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Abkehr vom Klimaschutz? | Ende des Atomzeitalters? | bpb.de

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Abkehr vom Klimaschutz?

Konrad Kleinknecht

/ 15 Minuten zu lesen

Die erneuerbaren Energiequellen können 2020 nur etwa 30 Prozent unseres Strombedarfs decken. Für die verbleibenden 70 Prozent sind wir auf unsere Kohle- und Gaskraftwerke und die Kernkraftwerke der Nachbarn angewiesen.

Einleitung

Der überstürzte Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie hat schwerwiegende Folgen: Deutschland wird massiv Strom aus den Kernreaktoren der Nachbarländer Frankreich, Tschechien und der Schweiz importieren und viele Kohle- und Gaskraftwerke bauen müssen. Die Emissionen des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) werden ansteigen, und die Klimaziele der Regierung können nicht erreicht werden. Der Anstieg der Strompreise durch die Einspeisung der erneuerbaren Energien und den Zwang zum Kauf von CO2-Zertifikaten wird Deutschland als Standort für die energieintensiven Industriezweige benachteiligen und viele Arbeitsplätze gefährden.

Die deutsche Stromversorgung ruhte im Jahr 2010 auf zwei Säulen: der Kernenergie und der Verbrennung von Kohle und Erdgas. Hinzu kamen ein kleiner Anteil von zeitlich konstanter Energie aus Laufwasserkraftwerken und Biomasseverbrennung sowie zeitlich variable Anteile aus Windkraft und Photovoltaik (siehe Abbildung 1 der PDF-Version). Der Ausbau der erneuerbaren Energiequellen war erklärtes Ziel der Regierung, und die im September 2010 von ihr beschlossene Laufzeitverlängerung der Kernreaktoren gab den Energieversorgern die Möglichkeit, mit ihren Gewinnen Windkraftanlagen auf hoher See in großem Umfang zu finanzieren. Das Ziel, bis zum Jahr 2020 einen Anteil von 30 Prozent am Strombedarf durch erneuerbare Quellen bereitzustellen und gleichzeitig die CO2-Emissionen zu verringern, hätte damit erreicht werden können (siehe "Szenario A" in Abbildung 3 der PDF-Version).

Am 11. März 2011 bebten an der Ostküste der japanischen Insel Honshu die Erde und der Meeresboden. Das Beben der Stärke 9 und der darauf folgende Tsunami verursachten eine Havarie in den unmittelbar an der Küste gelegenen Kernkraftwerken von Fukushima. Das Erdbeben führte zur kontrollierten Abschaltung der Wärmeerzeugung in allen Reaktoren. Die Nachzerfallswärme wurde zunächst durch die anspringenden Notkühlsysteme abgeführt. 46 Minuten später traf eine 14 Meter hohe Welle auf die Küste, überspülte die zu niedrigen Schutzmauern und zerstörte Dieselgeneratoren und Kühlwasserpumpen. Durch den Ausfall der Kühlung schmolzen einige Brennstäbe im Inneren von drei der sechs Druckbehälter. Der größte Teil des radioaktiven Inventars blieb in den Sicherheitsbehältern, ein kleiner Teil wurde freigesetzt.

In Deutschland hat sich durch den Unfall in Japan sachlich nichts verändert. Die Sicherheit unserer Kernkraftwerke ist gleich geblieben, Tsunamis kommen nicht vor, Erdbeben sind tausendmal schwächer als in Japan, und gegen Flugzeugentführer helfen Passagierkontrollen und Vernebelungstrategien. Trotz der unveränderten Sicherheitslage in Deutschland empfand die Bundeskanzlerin die Katastrophe in Japan als "Einschnitt für die Welt und mich persönlich". Sie habe eine neue Bewertung vorgenommen. Kernenergieunfälle seien nicht sicher beherrschbar. Sie entschied, die sieben ältesten Kernreaktoren durch ein Moratorium sofort abzuschalten. Die Reaktorsicherheitskommission sollte die Sicherheit der Reaktoren überprüfen, und eine ad hoc von der Kanzlerin eingesetzte Ethikkommission sollte über den Ausstieg aus der Kernenergie beraten. Allerdings erklärte der Vorsitzende dieser Kommission, Klaus Töpfer, schon vor dem Beginn der Beratungen, das Ergebnis solle der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie sein. Die Kommission hat diese Empfehlung in ihrem Bericht auch ausgesprochen. Erstaunlich ist dabei, dass sie einerseits fordert, der Zeitrahmen für den Ausstieg müsse so bemessen sein, dass eine alternative Stromerzeugung aufgebaut werden kann, aber andererseits dafür einen engen Zeitrahmen von zehn Jahren empfiehlt. An keiner Stelle des Berichtes wird der Versuch unternommen, für diese kühne Forderung eine konkrete quantitative Begründung zu geben. Für die Umstellung unserer gesamten Stromversorgung und damit unserer Wirtschaft ist das ein unrealistisch kurzer Zeitraum, der weniger auf rationalen Überlegungen als auf dem Prinzip Hoffnung beruht.

