Einleitung
Die Anfänge der bundesdeutschen Anti-AKW-Bewegung reichen heute über 40 Jahre zurück. Der Höhepunkt des Atomkonflikts fällt in die späten 1970er Jahre. In der Folgezeit sah es oft so aus, als sei die Protestbewegung bereits ein Phänomen der Vergangenheit; wider Erwarten sprang sie aber auch auf jüngere Generationen über und flammte bei Gelegenheit immer neu auf.
Nach den Reaktorkatastrophen von Tschernobyl am 26. April 1986 und von Fukushima am 11. März 2011 - in beiden Fällen war es zuvor um die Kernenergie äußerlich schon relativ still geworden - war die alte Protestszenerie schlagartig wieder da, und jedes Mal zeigte sich, dass die Kritik an der Kernkraft weit über den inneren Zirkel der Gegner hinausreichte. Viele Anti-AKW-Streiter glaubten sich lange auf verlorenem Posten; aber wie es heute aussieht, haben sie gesiegt.
Fragen aus der Distanz
Die Antiatomkraftbewegung ist längst nicht so gut erforscht, wie man in Anbetracht ihrer historischen Tragweite und faszinierenden Neuartigkeit erwarten könnte. Zentrale Fragen stellen sich erst aus einer gewissen Distanz: aus der zeitlichen Ferne; aus dem Vergleich mit anderen Ländern und aus dem Gesamtüberblick über die ganze Vielfalt der Umweltbewegung. Was war an dieser Protestbewegung typisch deutsch, was findet sich auch in anderen Ländern, und wie erklärt sich eine etwaige bundesdeutsche Besonderheit? Wie ist es angesichts der Vielfalt der Umweltprobleme zu erklären, dass sich der Protest immer wieder auf die Kernkraft konzentrierte? Gibt der historische Verlauf Aufschlüsse darüber, wieweit dieser Protest rationale Wurzeln hatte oder eher irrationalen Ängsten und ideologischen Voreingenommenheiten entsprang? Liegt der wahre Ursprung bei der Studentenrevolte von 1968? Oder noch weiter zurück bei dem Protest gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr? Wieweit resultierte der Elan der Antiatomkraftbewegung aus bestimmten Feindbildern, wie stand es mit der Gewaltbereitschaft? Gab es in dieser Bewegung unterschiedliche Phasen und Lernprozesse - und auch Prozesse des Vergessens? Auf welche Weise gelangte der Anti-AKW-Protest über den Tellerrand einer selbstbezogenen Szene hinaus? Öffnete er die Augen für ein breites Spektrum von Umweltgefahren, oder erzeugte er eher eine Monomanie, die ihn von anderen Umweltinitiativen isolierte? Auf viele dieser Fragen gibt es auf dem derzeitigen Forschungsstand nur vorläufige Antworten.
Prähistorie: Von Bodega Bay bis Würgassen
Selbst in den USA geriet später nahezu in Vergessenheit, dass die Antiatomkraftbewegung amerikanischen Ursprungs war. In den USA kulminierte der Konflikt bereits in den 1960er Jahren. Dort gab es einen direkten Übergang von der Protestbewegung gegen Atomwaffentests zu den Protesten gegen zivile Kernkraftwerke. Die erste erfolgreiche Anti-AKW-Initiative der Welt begann 1958 in Kalifornien und richtete sich gegen das Kernkraftprojekt an der Bodega Bay nördlich von San Francisco. Am Anfang stand die Sorge um die Schönheit dieser Bucht; aber dann brachte ein Insider die Widerständler auf die dortige Erdbebengefahr, und dieses Argument erwies sich als durchschlagend. Diese längst vergessene Geschichte gibt gerade nach Fukushima zu denken: Anders als in Japan, wo man glaubte, im erdbebensicheren Bauen Weltspitze zu sein, übte in Kalifornien das Erdbeben von 1906, das einen Großteil von San Francisco zerstört hatte, nach wie vor abschreckende Wirkung aus.
Längst in Vergessenheit geraten ist heute auch das Faktum, dass die ersten europäischen Großdemonstrationen gegen geplante Kernkraftwerke - dort freilich erfolglos - 1971 in Frankreich stattfanden und in französischen Traditionen der action directe standen: die Bauplatzbesetzung am 12. April 1971 im elsässischen Fessenheim und kurz darauf eine noch weit größere Massendemonstration am Reaktorbauplatz von Bugey an der Rhône. Am 28. Dezember 1971 trafen sich in Straßburg Vertreter von etwa 50 Antikernkraftinitiativen aus verschiedenen Ländern; eine antinukleare Internationale war im Entstehen. Noch immer kamen dabei wichtige Anstöße aus den USA. David Brower (1912-2000), eine charismatische Gestalt der amerikanischen Bewegung zum Schutz der Wildnis, gründete 1969 mit Friends of the Earth die erste internationale Umweltorganisation. Fern der bisherigen Wildnis-Romantik konzentrierte sich diese auf den Kampf gegen die Kerntechnik.
