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Russische Medien zwischen Vielfalt und Bedrohung | Nach dem Ende der Sowjetunion | bpb.de

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Russische Medien zwischen Vielfalt und Bedrohung

Gemma Pörzgen

/ 15 Minuten zu lesen

Machtpolitisch bedeutsam ist in der Russischen Föderation vor allem die Fernsehberichterstattung. Unabhängige Zeitungen erreichen nur ein kleines Publikum. Bisher ist das Internet ein Reservat der Pressefreiheit.

Einleitung

Wer heute in der russischen Hauptstadt Moskau am Kiosk steht, blickt auf eine Fülle von Zeitungen und Zeitschriften. Darunter sind mit den Wirtschaftszeitungen "Kommersant" und "Wedemosti", dem Wochenblatt "Nowaja Gaseta" oder der Zeitschrift "Russkij Reporter" Publikationen von hoher Qualität, bei deren Lektüre der interessierte Leser auf exzellente Analysen und interessante Reportagen stößt. Die Themenvielfalt ist groß, und unter den russischen Journalisten gibt es zahlreiche angesehene Publizisten mit klangvollen Namen und echter Stammleserschaft. Wer im Radio "Echo Moskwy" hört, ist beeindruckt, wie viele Spitzenpolitiker sich dort kritischen Fragen stellen, und dass kaum ein heikles Thema ausgespart bleibt. Doch der Schein trügt.

Während die sowjetischen Staatszeitungen wie die "Prawda" oder die "Iswestija" als überregionale Leitmedien Millionenauflagen hatten, erreichen heutige Zeitungen diese überregionale Breitenwirkung nicht mehr. So gibt es zwar wichtige kritische Stimmen wie die "Nowaja Gaseta", aber ihre Wirkung bleibt bei einer Auflage von rund 230.000 Exemplaren vor allem auf die größeren Städte wie Moskau und St. Petersburg begrenzt. Da unabhängige Medien mit geringen Auflagen und kleiner Hörerschaft in dem riesigen Land mit rund 140 Millionen Einwohnern kaum eine kritische Masse erreichen, werden sie der Führung nicht gefährlich, sondern dienen eher als Ventil der Unzufriedenheit.

Russische Journalisten klagen deshalb häufig darüber, dass selbst mutige, investigative Recherchen kaum noch ein politisches Echo finden. "Ich verstehe mich heute als Historiker des Tages", sagt der Journalist Leonid Nikitinski etwas resigniert. Er ist einer der führenden Gerichtsreporter des Landes und arbeitet seit Jahren für die "Nowaja Gaseta", doch es kommt ihm vor, als erzielten Journalisten nur noch dann Widerhall, wenn ihre Recherchen mit einer politischen Intrige zusammenfallen. Nikitinski tröstet sich deshalb mit seiner Rolle als Chronist der Tagesgeschehnisse: "Wir schreiben Geschichte und halten fest, was passiert."

Machtpolitisch bedeutsam ist in der Russischen Föderation vor allem die TV-Berichterstattung. Die wichtigsten Fernsehsender, die landesweit zu sehen sind, unterstehen der Kontrolle des Kreml. In nahezu jedem Haushalt gibt es ein Fernsehgerät, und für rund 90 Prozent der Bürger ist das Fernsehen die wichtigste Informationsquelle. Mit dem Fernsehen erreicht man die Zuschauer bis in die entlegensten Winkel des Landes. Wer die abendliche Nachrichtensendung "Wremja" einschaltet, kann sich davon überzeugen, wie stark die Regierung dieses Propagandainstrument nutzt und damit die Meinungsbildung landesweit dominieren kann. Die Beiträge widmen sich überwiegend der Arbeit des Präsidenten Dmitri Medwedew und des Ministerpräsidenten Wladimir Putin oder nachgeordneter Behörden. Kritische Themen werden meist ausgespart, Oppositionspolitiker kommen kaum zu Wort. "Das Fernsehen ist reine Propaganda. Die Leute schauen dem Staatsfernsehen zu, gehen auf die Straße und sehen etwas völlig anderes", beschreibt der Chefredakteur der kremlkritischen "Nowaja Gaseta", Dmitri Muratow, die Diskrepanz, die für viele Russen spürbar ist und die verbreitete Apathie noch verstärkt.

Morde an Journalisten

Die Dominanz der staatlichen Kontrolle über die Medien führt dazu, dass die Russische Föderation heute als Land gilt, in dem es keine Pressefreiheit gibt. Für die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) liegt das Land in seiner jährlichen Rangliste der Pressefreiheit beständig auf den hinteren Plätzen, im Jahr 2010 auf Platz 140 von 178. Dazu trägt bei, dass Journalisten in Russland massiv gefährdet sind. Die Zahl der Journalistenmorde und gewaltsamen Übergriffe ist seit Jahren erschreckend hoch. Das Committee to Protect Journalists (CPJ) in New York kam 2009 zu dem Schluss, dass Russland zu den gefährlichsten Staaten für Journalisten zählt, und mahnte wiederholt größere Anstrengungen der Regierung zu deren Aufklärung an.