Die Regierung und der Bundestag haben diesen Zeitrahmen übernommen, ohne die Folgen genau zu übersehen. Unter Zeitdruck konnte im Parlament und seinen Ausschüssen keine breite öffentliche Diskussion geführt werden, wie es bei einer so wichtigen Entscheidung angebracht gewesen wäre. Es fehlt eine belastbare empirische Begründung, um die Fragen nach der Versorgungssicherheit, der Finanzierbarkeit, den Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung und die soziale Verträglichkeit angemessen behandeln zu können. Im Gegensatz zu dem Ausstiegsplan der Regierung Schröder, der mit der Industrie abgestimmt war und von dieser als realisierbar eingeschätzt wurde, ist dieses Gesetz ohne Anhörung der Industrie und gegen sie beschlossen worden. Dadurch müssen die vier überregionalen Energieversorger große Vermögensverluste hinnehmen, die ihre Fähigkeit schwächen, in den Aufbau der erneuerbaren Energien und der benötigten fossilen Kraftwerke zu investieren.

Wie schnell können wir erneuerbare Energiequellen erschließen?

Gegenwärtig liefern Wasserkraft, Wind, Biomasse und Photovoltaik zusammen rund 17 Prozent unseres Strombedarfs, allerdings zu unregelmäßigen, vom Wetter abhängigen Zeiten. Die zu jeder Sekunde von der Industrie, Dienstleistern und den Privatkunden benötigte sichere Grundlast wird etwa je zur Hälfte von Braunkohle- und Kernkraftwerken bereitgestellt. Der Beitrag der erneuerbaren Energiequellen hat sich seit 1990 um 13 Prozent auf gegenwärtig 16,4 Prozent erhöht. Darunter tragen die Windkraft mit 6 Prozent und die Biomasse mit 5,4 Prozent den größten Anteil bei, während die Photovoltaik nur 1,9 Prozent und die Wasserkraftwerke unverändert 3,1 Prozent beisteuern. Der Anstieg wurde durch Investitionen in Milliardenhöhe und verdeckte Subventionen über garantierte Einspeisevergütungen nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) erreicht, die von 2,2 Milliarden Euro im Jahr 2002 auf 12,7 Milliarden im Jahr 2009 anstiegen.