Brower gab die berühmt gewordene Parole think globally - act locally aus. Es ist eine scheinbar paradoxe Parole, die längst nicht für alle Aktionsfelder des Umweltschutzes taugte; beim Kampf gegen die Kernkraft dagegen ergab sie Sinn. Denn da kam es ganz entscheidend auf Wissen an, und da besaßen die amerikanischen Kernkraftkritiker einen Informationsvorsprung; ohne diesen drohten anderswo Anti-AKW-Initiativen in einem Hinterwäldlertum stecken zu bleiben. Auf amerikanische Informationen gestützt, verfasste Holger Strohm, der Gründer der bundesdeutschen Sektion der Friends of the Earth, das erste umfangreiche deutschsprachige Kompendium von Anti-AKW-Argumenten, das in seinen späteren, stets erweiterten Auflagen Bibelformat erlangte. Lokalen Protest hatte es in der Bundesrepublik schon gegen den Bau der ersten kleinen Versuchsreaktoren in den späten 1950er Jahren gegeben; dieser war jedoch von der überregionalen Presse nicht ernst genommen worden. Mit dem neuen Argumenten-Arsenal erreichte der Protest nun eine breitere Öffentlichkeit.
Den Übergang von der Prähistorie zum Hauptstrom der Antiatomkraftbewegung markiert in der Bundesrepublik der Protest gegen das seit 1968 im Bau befindliche Kernkraftwerk Würgassen an der Oberweser. Dieser verfügte bereits über Insiderinformationen, die von dem Chemie-Ordinarius und SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Bechert stammten, der von 1962 bis 1965 den Bundestagsausschuss für Atomenergie geleitet hatte. Materielle und ideelle Unterstützung erhielten die Aktivisten vom Arzt und Naturheiler Max-Otto Bruker, der dem konservativen Weltbund zum Schutze des Lebens vorstand. Am 12. Juli 1968 veröffentlichte Bruker in der linksstehenden "Deutschen Volkszeitung" (Düsseldorf) einen Brandartikel "Der Notstand der Demokratie - aufgezeigt am Kernkraftwerk Würgassen": Es war ein Fanfarenstoß gegen die zivile Kerntechnik, wie es ihn bis dahin in der deutschen Presselandschaft nicht gegeben hatte. Am Fall Würgassen - so Bruker - ließen "sich wie an einem Schulbeispiel die Methoden ablesen, wie durch Nachrichtensperre, bewusste systematische Fehlinformationen, Verbreitung unwahrer Angaben und diktatorische Maßnahmen das Prinzip der Demokratie zur Farce gemacht" werde.
Der Kampf gegen das Würgassen-Projekt wurde jedoch noch nicht im Stil der 68er mit Happenings und Massendemonstrationen, sondern vorwiegend mit juristischen Mitteln geführt; die Leitung der Bürgerinitiative lag bei dem Karlshafener Rechtsanwalt Horst Möller. Er bewirkte zwar keinen Baustopp - erst nach der Inbetriebnahme desavouierte sich dieser Siedewasserreaktor durch seine häufigen Pannen -, aber erreichte immerhin 1972 das "Würgassen-Urteil" des Bundesverwaltungsgerichts. Dieses legte das den bis dahin doppelgesichtigen Paragraphen 1 des Atomgesetzes von 1959, der die Förderung der Kerntechnik und Gewährleistung der Sicherheit gleichrangig nebeneinanderstellte, nunmehr im Sinne eines Vorranges der Sicherheit aus. Damit war für künftige Kernkraftgegner ein gewichtiges juristisches Potenzial geschaffen, das freilich erst durch den "Kampf ums Recht" zu aktivieren war. Die Gerichte wurden ein wichtiger, wiewohl von den Medien wenig beachteter Nebenschauplatz des Atomkonflikts. Das gilt auch für den Kampf um das geplante Kernkraftwerk Wyhl am Oberrhein, mit dem die Kontroverse schlagartig eskalierte.
Von Wyhl bis Gorleben
Am 18. Februar 1975 besetzten mehre hundert Mitglieder einer seit 1972 bestehenden Bürgerinitiative (Oberrheinisches Aktionskomitee gegen Umweltgefährdung durch Kernkraftwerke) den Bauplatz des geplanten Kernkraftwerks Wyhl: Damit wurde erstmals die Schwelle zur illegalen Aktion überschritten; und in diesem Fall führte der Widerstand am Ende zum Erfolg. Es waren Bauern und Winzer aus der Region - Beobachtern fiel der große Anteil der Frauen auf - sowie Studenten der nahe gelegenen Universität Freiburg, die sich auf dem Bauplatz sammelten: eine in der bundesdeutschen Protestgeschichte bis dahin ungewohnte Allianz. Ein Kuriosum besteht aus späterer Sicht darin, dass auch ein lokaler Jägerverein den Widerstand unterstützte. Die Bauern fanden ihr Vorbild nicht so sehr in den linken Studenten, sondern mehr in den Aktionen ihrer elsässischen Stammesverwandten auf der anderen Seite des Rheins, die damals gerade erfolgreich gegen den Bau eines Bleichemiewerks kämpften.
