Einleitung
Der Vorstoß des damaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg, angesichts der Haushaltslage auch die Wehrpflicht auf den Prüfstand zu stellen, entfachte nicht nur erneut die ohnehin schwelende Debatte, sondern führte letztlich auch zur Aussetzung der Wehrpflicht. Dabei ist über die Frage ihrer Beibehaltung oder Aussetzung in Deutschland - im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern - überaus lange und mit außergewöhnlicher Emotionalität debattiert worden. Während die einen mit dem Ende des Kalten Kriegs und dem veränderten Aufgabenspektrum die Wehrpflicht als obsolet betrachteten, betonten ihre Befürworter vor allem die Aufwuchsfähigkeit und damit verbundene sicherheitspolitische Flexibilität, das breitere Rekrutierungspotenzial gleichfalls als Basis für Längerdienende sowie die bessere Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft.
In Europa zeigen sich gegenwärtig zwei Phänomene: Zum einen sind ein Ende der Massenarmeen und ein klarer Trend zu Freiwilligenarmeen festzustellen. Aus dem Kreis der NATO- und EU-Mitgliedsstaaten verfügt die Mehrheit mittlerweile über Freiwilligenstreitkräfte. Andererseits gibt es aber auch Länder, die weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, wie die Schweiz, Österreich oder ein Großteil der skandinavischen Staaten. Und auch in Deutschland galt die Wehrpflicht bis vor Kurzem - insbesondere bei vielen seiner politischen Akteure - als unantastbar, obwohl die Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Einsätzen eine Professionalisierung der deutschen Streitkräfte schon seit Langem rational erscheinen ließ. Wie erklären sich diese unterschiedlichen Einstellungs- und Verhaltensmuster in Europa? Was lässt die europäischen Staaten - durch weitgehend gleiche strukturelle Rahmenbedingungen gekennzeichnet - so verschieden agieren?
Als Untersuchungsansatz dient die politische und speziell die politisch-militärische Kultur. Im Mittelpunkt des Interesses stehen hier nicht materielle oder strukturelle, sondern ideelle Faktoren. Wie wurden historische Erfahrungen von politischen Akteuren aufgearbeitet? Welche politisch-militärischen Traditionen, Normen und Orientierungen prägen die Bundesrepublik? Und inwieweit kann - so die Leitfrage - die Wehrpflicht als Bestandteil der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland betrachtet werden?
Zum Begriff der politischen Kultur
Allgemein formuliert bedeutet politische Kultur die subjektive Dimension der gesellschaftlichen Grundlagen politischer Systeme.
In einer zweiten Phase der politischen Kulturforschung wurde der Definitionsbereich erweitert. Das Verständnis von politischer Kultur wurde auf historische Erfahrungen, politisch gewachsene Traditionen und die Identität einer Nation ausgedehnt. Traditionsbestände und historische Eigenheiten von Nationen spiegeln sich dabei in Phänomenen der Gegenwart wider, sie gehen über empirische Umfrageergebnisse hinaus und prägen politisches Denken und Handeln.
Zunehmend gewinnt - als ein weiterer Wesensgehalt politischer Kultur - der normative Aspekt an Bedeutung. In diesem Kontext stehen Verfassungsnormen und institutionelle Strukturen im Mittelpunkt der Betrachtung. So ist politische Kultur einmal sichtbar in den Einstellungen der Bürger gegenüber dem politischen System und seinen Institutionen, andererseits zeigt sich politische Kultur aber auch im politischen System und in seiner konstitutionellen Ordnung selbst. In ihnen spiegeln sich Werthaltungen und charakteristische Verhaltensmuster wider.
Der Begriff der politischen Kultur hat sich auf diese Weise sehr schnell von seinem ursprünglichen Ansatz gelöst, sich stark erweitert und ist inzwischen durch eine große Vielfalt geprägt. Heute enthält der Begriff empirische, historische und normative Aspekte. Dem wird die Definition von Karl Rohe gerecht, wonach politische Kultur verstanden werden kann als "in die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit eingelassene Ideen, die Politikhorizonte abstecken, Sinnbezüge stiften und von ihren jeweiligen gesellschaftlichen Trägern als Maßstäbe zur Auswahl, Organisation, Interpretation, Sinngebung und Beurteilung politischer Phänomene benutzt werden".