Wenn die Geschwindigkeit des Ausbaus erneuerbarer Energiequellen gegenüber den vergangenen Jahrzehnten verdoppelt wird, so ist eine weitere Steigerung in den nächsten zehn Jahren auf 25 oder 30 Prozent denkbar. Der Zuwachs wird vorwiegend durch den Ausbau der Windkraft auf der offenen Nord- und Ostsee (offshore) erreicht werden. Im Binnenland gibt es nicht mehr genügend windreiche Standorte (siehe Abbildung 2 der PDF-Version). Als Pilotanlage wurde 2010 der Windpark Alpha Ventus nach vierjähriger Bauzeit fertig gestellt. Dort stehen zwölf 150 Meter hohe Türme, die jeweils fünf Megawatt Spitzenleistung liefern können. Die Investitionskosten beliefen sich auf 250 Millionen Euro, die jährliche Energieeinspeisung beträgt 250 Millionen Kilowattstunden (KWh) bzw. 0,25 Terawattstunden (TWh). Die Bundesregierung hat 20 Plätze in der Nord- und Ostsee für solche Windparks genehmigt, weitere 30 Standorte sind geplant. Um bis 2020 die Einspeisung der Windenergie auf 80 Milliarden KWh zu verdoppeln, müssen nach dem Plan des Bundesumweltministers insgesamt 2000 Turbinen im offenen Meer installiert werden. Dies sind 160 Windparks der Größe von Alpha Ventus. Es ist zweifelhaft, ob dieses riesige Projekt in zehn Jahren zu verwirklichen ist. Falls es gelingen sollte, liefern die Windparks soviel elektrische Energie wie acht große Kohlekraftwerke zum Investitionspreis von 40 Kohlekraftwerken. Für die technische Umsetzung, die bürokratische Genehmigung und den Aufbau der Seekabel zur Küste und der Hochspannungsleitungen von der Küste ins Binnenland werden nach Abschätzungen der Deutschen Energieagentur (dena) mindestens zehn Jahre Zeit benötigt. Auch die Finanzierung der großen Investitionssumme ist schwierig, da die großen Stromversorger durch den Ausstiegsbeschluss Verluste hinnehmen müssen.

Der Beitrag der Photovoltaik liegt trotz der enormen Subventionen durch die Einspeisungsgebühr des EEG im Jahr 2010 nur bei knapp zwei Prozent des Strombedarfs. Die auf 20 Jahre garantierten Einspeisevergütungen für die bis 2010 installierten Photovoltaikanlagen addieren sich auf 85,4 Milliarden Euro, die über den Strompreis finanziert werden. Die Ökobilanz der gegenwärtig eingebauten Solarpaneele aus dicken Siliziumschichten leidet darunter, dass das Silizium unter großem Elektrizitätsbedarf aus Quarzsand erschmolzen und anschließend in chemischen Verfahren zu hochreinem Solarsilizium umgewandelt werden muss. Der Energieaufwand der Paneele ist so hoch, dass die Rückgewinnung der Energie im sonnenarmen Deutschland jeweils drei bis fünf Jahre Betrieb erfordert. Günstiger wäre die Verwendung von Dünnschichtzellen aus Silizium, die Dünnschichttechnologie des CIGS-Materials oder die Cadmium-Tellur-Photovoltaik. Die deutschen Firmen haben diese alternativen Techniken nicht genügend weiterentwickelt, sodass die Kosten ihrer Module hoch geblieben sind und die asiatische Konkurrenz im deutschen Markt dominiert. Das EEG dient so dem Aufbau der Solarindustrie in Asien.

Sowohl die Windkraft wie die Photovoltaik liefern Strom nur für günstige Zeitperioden. Die volle Leistung erreichen Windkraftwerke an Land durchschnittlich während vier Stunden und im Meer während zehn Stunden am Tag, die Photovoltaik während zweieinhalb Stunden am Tag. Die konstant benötigte Grundlast an Strom für Industrie und Haushalte wird zurzeit je zur Hälfte von Braunkohle und Kernkraft getragen. Diesen Bedarf können die erneuerbaren Energiequellen für die nächsten 20 Jahre nicht zuverlässig liefern. Wie langsam ihr Ausbau verläuft, kann man an der Entwicklung der eingespeisten Energiemenge ablesen: Die Summe der Energiemengen aus Wasser, Wind, Biomasse und Photovoltaik stieg von 87 TWh im Jahr 2007 lediglich auf 102,3 TWh im Jahr 2010, das heißt von 14,1 Prozent auf 17 Prozent des Strombedarfs. Nur wenn sich der Trend des Ausbaus der erneuerbaren Energiequellen in den nächsten zehn Jahren verstärkt fortsetzt, kann die Marke von 30 Prozent der Stromerzeugung bis 2020 erreicht werden.