Vor allem als zwei Tage nach der Besetzung 650 Polizisten mit Wasserwerfern den Bauplatz stürmten, obwohl sich die Besetzer gewaltlos verhielten, rückte der Protest in die Hauptschlagzeilen, und allenthalben wogte den Widerständlern eine Welle spontaner Sympathie entgegen. Am 23. Februar strömten am gleichen Ort an die 28000 Atomkraftgegner zusammen, teilweise aus Frankreich und aus der Schweiz, besetzten das Baugelände nach einem Handgemenge mit der Polizei erneut und gründeten dort das erste deutsche Anti-AKW-Camp. Sie erzielten einen prompten Teilerfolg: Am 21. März 1975 hob das Verwaltungsgericht Freiburg die Teilerrichtungsgenehmigung auf und bewirkte einen vorläufigen Baustopp. Das gleiche Gericht verfügte am 14. März 1977, dass das geplante Kernkraftwerk nur bei Ummantelung mit einem "Berstschutz" errichtet werden dürfte, der auch dann, wenn bei einem Störfall alle anderen Sicherheitsvorkehrungen versagten, das Entweichen radioaktiver Substanzen in die Umwelt verhinderte. Das war ein mutiger Vorstoß der Freiburger Richter, dem andere Amtskollegen vorerst nicht folgten. Da der Berstschutz die Anlage ganz erheblich verteuert hätte, verlor das Energieunternehmen das Interesse an dem Projekt.
Nicht ohne Pikanterie ist die Frage, wie die Richter auf die Berstschutz-Auflage kamen. Diese besaß eine in der Öffentlichkeit kaum bekannte Vorgeschichte. Der Chemiekonzern BASF hatte ab 1967 ein firmeneigenes Kernkraftwerk bei Ludwigshafen projektiert, also in unmittelbarer Nähe eines städtischen Ballungsraumes. Das überkreuzte sich mit Plänen der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerk AG (RWE), die nicht weit davon, bei Biblis, den damals größten Kernkraftwerkskomplex der Welt plante. Heinrich Mandel, der kommende "Atompapst" des RWE, machte das Bundesforschungsministerium darauf aufmerksam, dass man in den USA dahin gelangt sei, Kernkraftwerke nicht in Großstadtnähe zu errichten. Zunächst wurde dem BASF-Projekt ein Berstschutz zur Auflage gemacht, dann legte Forschungsminister Hans Leussink ein gänzliches Veto ein. Die BASF-Spitze schäumte über die "barbarische Brutalität des RWE". Leussink prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des "Restrisikos", das durch die bisherigen Sicherheitsvorkehrungen nicht abgedeckt sei. Die Freiburger Richter argumentierten logisch, dass den Bauern am Oberrhein das gleiche Recht auf Schutz zustände wie den Städtern des Großraums Mannheim-Ludwigshafen. So gesehen, stand kein anderer als der "Atompapst" am Anfang des Anti-AKW-Protests: eine Ironie der Geschichte, von der die Öffentlichkeit nichts ahnte!
Dem Drama um das Ludwighafen-Projekt war 1966 ein Drama in den USA vorausgegangen, das einer der Beteiligten, David Okrent - damals Mitglied des Advisory Committee on Reactor Safeguards - später als "Revolution" in der Beurteilung der Sicherheit von Leichtwasserreaktoren charakterisierte: Versuche hatten Zweifel daran erweckt, ob bei einem "Durchgehen" des Reaktors auf die für diesen Fall installierte Notkühlung Verlass ist. Mit Hinweis darauf wurde das Kernkraftprojekt Ravenswood in der Nähe von New York gestoppt. Dies markierte eine Zäsur in der Geschichte der Kernenergie, deren Fernwirkung gar nicht überschätzt werden kann. Bis dahin hatten es gerade viele "progressive" Intellektuelle für einfältig gehalten, die zivile Atomkraft mit der Atombombe zu assoziieren, und die Einsicht für aufgeklärt und fortschrittlich geglaubt, dass das "friedliche Atom" mit seiner gebremsten Kettenreaktion geradezu eine Gegenwelt zur Bombe sei. Fortan sickerte jedoch mehr und mehr die Sorge durch, dass auf die Abbremsung der Kettenreaktion durch die "Moderatoren" in Kernkraftwerken kein absoluter Verlass und daher die Assoziation des Atoms mit der Bombe eben doch kein purer Aberglaube sei. Um die Genese der Anti-AKW-Bewegung zu verstehen und gerade auch ihre Rationalität zu begreifen, muss man auch diesen Wissenstransfer beachten und darf die Bürgerbewegungen nicht nur als soziale Phänomene ins Visier nehmen.