Entsprechend diesen Definitionen ist politische Kultur nicht mit politischem Verhalten gleichzusetzen, sie erklärt aber politisches Verhalten. Zwischen ihnen bestehen enge kausale Beziehungen: Zum einen hilft politische Kultur, grundlegende Politikziele und politische Interessen zu definieren. In diesem Sinne werden Interessen nicht als exogen vorgegeben, sondern als endogen ausgebildete Phänomene betrachtet. Zum anderen prägt politische Kultur die Wahrnehmung der äußeren Umgebung und determiniert, wie bestimmte Situationen und Gegebenheiten die Akteure beeinflussen, von diesen beachtet und interpretiert werden. Darüber hinaus begrenzt politische Kultur die Perzeption von Handlungsoptionen. Durch kulturelle Normen werden bestimmte Verhaltensweisen von vornherein ausgeschlossen. Auch wird die Auswahl der Handlungsoptionen davon mitbestimmt, welche Instrumente und Verfahren als akzeptabel, angemessen und legitim erachtet werden.
Inzwischen haben sich politische Kulturansätze auch auf internationaler Ebene etabliert. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der "konstruktivistischen Wende" fanden Schlüsselbegriffe wie Identitäten, Normen und (politische) Kultur verstärkt Eingang in die Internationalen Beziehungen.
Politisch-militärische Traditionsbestände
Jede politische Kultur fußt auf Traditionsbeständen. Für die Bundesrepublik Deutschland treten hier allerdings Schwierigkeiten auf, denn alle vorangegangenen Epochen - Preußen und die Kaiserzeit, die Weimarer Republik und der Nationalsozialismus - dienen heute nicht der nationalen Identifikation. Politische Tradition in Deutschland ist nicht durch eine relative Stabilität und Kontinuität gekennzeichnet, sondern durch Umbrüche, Verwerfungen und historische Einschnitte geprägt worden.
Zu einer wesentlichen Traditionslinie der deutschen politischen Kultur vor 1945 gehörte die militaristische Orientierung: "Die Deutschen hatten ein Faible für alles Militärische."
Die Zeit der Weimarer Republik steht dagegen für die negative Entwicklung der Armee zum Staat im Staate, das heißt für die Abkopplung des Militärs von der Republik und seiner Verfassung, verbunden mit der Mitverantwortung der Reichswehr an der Machtübernahme Hitlers.
Der tiefe historische Einschnitt, der die politische und speziell auch die politisch-militärische Kultur in der Bundesrepublik nachhaltig prägte, war der Nationalsozialismus. Die Bundesrepublik konnte sich als politisches Gemeinwesen nur etablieren, wenn sie von ihren politischen Traditionen, die zu diesem Desaster geführt hatten, abrückte. In der Folge wurden nationalistische, militaristische und antidemokratische Traditionen bewusst unterdrückt.
Normen der deutschen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Vor dem Hintergrund dieser politisch-militärischen Traditionslinien, insbesondere der historischen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, entwickelte sich nach 1945 in der Bundesrepublik eine Politik der Zurückhaltung. Diese stützte sich auf drei handlungsleitende Normen der deutschen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Antimilitarismus, Multilateralismus sowie Integration und Westbindung.
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahren gerieten diese Normen unter Anpassungsdruck. In der Folge lässt sich ein "gestiegene(s), aber durchaus verantwortungsorientierte(s) und moderate(s) Selbstbewusstsein"
Wehrpflicht und politisch-militärische Kultur
Wie prägen nun diese politisch-militärischen Traditionen und Normen der deutschen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Bundeswehr, und in welcher Beziehung stehen sie zur Wehrpflicht? Die historischen Erfahrungen insbesondere mit dem Nationalsozialismus und die darauf basierende Norm des Antimilitarismus prägten in erheblichem Maße die Diskussionen um die deutsche Wiederbewaffnung. Gegen die ablehnende Haltung der Bevölkerung wurde die Aufstellung der Bundeswehr beschlossen.
Die Innere Führung sollte zu einer Demokratisierung der Streitkräfte beitragen. Sie orientiert sich an den verfassungsrechtlich verankerten Normen einer demokratischen Gesellschaft. Das enthält Aspekte wie die verfassungsrechtliche Einbindung der Streitkräfte, das Primat der Politik, Menschenführung sowie Rechte und Pflichten der Soldaten. Im Fokus steht die demokratische und zivile Kontrolle des Militärs. So können die einzelnen Elemente im Konzept der Inneren Führung als eine klare Distanzierung zu früheren zivil-militärischen Verhältnissen in Deutschland betrachtet werden.