Hochspannungsleitungen und Speicherseen

Wenn die Leistung der an der Nordseeküste oder auf offener See installierten Windkraftwerke in Norddeutschland nicht abgenommen werden kann, muss sie nach Skandinavien exportiert werden, gegen Abnahmegebühr freilich. Für den Transport nach Süden fehlt es an Hochspannungsleitungen. Nach Berechnungen der dena ist der Bau von 3600 Kilometern solcher Höchstspannungsleitungen von Nord nach Süd notwendig. Die gegenwärtig geplanten Vorhaben werden von diversen Bürgerinitiativen bekämpft und von Verwaltungsgerichten um Jahre verzögert. Elektrischer Strom kann im nötigen Umfang nur in Pumpspeicherkraftwerken gespeichert werden. Der Neubau von Staudämmen ist heute in Deutschland nur noch in wenigen Fällen möglich, weil er dem Naturschutz zuwider läuft. Alternative Speichermöglichkeiten wie Batterien oder andere chemische Verfahren bieten keine genügend große Kapazität für die benötigte Menge an elektrischer Energie. Der Fortschritt in diesen Techniken war in den letzten 20 Jahren nicht groß genug.

Im Gegensatz zu der Schweiz oder Österreich verfügt Deutschland aber nur in den Mittelgebirgen über die nötigen Höhenunterschiede für solche Speicher. In Sachsen und im Schwarzwald liegen die leistungsfähigsten Anlagen, aber ihre Kapazität reicht bei weitem nicht aus, um den Speicherbedarf zu decken. Gegenwärtig haben alle Pumpspeicherkraftwerke im Süden eine Kapazität von 30 Millionen Kilowattstunden. Die Energie, die die 21585 Windkraftwerke an der Nord- und Ostseeküste in acht Stunden erzeugen, ist zehnmal größer. Der Ausbau der Speicher im Süden hätte also höchste Priorität. Allerdings stößt das einzige Großprojekt für solche Speicher, die Erweiterung des Schluchseekraftwerks bei Atdorf auf Widerstand der Anwohner. In den nächsten zehn Jahren wird in Deutschland also höchstens ein neues Pumpspeicherwerk gebaut werden.

Deshalb muss für jedes Wind- oder Solarkraftwerk ein fossiles Tandem-Kraftwerk gebaut werden, das als Reserve für den Stillstand der erneuerbaren Energiequelle dient. Besonders geeignet als schnell aktivierbare Stromquellen sind Gas- oder GuD-Kraftwerke (Gas- und Dampfkraftwerke).

Ersatz für die ausfallenden Kraftwerke?

Die erneuerbaren Energiequellen werden im Jahre 2020 zwischen 25 und 35 Prozent unseres Strombedarfs abdecken, zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten. Alle realistischen Prognosen ergeben solche Resultate. Wie sollen in den nächsten zehn Jahren die restlichen 70 Prozent unseres Strombedarfs gedeckt werden? Da die Kernkraftwerke vom Netz gehen, müssen mehr als 20 Kohle- und Gaskraftwerke gebaut werden, besonders im Süden.

Da sowohl der Ausbau der Hochspannungstrassen von Nord nach Süd als auch der Bau neuer Pumpspeicherkraftwerke im Süden durch Bürgerinitiativen verzögert wird, ist es nicht sicher, ob der beabsichtigte Ausbau der Windkraft im Norden dem Süden des Landes helfen kann. Es zeigt sich eine regionale Asymmetrie: Die leistungsfähigen Industriestandorte in den Ländern Bayern, Baden-Württemberg und Hessen, die bisher mehr als 50 Prozent ihrer elektrischen Energie aus Kernkraftwerken bezogen, können die Grundlast ihrer Stromversorgung nur zum kleinen Teil aus erneuerbaren Energiequellen ersetzen. Windkraft im Süden ist wesentlich weniger ertragreich als an der Küste oder auf dem Meer, weil die Leistung solcher Anlagen mit der dritten Potenz der mittleren Windgeschwindigkeit abnimmt. Steht eine Windkraftanlage also in einem Gebiet, in dem die mittlere Windgeschwindigkeit halb so groß ist wie an der Küste, dann entspricht ihre Leistung nur einem Achtel einer gleichwertigen Anlage in Küstennähe.

