Direktor des IKE (s.o.). E-Mail Link: joerg.starflinger@ike.uni-stuttgart.de