Mit der allgemeinen Wehrpflicht sollte der personelle Bedarf gedeckt und die Loyalität der gesamten Bevölkerung zu den Streitkräften sichergestellt werden. In diesem Zusammenhang wird häufig der frühere Bundespräsident Theodor Heuss zitiert, der in der Wehrpflicht das "legitime Kind der Demokratie" sah. Historisch verweist man auf die Reformer der preußischen Militär-Reorganisationskommission - namentlich vor allem auf Gerhard von Scharnhorst, Hermann von Boyen und August Neidhardt von Gneisenau - die aus einem sozietären, liberalen Staats- und Gesellschaftsverständnis heraus ein bürgerlich verfasstes Militär, die Integration der Bürger in diese Institution und eine bürgerliche Machtteilhabe forderten. In diesem Kontext steht auch das von Lazare Nicolas Marguérite Carnot stammende und in deutscher Fassung in Verbindung mit Scharnhorst gebrauchte Zitat "Jeder Bewohner des Landes ist der geborene Verteidiger desselben."
Als eine weitere Argumentationslinie für die Wehrpflicht stehen die Erfahrungen der Weimarer Republik. So könne eine Berufsarmee zu einem Staat im Staate führen und zu Putschversuchen missbraucht werden. Aus dieser Negativtradition heraus gilt die Wehrpflicht als das geeignete Mittel, ein Eigenleben der Armee zu verhindern und die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft zu gewährleisten.
Gegenwärtig dominieren in Europa Einsätze von Streitkräften im Rahmen der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung. Da nur Freiwillige zu diesen internationalen Einsätzen herangezogen werden (können), steht die Wehrpflicht auch für den Defensivcharakter der Streitkräfte. Das entspricht zwar der deutschen Norm des Antimilitarismus und der Politik der Zurückhaltung, begrenzt auf der anderen Seite aber auch die Kapazitäten im Rahmen der gemeinsamen europäischen und transatlantischen Außen- und Sicherheitspolitik - ein wesentlicher Grund, warum andere europäische Staaten die Wehrpflicht längst abgeschafft beziehungsweise ausgesetzt haben, und auch ein Grund, warum Deutschland zum 1. Juli 2011 die Wehrpflicht aussetzte. So trafen mit der gestiegenen regionalen und globalen Verantwortung Deutschlands zwei Normen deutscher Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufeinander, die im Widerspruch zueinander standen und nicht mehr miteinander zu vereinbaren waren. Dass das identitätsstiftende Moment der Wehrpflicht noch immer in gewisser Weise aufrechterhalten wird, zeigt sich beispielsweise in den jüngsten verteidigungspolitischen Richtlinien. Obwohl diese - am 27. Mai 2011 erlassen - schon vor dem Hintergrund der Aussetzung der Wehrpflicht stehen, heißt es dort zum Selbstverständnis der Bundeswehr: "Die Bundeswehr wird mit der Aussetzung der Verpflichtung zum Grundwehrdienst ganz zu einer Armee von Freiwilligen. Die Prinzipien der Inneren Führung mit dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform bestehen unverändert fort."
Orientierungsmuster in der Bevölkerung
Die der Wehrpflicht zugrunde liegenden politisch-militärischen Traditionen und Normen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik finden sich auch im Denken und Empfinden der Bürger wieder.
Auch in den Meinungen und Einstellungen der Bevölkerung zur allgemeinen Wehrpflicht lassen sich übereinstimmende Positionen aufzeigen. Die allgemeine Wehrpflicht stieß konstant - von 1997 bis 2010 - bei einer großen Mehrheit - je Betrachtungsjahr zwischen 68 und 80 Prozent - auf Zustimmung. Im Hinblick auf die beiden Alternativen Beibehaltung oder Abschaffung der Wehrpflicht sprachen sich in den vergangenen Jahren (bis 2009) zwei von drei Bundesbürgern für die Wehrpflicht aus.
Zivildienst und politisch-militärische Kultur
Eine komplementäre Konsequenz einer demokratischen Legitimation von Streitkräften bildet insbesondere das Recht auf Kriegsdienstverweigerung.