Der Gedanke an den "Super-GAU", die über den (angeblich) beherrschbaren "größten anzunehmenden Unfall" noch hinausgehende Katastrophe, gab dem Protest gegen die Kernkraft eine neue Radikalität. Jetzt konnte er ähnliche Emotionen aufrühren wie zuvor der Protest gegen die Atomwaffen. In dieser Situation machte auch die studentische Linke mobil, die mit dem Ende des Vietnamkrieges und der neuen Ostpolitik ursprüngliche Zielobjekte verloren hatte. Diejenigen 68er, die ihr Handeln theoretisch begründen wollten und nicht einfach mitmachten, wenn irgendwo gegen irgendwas demonstriert wurde, taten sich allerdings mit der Wende gegen die Kernkraft nicht leicht. Denn im Neomarxismus jener Zeit war noch folgende Denkfigur verbreitet: Der gesellschaftliche Fortschritt wird durch den Fortschritt der Produktivkräfte vorangetrieben und dieser beruht auf fortschreitender Verwissenschaftlichung; daher sind fortan die Intellektuellen die revolutionäre Avantgarde, und aus dem gleichen Grund steht die Kerntechnik als die "wissenschaftlichste" Technik an der Spitze des Fortschritts. Rudi Dutschke, die Ikone der Studentenbewegung, hatte den Philosophen Ernst Bloch geschätzt, dessen Schwärmerei für die Segnungen des "friedlichen Atoms" selbst die Propaganda der Atomlobby übertroffen hatte und der den "latenten Maschinensturm des Spätkapitals" dafür anklagte, dass er diese famose Kraftquelle nicht energisch genug forciere. Noch im März 1977 seufzte Dutschke in seinem Tagebuch: "die ganze Atom- und Massenmobilisierung in B(rokdorf) und I(tzehoe) bereitet mir theore(tische) und politische Schwierigkeiten 'Old Surehand II' mit und für die Kinder zu lesen ist leichter."
Kein Zweifel: Das Engagement vieler 68er gegen die Kernkraft entsprang keiner panischen Angst, sondern vollzog sich in nicht wenigen Fällen über mühsame Lernprozesse, getrieben von dem Wunsch, endlich den Kontakt zur "Basis", zu den breiten Massen zu finden, den man um 1968 vergeblich gesucht hatte. Dabei waren DKP-nahe Gruppen durch ihre Verbindungen zur DDR blockiert; denn dort war und blieb die Kerntechnik für Kritiker tabu. Am hemmungslosesten konnten maoistische K-Gruppen ihren Radikalismus gegen die Atomkraft austoben; denn Kernkraftwerke wurden in der Regel in abgelegenen bäuerlichen Gebieten errichtet, wo sie das Landleben störten; und das Kampfbündnis mit den Bauern besaß einen maoistischen Zug. Aber unter bundesdeutschen Verhältnissen bestand es doch vorwiegend in der Phantasie. Bauern blockierten zwar Zufahrtsstraßen mit Treckern, wurden jedoch durch förmliche Schlachten mit Polizeieinheiten, wie sie sich vor allem 1977 bei den Bauplätzen von Brokdorf und Grohnde abspielten, nur abgeschreckt.
Das Bündnis von Wyhl, als Studenten und Winzer zusammen aushielten, wurde zur romantischen Erinnerung, die von einer ganzen Flut von Literatur beschworen wurde; aber durch die Gewalttätigkeit der K-Gruppen drohte die breite Allianz zu zerfallen. Die bürgerkriegsartigen Kampfszenen am Bauzaun von Kernkraftwerken faszinierten zwar die Medien, erweckten jedoch nicht die Sympathie der Gerichte; dort blieb der Protest gegen Brokdorf und Grohnde ohne Erfolg. Obwohl die Brutalität mancher Polizeieinheiten selbst bei friedlichen Kernkraftgegnern zeitweise eine wilde Wut hervorrief, setzte sich doch immer wieder - ob offen oder unausgesprochen - der Grundsatz der Gewaltfreiheit durch. Wie sich mehr und mehr zeigte, standen die Kernkraftgegner eben doch nicht auf verlorenem Posten. Das Horrorszenario eines verzweifelten Kampfes um das nackte Leben gegenüber einem erbarmungslosen "Atomstaat" - so der Titel eines Bestsellers von Robert Jungk (1977) - erwies sich als ähnlich theatralische Phantasie wie zehn Jahre davor der Kampf gegen eine vermeintliche "Refaschisierung" der Bundesrepublik durch den "Nazi Kiesinger" mittels der Notstandsgesetze.
Zum historischen Höhepunkt der deutschen Antiatomkraftbewegung wurde der Widerstand gegen das Gorleben-Projekt, den Plan der damals größten Wiederaufarbeitungsanlage der Welt. Unter der Parole "Gorleben soll leben" setzten sich die Anhänger der Gewaltfreiheit durch; wie bei Wyhl kam eine Gemeinsamkeit mit vielen Bauern der Region zustande, und mehr noch als dort wurde der Kampf gegen das Atomprojekt im abgelegenen Wendland zugleich ein Kampf für die Erhaltung einer noch relativ urwüchsigen Landschaft. Im Wendland wurde die Anti-AKW-Bewegung, der es zunächst lediglich um technische Sicherheit gegangen war, zu einer "Umweltbewegung" im vollen Sinne. Die "Freie Republik Wendland", wo man im Wald mit "alternativen" Lebensformen experimentierte, wurde zur grünen Legende.