Die südlichen Länder sind also nach der Abschaltung ihrer Kernkraftwerke darauf angewiesen, auf importierten Strom aus Tschechien, Frankreich und der Schweiz auszuweichen und neue fossile Kraftwerke zu bauen. Die derzeit im Bau befindlichen elf Kohlekraftwerke und die weiteren elf geplanten liegen allerdings hauptsächlich im Norden und Westen. Um höchste Wirkungsgrade zu erzielen, sind die Hochleistungskessel für 600 Grad Celsius Dampftemperatur und 280-fachen Atmosphärendruck ausgelegt, sie bestehen aus einer neu entwickelten Stahlsorte. Bei drei der neun im Bau befindlichen Kraftwerke haben sich bei diesen neuen Kesseln undichte Stellen in den Schweißnähten gebildet, die Nachbesserungen oder einen kompletten Austausch des Kessels erfordern und eine Verzögerung von ein bis zwei Jahren verursachen.

In Bayern sind im Augenblick nur Pläne für Gaskraftwerke mit russischem Gas bekannt. Der Einsatz von Flüssiggas aus Katar ist noch nicht möglich, da kein deutscher Hafen zum Gasterminal ausgebaut worden ist. Die Kohle für Kraftwerke im Süden muss beispielsweise aus Australien über den Rhein oder das Schwarze Meer und die Donau transportiert werden. Die Versorgung Süddeutschlands ist mittelfristig ungesichert.

Ist Klimaschutz noch möglich?

Hauptverursacher des anthropogenen Treibhauseffektes ist CO2, das bei der Verbrennung von Kohle, Öl oder Erdgas entsteht. Jährlich entweichen weltweit 33 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre, die so zum Endlager für dieses Treibhausgas wird. Die weltweiten Emissionen nehmen auch nach dem Abschluss des Kyoto-Protokolls von 1997 unvermindert zu, weil die größten Emittenten China, USA und Indien dem Protokoll nicht beigetreten sind und auch die übrigen Schwellenländer ihre Energieversorgung vorwiegend auf der Basis von Kohlekraftwerken ausbauen. Entsprechend stieg auch die CO2-Konzentration in der Atmosphäre auf den gegenwärtigen Wert von 395 ppmv (parts-per-million by volume, Volumenanteile pro eine Million Luftmoleküle). Deutschland ist für etwa drei Prozent der Emissionen verantwortlich. Die größten Beiträge kommen aus China und den USA, die jährlich sieben bzw. sechs Milliarden Tonnen CO2 emittieren. Eine Lösung des Klimaproblems wird nur gelingen, wenn diese beiden Großmächte ihre Emissionen merklich reduzieren. Dafür gab es aber bei der jüngsten Klimakonferenz der Vereinten Nationen 2010 in Cancún keine Anzeichen.

Die Europäische Union (EU) hat sich trotzdem das Ziel gesetzt, den CO2-Ausstoß bis zum Jahr 2020 gegenüber 1990 um 20 Prozent zu senken. Deutschland muss dafür am stärksten reduzieren, weil es im Vergleich zu allen anderen europäischen Ländern am meisten CO2 produziert. Auch wenn man die Emissionen auf die Zahl der Einwohner bezieht, liegt Deutschland in Europa an der Spitze. Die Bundesregierung plante daher im Herbst 2010, den Ausstoß bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent zu senken (siehe "Plan BMU" in Abbildung 3 der PDF-Version).

In Deutschland sind Braunkohle- und Steinkohlekraftwerke mit mehr als 300 Millionen Tonnen jährlich etwa für ein Drittel der CO2-Emissionen verantwortlich. Zusammen mit den Erdgaskraftwerken liefern sie mehr als die Hälfte unseres Stroms (siehe Abbildung 1 der PDF-Version). Weitere große Mengen an Kohlendioxid kommen aus den Wohnungsheizungen und aus dem Verkehr (jeweils über zehn Prozent). Beide Anteile können schrittweise gesenkt werden. Die bessere Wärmedämmung bei Neubauten und die energetische Altbausanierung von rund 200000 Wohnungen pro Jahr reduzieren den Ausstoß allerdings noch nicht genug. Bei gleichbleibender Rate dauert die Renovierung des Bestandes länger als 100 Jahre. Beim Verkehr werden die Verbrauchsbegrenzungen durch die EU zu einer langsamen Effizienzsteigerung führen. Elektroautos tragen jedoch nur dann zur Emissionsminderung bei, wenn der Strom zum Aufladen der Fahrbatterien aus Kernkraftwerken oder erneuerbaren Energiequellen kommt. Klimapolitisches Ziel muss es sein, neben diesen Maßnahmen zur Energieeinsparung und Effizienzsteigerung die Emission von Treibhausgasen bei der Stromerzeugung abzusenken.