Der Zivildienst (beziehungsweise zivile Ersatzdienst), der, gekoppelt an den Wehrdienst, sich aus diesem Recht auf Kriegsdienstverweigerung ableitet, genoss in der Bundesrepublik ein hohes Ansehen. Er galt schon lange nicht mehr nur als Ausnahme von der Regel, sondern etablierte sich zu einem anerkannten und wichtigen Gesellschaftsdienst. Er wurde zu einer wesentlichen Stütze im sozialen Bereich. 1998 haben erstmalig mehr Wehrpflichtige (über 170000) den Kriegsdienst verweigert und Zivildienst geleistet als zur Bundeswehr eingezogen wurden.
Dies spiegelt sich auch im Meinungsbild der Bevölkerung wider. Danach wird nicht nur der Wehrdienst, sondern auch der Zivildienst in der Bundesrepublik als wichtig angesehen. Zwei Drittel der Bevölkerung bewerten Wehrdienst und Zivildienst als gleichermaßen wichtig. Das verbleibende Drittel favorisiert jeweils zu gleichen Anteilen den Wehr- beziehungsweise Zivildienst.
Im Hinblick auf das Rekrutierungssystem erhielt - bei Vorliegen verschiedener Optionen - die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht, bei der zwischen Wehrdienst und anderen Diensten für die Gesellschaft gewählt werden kann, die höchste Zustimmung (mit 48 Prozent im Jahr 2003 beziehungsweise 57 Prozent im Jahr 2005).
Fazit und Ausblick
Zusammenfassend betrachtet lassen sich mit dem Ende des Kalten Krieges in der Bundesrepublik kontrastierende Traditionslinien innerhalb der politisch-militärischen Kultur ausmachen, die zu einem Abwägen ihrer identitätsstiftenden Elemente führten - Antimilitarismus und Wehrpflicht auf der einen, Multilateralismus sowie europäische und transatlantische Bindung auf der anderen Seite. Dies erklärt auch in einem hohen Maße die Dauer, Intensität und Emotionalität der deutschen Debatten um die Wehrpflicht, bei der letztlich die Wehrpflichttradition zugunsten einer multilateralen, militärisch aktiven Außen- und Sicherheitspolitik aufgegeben wurde.
Gleichfalls steht die gegenwärtige Phase der Umstellung der europäischen Rekrutierungssysteme auf Freiwilligenstreitkräfte im Kontext gesamtgesellschaftlicher Veränderungen. Stand historisch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in einem engen Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Nationenbildung, tritt nun ein neues, die Souveränität des Nationalstaates schwächendes Gesellschaftsmodell in Erscheinung. Europa wird zunehmend durch Tendenzen der Globalisierung geprägt. Das zeigt sich auch in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Mittlerweile dominieren ein weit gefasster Verteidigungsbegriff sowie eine globale sicherheitspolitische Ausrichtung, womit auch nationale Elemente wie die Wehrpflicht zurückgedrängt werden. Hinzu kommt der Wertewandel in der Gesellschaft, geprägt durch die Betonung individualistischer Werte, der neue Formen der aktiven Partizipation erfordert. Pflichtdienste wie die Wehrpflicht laufen dieser Entwicklung zuwider.
Ziel muss es sein, individuelle Rechte mit der Verantwortlichkeit des Individuums für die Gemeinschaft ins Gleichgewicht zu bringen. Dies kann durch ein verstärktes freiwilliges bürgerschaftliches Engagement erreicht werden. Ein solcher Freiwilligendienst kann einerseits der Persönlichkeitsentwicklung und Qualifizierung Jugendlicher sowie als Übergang und Orientierung in der Lebensphase zwischen Schule und Arbeitsmarkt dienen. Andererseits kann er dem Gemeinwohl zugute kommen und Jugendliche zu aktiven Bürgern erziehen. Vor diesem Hintergrund könnte die Zivildiensttradition - in angepasster Form - weiter aufrechterhalten werden. So waren auch die jüngsten Beschlüsse zur Aussetzung der Wehrpflicht in Europa häufig mit konkreten Bemühungen der jeweiligen Regierungen beziehungsweise Verteidigungsministerien verbunden, ein gesellschaftliches Pendant zu schaffen (zum Beispiel in Frankreich, den Niederlanden oder Belgien). Diese offerieren dann auch die Möglichkeit eines Engagements im militärischen Bereich. Vieles spricht dafür, dass diese ersten Ansätze eines freiwilligen Gesellschaftsdienstes in Europa künftig ausgebaut und eine zunehmende Bedeutung erfahren werden. Der in Deutschland eingeführte Bundesfreiwilligendienst steuert in diese Richtung.