Wendezeiten: Verbindung von Antiatomkraft- und Friedensbewegung
Aber auch auf anderen Ebenen spielte sich Entscheidendes ab: Als den großen Wendepunkt im Atomkonflikt kann man das internationale Gorleben-Symposium in Hannover Ende März 1979 ansehen, das zeitlich mit dem Störfall von Harrisburg und der bis dahin größten Anti-AKW-Demonstration zusammenfiel. Das Symposium brachte eine neue Qualität in die Kontroverse; man gelangte über einen stereotypen Schlagabtausch mit immer gleichen Argumenten hinaus, und die Front der Kernenergiebefürworter begann zu zerbröckeln. Am Ende zog der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht das Gorleben-Projekt in seiner ursprünglichen Dimension gar als "politisch nicht durchsetzbar" zurück. Der Projektleiter stöhnte auf, das sei das "Cannae" der deutschen Atomwirtschaft. In der Energiewirtschaft dagegen kursierte später das Bonmot, im Grunde müsse man den Gegnern dankbar sein, da man durch sie vor der größten Fehlinvestition der Geschichte bewahrt worden sei. Das Symposium hatte unter Vorsitz von Carl Friedrich von Weizsäcker getagt, der - aus der Atomphysik kommend - als höchste geistige Autorität der atomaren community galt. Aber selbst er ging auf Distanz zur Kerntechnik, vor allem mit Blick auf das Terrorismusrisiko.
Zur Wendezeit wurden die Tage von Harrisburg und Hannover auch dadurch, dass am 29. März 1979 die Bundestags-Enquête "Zukünftige Kernenergiepolitik" unter Vorsitz des jungen SPD-Abgeordneten Reinhard Ueberhorst, der bei einer Demonstration in Brokdorf verletzt worden war, ihre Arbeit aufnahm. Mit dieser Kommission gelangte der bis dahin überwiegend außerparlamentarisch ausgetragene Atomkonflikt auf die parlamentarische Ebene. In einer zunächst heillos verfahren erscheinenden Konfliktsituation erzielte Ueberhorst einen "historischen Kompromiss": Am Ende stimmten die Kontrahenten darin überein, dass mehrere energiepolitische Optionen mit und ohne Kernenergie möglich seien und ein extremes Katastrophenrisiko nicht durch Hinweis auf die angeblich minimale Eintrittswahrscheinlichkeit bagatellisiert werden dürfe. Zwar hatte der Kommissionsbericht damals kaum unmittelbare Folgen, aber aus heutiger Sicht erscheint er als Markstein einer Entwicklung, in der sich die Politiker in Energiefragen nicht mehr wie zuvor als bloße Vollzieher vermeintlicher Sachzwänge verstanden.
Vom Anfang bis heute ist deutlich zu erkennen, dass sich die Dauerhaftigkeit und der Erfolg der deutschen Antiatomkraftbewegung nicht nur aus inneren Strukturen des Protests erklären, sondern auch aus Wechselwirkungen zwischen Bürgerprotest, Medien, Politik, Verwaltung, Justiz und Wissenschaft. Diese Dynamik verbindet die bundesdeutsche mit der amerikanischen Umweltbewegung. Zugleich erkennt man den Unterschied zu Ländern wie Frankreich und Japan, wo es zwar an Protest aus der Bevölkerung nicht fehlte, sich eine dynamische Wechselwirkung zwischen den genannten Akteuren und Instanzen aber weit weniger entwickelte. Der Protest gegen die Atomkraft wurde das entscheidende Bindeglied zwischen der 68er-Studentenrevolte und der Umweltbewegung; ohne sie wäre auch der Erfolg der Partei der Grünen nicht zu erklären. Dass in der Bundesrepublik die international stärkste Antiatomkraftbewegung und ebenfalls die stärkste grüne Partei entstanden, steht offenkundig in einem kausalen Zusammenhang.
In der Protestbewegung der 1970er Jahre sind bereits sämtliche Motive vorhanden, welche die Kritik an der Kernkraft bis heute bestimmen; nur ein neues kam um 1980 dazu und wurde für einige Jahre zum Leitmotiv: die Verbindung zwischen ziviler und militärischer Atomtechnik. Damals beherrschte der Widerstand gegen die "Nachrüstung" die Protestszenerie; vor allem im Zeichen dieser neuen Friedensbewegung formierten sich die Grünen.