Seit 1990 haben die CO2-Emissionen in Deutschland abgenommen, wobei der Rückgang zur Hälfte auf dem Niedergang der Industrie in den östlichen Bundesländern beruht. Lässt man den Anteil der vereinigungsbedingten Reduktionen in den Jahren 1990 und 1991 weg, sanken in den Jahren von 1992 bis 2004 die CO2-Emissionen zwar gleichmäßig, aber jährlich nur noch um 0,6 Prozent. Das kann auf die zunehmende Einspeisung von Windstrom zurückgeführt werden, unter Beibehaltung des Anteils der Kernenergie. Eine größere Abnahme gab es auch durch die Finanzkrise und die folgende Rezession der Wirtschaft 2008/2009 (siehe Abbildung 3 der PDF-Version).

Die Bundesregierung wollte schon im "Nationalen Klimaschutzprogramm" vom Oktober 2000 den CO2-Ausstoß bis zum Jahr 2005 um 25 Prozent vermindern. Diese Marke wurde jedoch nicht erreicht (siehe "Plan rot-grün" in Abbildung 3 der PDF-Version). Im Herbst 2010 plante der Bundesumweltminister eine Minderung der Emissionen auf 610 Millionen Tonnen im Jahr 2020. Seit dem Ausstieg aus der CO2-freien Kernenergie sind all diese Ziele hinfällig. Trotz optimaler Förderung werden die erneuerbaren Energiequellen bis zum Jahr 2020 nur etwa 30 Prozent unseres Strombedarfs decken können. Deshalb sind wir dann für die verbleibenden 70 Prozent auf die fossilen Verbrennungskraftwerke und den Stromimport aus unseren Nachbarländern angewiesen. Außerdem müssen fossile Kraftwerke als Reservekapazität für die zeitlich variable Stromeinspeisung der Wind- und Solaranlagen bereitgehalten werden.

Der nötige Neubau von Kohle- und Gaskraftwerken bedingt eine Steigerung des CO2-Ausstoßes. Die geplanten 22 neuen Kohlekraftwerke mit etwa 20 Gigawatt Leistung emittieren jährlich 90 Millionen Tonnen Kohlendioxid. Da es die Versorgungssicherheit nicht gestattet, alte, ineffiziente Kohlekraftwerke abzuschalten, steigen die jährlichen deutschen CO2-Emissionen durch die Neuanlagen entsprechend. Das verletzt die deutschen Klimaschutzziele innerhalb der EU und des Kyoto-Protokolls.

Deshalb wird versucht, das erzeugte CO2 chemisch abzuscheiden und in unterirdische Endlager zu bringen, statt es in die Atmosphäre zu entlassen (CCS: Carbon Dioxide Capture and Storage). Alle diese Prozesse haben den Nachteil, dass für die Abscheidung des Kohlendioxids und die anschließende Verdichtung vor dem Transport etwa ein Viertel des vom Brennstoff erzeugten Stroms verbraucht wird. Dadurch reduziert sich der effektive Wirkungsgrad des Kraftwerks, und der Brennstoffeinsatz erhöht sich um 30 Prozent. Schließlich müssen die vermehrten CO2-Rückstände, etwa 400 Millionen Tonnen pro Jahr, sicher und dauerhaft in der Erde "endgelagert" werden.