Weit mehr als in den USA wurde die zivile Kerntechnik in der Bundesrepublik bis dahin als ein von den atomaren Waffen abgekoppeltes Thema wahrgenommen. Aber über die Urananreicherungsanlagen, über das Plutonium und über das technische Know-how hängen beide Technologien eben doch zusammen. Eine große Protestbewegung richtete sich gegen die an Stelle von Gorleben bei Wackersdorf geplante Wiederaufarbeitungsanlage. Diese wurde - vermutlich zu Unrecht - mit der Nachrüstung in Verbindung gebracht. Doch seit Mitte der 1980er Jahre vollzog sich mit dem Ende des Kalten Krieges ein atmosphärischer Wandel, und die Verbindung von Antiatomkraftprotest und Friedensbewegung verlor an Bedeutung, obwohl die nukleare Proliferationsgefahr weltweit fortbestand. Seit dem Herbst 1981 beherrschte ohnehin der Waldsterben-Alarm die Szenerie der Umweltsorgen, wodurch sich die Kritik auf Kohlekraftwerke konzentrierte und die Kernkraftwerke - bei denen es in jenen Jahren ohnehin kaum neue Projekte gab - aus der Schusslinie gerieten.
Von Tschernobyl bis Fukushima
Erst infolge der Reaktorkatastrophe in der Ukraine am 26. April 1986 grassierte zum ersten Mal in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung eine existenzielle Angst vor der Atomkraft. Seit dem 12. Dezember 1985 gab es in Hessen mit Joschka Fischer erstmals einen grünen (Umwelt-)Minister. Er kam zwar nicht aus der Anti-AKW-Bewegung und verfügte damals, wie er selbst später bekannte, über keine ökologische Kompetenz, aber er veranlasste immerhin die unverzügliche Publikation genauer Daten über den in seiner Region gemessenen Anstieg der Radioaktivität. Und andere Bundesländer zogen nach: ein Unterschied zu Frankreich, wo man sich - fortan der Standardspott - einbilden konnte, an der deutsch-französischen Grenze höre die Radioaktivität auf. In der Bundesrepublik wurde die Ablehnung der Kerntechnik schlagartig zur Mehrheitsmeinung, selbst unter Ingenieuren: Ein Vorgang, der sich nicht nur aus den Demonstrationen erklärt, sondern auch daraus, dass die Risiken der Kerntechnik real waren und es gerade auch in Fachkreisen stets latente Skepsis gegeben hatte.
Die primär für den Kampf gegen waldschädigende Emissionen gegründete Greenpeace-Abspaltung Robin Wood gab die Parole aus: "Kümmern wir uns also um den 'toten Hund' Atomenergie nur so viel wie nötig und sowenig wie möglich und widmen wir uns vor allem der Aufgabe, neuen Energieversorgungsstrukturen zum Durchbruch zu verhelfen." Aber das Potenzial der erneuerbaren Energien war zur Zeit von Tschernobyl noch viel unsicherer als 25 Jahre darauf zur Zeit von Fukushima; deren Durchsetzung erforderte technische Kompetenz, geduldige Entwicklungsarbeit und Kooperation mit Energieversorgern. Ein Zurück zur Kohle war zumindest als Langzeitperspektive nicht akzeptabel; denn gerade im Tschernobyl-Jahr 1986 ertönte auch der erste schrille Klima-Alarm, der eine globale Erwärmung als Folge des wachsenden Kohlendioxydgehalts der Atmosphäre prophezeite. Am 11. August 1986 brachte "Der Spiegel" seinen berühmt-berüchtigten Titel, auf dem der Kölner Dom zur Hälfte unter Wasser steht. Kein Wunder, dass es nach Tschernobyl zu einer sofortigen großen Energiewende nicht kam.
Und doch waren die Langzeitwirkungen erheblich; in welchem Maße, erkennt man erst mit der zeitlichen Distanz. Das erste Opfer wurde der "Schnelle Brüter" in Kalkar, der schon während der Bauphase seinen Rückhalt weithin verloren hatte. Dessen Stilllegung, kaum dass er betriebsbereit war, erregte nur noch geringes Aufsehen; und doch ging der Kernenergie damit endgültig das Charisma der erneuerbaren Energie verloren, das von Anfang an ihre Hauptattraktion ausgemacht hatte. Fortan wurde es in der Bundesrepublik zur offiziellen Sprachregelung, zwar lasse man die Kernkraftwerke vorerst weiter laufen, betrachte die Atomkraft jedoch als "Übergangsenergie"; ob das lediglich eine Ausrede war, um erst einmal Zeit zu gewinnen, blieb undurchsichtig. Auch die Entwicklung des anderen "Zukunftsreaktors", des Hochtemperaturreaktors, der wegen seiner potenziell erheblich höheren inhärenten Sicherheit selbst vielen Kritikern der Leichtwasserreaktoren noch lange als Geheimtipp gegolten hatte, wurde von der Industrie ohne großes Aufsehen abgebrochen. Alternativen gab es fortan nicht mehr inner-, sondern nur noch außerhalb der Kerntechnik.
Obwohl die Grünen damals - auch dies ist ein Unterschied zu der Situation nach Fukushima! - in ihrer Zerstrittenheit die Gunst der Stunde insgesamt nur wenig zu nutzen wussten und 1990 wegen ihrer Querschüsse gegen die deutsche Vereinigung sogar ein vorübergehendes Fiasko erlitten, das damals viele für das Ende der Partei hielten, schritt die Förderung der erneuerbaren Energien kontinuierlich voran. Auch wenn sich diese bis zum Unglück in Japan schon zu einem ökonomischen Gewicht entwickelt hatten, war bis in die jüngste Zeit nicht sicher, ob die Kernenergie wirklich ein "toter Hund" war; daher bestand weiterhin ein Protestpotenzial gegen sie. In seinen Zielen war der Protest von den Handlungsmöglichkeiten einer Zeit beeinflusst, in der keine neuen Kernkraftwerke in Auftrag gegeben wurden: So konzentrierte er sich auf die Transporte der abgebrannten Brennelemente zu dem (provisorischen?) Endlager.
Dieser Schwerpunkt ließ sich jedoch nicht nur taktisch begründen. Vielmehr war die letztliche Unlösbarkeit des Endlagerproblems mit Blick auf die Jahrtausende fortdauernde Strahlungsintensität des "Atommülls" von Anfang an das peinlichste Dilemma der Kernenergie gewesen, das auch - wie mittlerweile klargestellt worden war - durch die Wiederaufarbeitung nicht wesentlich gemindert wurde. Selbst Robert Gerwin, in der Folge ein führender Propagandist der Atomkraft, hatte 1963, als das stillgelegte Salzbergwerk Asse zum nuklearen Endlager ausersehen wurde, gewarnt, es gehöre "schon einige Unverfrorenheit dazu, seinen Nachfahren eine Last aufzubürden, an der diese noch nach zehn Generationen zu tragen haben" (er plädierte damals für die sowjetische Idee, den Atommüll in den Weltraum zu schießen). Die Erkenntnis, dass es sich bei Asse um einen Gelegenheitskauf und mitnichten um eine sichere Endlagerstätte handelte, wurde zum Gemeingut der Öffentlichkeit.
Es hatte seine Logik, dass das Dilemma der Endlagerung in einem dicht besiedelten Land wie der Bundesrepublik aufreizender wirkte als in Riesenreichen wie Russland oder den USA. Die Geschichte der deutschen Antiatomkraftbewegung während der vergangenen beiden Jahrzehnte ist bislang nicht einmal im Ansatz geschrieben. Die Verjüngungsprozesse, die sich dort vollzogen haben - nicht ohne Spannungen zu den "alten Kämpfern", von denen manche die Mütter-Initiativen nach Tschernobyl als "Becquerel-Bewegung" titulierten - sind ein Thema für künftige Historiker. Sie sind umso bemerkenswerter, als die Kerntechnik - die in den 1970er Jahren als Zielscheibe für Protestler nahezu konkurrenzlos dastand - bei den Umweltaktivisten mittlerweile mit einem breiten Spektrum anderer Ziele konkurrierte. Wer nunmehr gegen die Atomkraft protestierte, hatte eine bewusste Wahl getroffen. Von daher wäre es nicht angemessen, den späteren Protest, auch wenn er in der Literatur und Mythenbildung weniger eindrucksvoll wirkt als Wyhl und Gorleben, lediglich als Nachklapp zur Protestbewegung der 1970er Jahre zu werten.
Vorläufige Bilanz
Friedrich Münzinger, ein alterfahrener Kraftwerksbauer der AEG, der in den 1950er Jahren das erste deutsche Standardwerk über den Reaktorbau verfasste, stellte bereits 1960 fest: "Viele unserer Landsleute stehen, wie ihre Reaktion auf die Erstellung einiger atomarer Forschungsinstitute zeigte, nuklearen Anlagen argwöhnischer gegenüber als beispielsweise die Amerikaner." Anders als man erwarten könnte, kanzelte er jedoch diese Einstellung keineswegs als "deutsche Hysterie" ab, sondern hielt sie für ganz vernünftig; als "Atomkraftpsychose" bezeichnete er dagegen die überdrehte Begeisterung anderer Länder für das "friedliche Atom", das mit Verheißungen verknüpft werde, die "durch Sachkenntnis nicht getrübte Flunkereien" seien. Dass die Deutschen skeptischer seien, war für ihn ein Zeichen dafür, dass hierzulande in Fragen der Technik die Ingenieure und nicht die Spekulanten den Ton angäben. In der Tat erkennt man in der Geschichte des deutschen Ingenieurwesens eine gewisse Tradition der Bedächtigkeit, welche die technische "Entwicklung" mehr im Sinne von Evolution als von forciertem development verstand.