Eine hinreichend große Speicherkapazität bieten sogenannte Salzwasseraquifere. Solche porösen Schichten, die Wasser führen, finden sich zum Beispiel in Norddeutschland in einer Tiefe von 1000 Metern. Dort müsste eine große technische Infrastruktur aufgebaut werden, um täglich eine Million Tonnen CO2-Abfall von den Kraftwerken zu den Lagerstätten zu transportieren, unter 70-fachem Atmosphärendruck einzupressen und für Tausende von Jahren sicher zu speichern. Die Endlagerung birgt jedoch Risiken. Denn es ist unklar, ob die Milliarden Tonnen CO2 mit der Zeit nicht doch in die Atmosphäre diffundieren können. Der Bundestag hat im Juni 2011 ein Gesetz verabschiedet, das die Einlagerung von flüssigem CO2 in tiefen Schichten ermöglicht. Allerdings enthält das Gesetz eine Veto-Klausel für die betroffenen Bundesländer, und zwei dieser Länder haben schon beschlossen, die Endlagerung nicht zuzulassen. Am 23. September 2011 lehnte der Bundesrat das Gesetz ab. Das CCS-Verfahren wird deshalb für das Erreichen der Klimaziele bis 2020 keinen Beitrag leisten.

Für die mittelfristige Entwicklung in Deutschland bis zum Jahr 2020 bleibt nach dem Beschluss, aus der Kernenergie auszusteigen, von den in den vergangenen Jahren diskutierten Alternativen nur noch das "Szenario B" in Abbildung 3 (siehe Abbildung 3 der PDF-Version) übrig:

  • Der Ausbau der erneuerbaren Energien wird weiter gefördert. Sie erreichen bis 2020 einen Anteil von 30 Prozent an der Stromerzeugung. Die Kernkraftwerke werden nach und nach abgeschaltet. Die entstehende Versorgungslücke wird zum kleineren Teil durch den Zuwachs der erneuerbaren Energiequellen und zum überwiegenden Teil durch den Neubau fossiler Kohle- und Gaskraftwerke und den Stromimport aus Frankreich, Tschechien und der Schweiz gedeckt.

  • Die Energiekonzerne planen als kostengünstigste Art der Stromerzeugung 22 neue Braunkohle- und Steinkohlekraftwerke mit einer Gesamtleistung von etwa 20 Gigawatt für die Grundlast.

  • Zum kurzfristigen Ausgleich von zeitlich schwankenden Stromquellen werden effiziente GuD-Kraftwerke gebaut. Die Hälfte der benötigten Gasmenge wird aus Russland geliefert. Russische Gaslieferanten beteiligen sich an deutschen Energieunternehmen.

  • Der Anteil fossiler Kraftwerke an der Stromerzeugung steigt auf etwa 70 Prozent.

  • Die fossilen Kraftwerke in Deutschland werden durch die CO2-Emissionszertifikate innerhalb der EU mit rund neun Milliarden Euro im Jahr belastet, während in Frankreich die Industrie keine solche Belastung übernehmen muss.

  • Der Strompreis in Deutschland steigt weiter; relativ zu Frankreich ist er zur Zeit (Steuern eingerechnet) schon um 70 Prozent höher.

Vom "Vorreiter" zum Nachzügler

Die Bundesregierung betrachtete sich bisher als Vorreiter der Klimapolitik. Nun wird sie von der Realität eingeholt: Durch die Energiewende werden die CO2-Emissionen in zehn Jahren voraussichtlich um 90 Millionen Tonnen pro Jahr höher sein als heute. Dieser Anstieg kann durch die Klimaschutzmaßnahmen in anderen Sektoren höchstens zu einem Drittel kompensiert werden. Deutschland steigert seine Emissionen und bleibt der größte CO2-Emittent Europas, sowohl nach dem absoluten Betrag wie nach den Emissionen pro Einwohner. Die Klimaziele innerhalb der EU sind so nicht erreichbar.

Deutschland reiht sich damit als Nachzügler in die Liste der Länder ein, die keine verbindlichen Ziele zur Reduktion der Treibhausgase akzeptieren und keinem Folgeabkommen zum Kyoto-Protokoll ab 2013 beitreten werden: China, USA, Russland, Indien, Japan und Kanada.

Nicht nur das Klimaproblem, sondern viele andere Fragen werden durch die deutsche Energiewende neu aufgeworfen und sind ungelöst: Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit, Auswirkungen auf Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit. Sie harren einer realitätsnahen Antwort.

Dr. rer. nat., geb. 1940; Professor für Physik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Staudingerweg 7, 55128 Mainz. E-Mail Link: konrad.kleinknecht@uni-mainz.de