Somit lässt sich die deutsche Skepsis gegenüber der Atomkraft rational begründen. Dass die Kerntechnik mit erheblichen Risiken verbunden ist, war dem, der es wissen wollte, von Anfang an bekannt. Die Atommächte brauchten das "friedliche Atom", um den mit immensen Kosten zu militärischen Zwecken errichteten Spaltstoffproduktionsanlagen einen zivilen Sinn zu geben und dort manche Rüstungskosten zu verstecken; für eine Nicht-Atommacht wie die Bundesrepublik entfiel dieses Motiv. In einem dicht besiedelten Land gab es weit mehr Grund als in den USA, sich um das nukleare "Restrisiko" zu sorgen. Beides traf zwar auch für ein Land wie Japan zu; aber im Unterschied zu diesem verfügte die Bundesrepublik über reichlich Kohle. Ausgerechnet RWE, der größte deutsche Energieproduzent, war bis in die späten 1960er Jahre zum Ärger des Bonner Forschungsministeriums die stärkste Bremskraft der Kernenergieentwicklung: Es hatte gerade gewaltige Braunkohlefelder erschlossen und erblickte in der Atomkraft lediglich eine lästige Konkurrenz.
Gerade in den Jahren ab 1967, als der kommerzielle Durchbruch der Kernkraft erfolgte, kam heraus, dass auf die Notkühlung im Falle eines Falles doch kein sicherer Verlass war. Als jedoch Milliarden investiert waren, konnte oder wollte man nicht mehr zurück. Es hatte seine Logik, wenn die Sorge um das "Restrisiko", die unter den Experten nicht mehr im Klartext artikuliert werden durfte, von nun an in die Öffentlichkeit übersprang. Dabei lässt sich international eine gewisse Sonderstellung des deutschen Sprachraums erkennen, denn auch in Österreich und der Schweiz beherrschten die Kritiker der Kernkraft in den späten 1970er Jahren zunehmend die öffentliche Meinung und stoppten den Ausbau dieser Energietechnik. Das ist umso bemerkenswerter, als viele Naturschützer in den Alpenländern der Atomkraft ursprünglich wohlgesonnen waren, da diese ihnen als Argument gegen Wasserkraftprojekte diente, die schöne Alpentäler zu verschandeln drohten.
Bei den Alpenbewohnern ist zwar ein besonderer Hang zur Nostalgie, aber kaum je zur Hysterie beobachtet worden. Witzeleien über eine angebliche German Angst, seit Jahrzehnten der Standard-Kalauer in spöttischen Kommentaren zur Antiatomkraftbewegung, sind historisch ignorant. Beim Aufstieg dieser Protestbewegung in den 1970er Jahren stand keine Reaktorkatastrophe vor Augen; am Anfang standen Informationen, keine panische Angst. Es war auch keine Sensationsmache der Massenmedien, die - wie später oft behauptet wurde - den ersten Anstoß gegeben hätte; diese sprangen in aller Regel erst nach der Bauplatzbesetzung von Wyhl auf das Thema an. Medienmoden sind zeitgebunden; die Anti-AKW-Bewegung dagegen verblüffte immer wieder durch ihre Zählebigkeit. Ebensowenig wie aus Panikmache der Medien lässt sie sich insgesamt gesehen von bestimmten Gruppeninteressen, Ideologien, Diskursen herleiten.
Im Vergleich zu den USA, wo hinter dem Kampf gegen die Kernkraft Autoritäten wie David Brower und Barry Commoner standen, fällt in der bundesdeutschen Bewegung überdies der Mangel an charismatischen Führungsfiguren auf. Stattdessen kann man darüber betroffen sein, wie viele Pioniere des Protests, die wesentliche Anstöße gaben, in der Folge wieder in Vergessenheit gerieten: ob Günther Schwab, Karl Bechert, Holger Strohm, Jens Scheer, Manfred Wüstenhagen, Herbert Gruhl oder auch jener Tübinger Lehrer Hartmut Gründler, der zu den Initiatoren des vom Bundesforschungsministerium organisierten "Bürgerdialogs Kernenergie" gehörte und sich am Buß- und Bettag 1977 auf den Stufen der Hamburger Petrikirche aus Protest selbst verbrannte. Robert Jungk stellte sich erst auf dem Höhepunkt der Protestbewegung an deren Spitze. Mit Max Webers Theorie des "charismatischen Führers" lässt sich die Antiatomkraftbewegung ebenso wenig erklären wie mit Ronald Ingleharts Konstrukt des angeblichen postmodern-postmateriellen Wertewandels wie der darauf fußenden Theorie der "neuen sozialen Bewegungen", die durch Bürokratisierungstrends und durch die Partei der Grünen längst widerlegt wurde.
All diese Theorien werden nur durch bestimmte Momentaufnahmen plausibel, überzeugen jedoch nicht mehr, sobald man diesen Protest in einem größeren zeitlichen Bogen betrachtet. Liest man sich durch die Literaturflut hindurch, welche die Kritik an der Kernkraft im Laufe der Jahrzehnte hervorbrachte, geht es nicht zu weit, von einer neuen Aufklärung zu reden, die an blinden Flecken des Fortschrittsdenkens der alten Aufklärung ansetzte. Man versteht die Antiatomkraftbewegung nicht, wenn man sie in abstrakte Modelle zu zwängen sucht, sondern nur dann, wenn man sich mit dem beschäftigt, um das es ihr geht.