Wer die Redaktion der "Nowaja Gaseta" in der Moskauer Altstadt besucht, wird von den Kollegen fast immer zum früheren Büro von Anna Politkowskaja geführt. Ihr Schreibtisch bleibt seit ihrem gewaltsamen Tod ungenutzt und ist immer mit frischen Blumen geschmückt. Darüber hängt eine Fotografie der mutigen Journalistin, die jahrelang für die Zeitung über Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien schrieb und keine Risiken scheute. Ihre Ermordung am 7. Oktober 2006 vor ihrer Wohnung mitten in Moskau stieß weltweit auf Empörung und Kritik an der russischen Führung. Denn in Russland bleiben die meisten Journalistenmorde unaufgeklärt. Die Ermittlungen schleppen sich über Jahre hin und verlaufen im Sande. Dabei hat allein die "Nowaja Gaseta", die immer wieder schwierige Themen anpackt, inzwischen fünf ermordete Journalisten zu beklagen.

Seit dem Amtsantritt von Putin im März 2000 zählt ROG mindestens 26 Journalisten, die wegen ihrer Arbeit in der Russischen Föderation getötet wurden. Doch die Journalistenmorde sind nicht ein alleiniges Phänomen der Putin-Zeit. Schon unter der Präsidentschaft von Boris Jelzin wurden in der Russischen Föderation nach ROG-Angaben mindestens 45 Journalisten getötet. Der Mord an dem prominenten Fernsehjournalisten Wladislaw Listjew erschütterte im Frühjahr 1995 das ganze Land. Tausende kamen damals ins Fernsehzentrum Ostankino, um von dem Fernsehmann Abschied zu nehmen. Seine politische Talkshow gehörte zu den beliebtesten Sendungen. Viele Journalisten starben auch während der Berichterstattung im Tschetschenien-Krieg. Russische Journalistenorganisationen nennen in den vergangenen Jahren noch höhere Zahlen als ROG, wobei bei dieser Statistik nicht immer nachweisbar ist, ob die Gewalttaten mit der journalistischen Tätigkeit tatsächlich in Zusammenhang standen. Fest steht, dass kaum ein Täter zur Rechenschaft gezogen wurde.

Zwar gibt es nun erstmals nach fünf Jahren Fortschritte bei den Ermittlungen im Fall Politkowskaja, doch diese sind vor allem den unermüdlichen Recherchen der "Nowaja Gaseta" zu verdanken, die ein spezielles Rechercheteam einsetzte. Die mutmaßlichen Auftragsmörder Dmitri Pawljutschenko und Rustam Machmudow wurden in diesem Jahr gefasst. Der ehemalige Oberstleutnant der Moskauer Polizei, Pawljutschenko, wird beschuldigt, den Mord organisiert und dafür eine Belohnung eines bisher unbekannten Auftraggebers erhalten zu haben. Nach Angaben der Ermittler soll er zuvor eine Bande beauftragt haben, die täglichen Wege von Politkowskaja auszuspionieren, um sie dann in ihrem Wohnhaus abzupassen. Der Tschetschene Machmudow gilt als der mutmaßliche Todesschütze. Ob das Verfahren auch offen legt, wer den Auftrag zu diesem Mord erteilte, bleibt bislang zweifelhaft.

Längst ist ein Klima der Straflosigkeit entstanden. Es führt dazu, dass viele Journalisten vor schwierigen Recherchen zurückschrecken. Gerade jüngere Kollegen entscheiden sich lieber dafür, möglichen Gefährdungen zu entgehen, und widmen sich harmloseren Themen. Tabu sind vor allem die verbreitete Korruption, aber auch die Entwicklungen im Nordkaukasus. In den russischen Kaukasusrepubliken Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien ist die Arbeit von Journalisten besonders gefährlich. Aber auch in anderen Regionen bleibt es schwierig. ROG hat im Jahr 2009 einen Bericht verfasst, der die Lage in sieben ausgewählten Regionen des Landes beleuchtete. Dabei wurde deutlich, dass die ökonomische Notlage viele Medien unverändert dazu bringt, sich staatliche Finanzierungsmöglichkeiten zu sichern. In der Provinz verstehen sich zahlreiche Medien als Verlautbarungsorgane staatlicher Institutionen. Viele regionale Zeitungen und ein Großteil der Radio- und Fernsehsender sind teilweise oder ganz im Besitz der Region, des Landkreises oder der Stadt. Staatliche "Informationsverträge" gehören zu den gängigsten Mitteln der Steuerung regionaler Medien: Für eine dem Bürgermeister, dem Gouverneur oder anderen Behördenvertretern genehme Berichterstattung erhalten sie finanzielle Gegenleistungen.

Da die Abhängigkeit zwischen Medien, Politik und Wirtschaft so groß ist, greift nur eine kleine Minderheit von Journalisten kritische Themen auf. Nur selten widmen sich regionale Medien Missständen wie der verbreiteten Korruption oder unterdrückten Protestaktionen. Wie ROG feststellte, haben sich die meisten Journalisten an die Regel gewöhnt: "Wer die Musik bezahlt, bestimmt, was gespielt wird." Medienvielfalt bedeutet deshalb vielerorts nur, dass Gouverneur und Bürgermeister im Konflikt miteinander stehen und deshalb für ihre jeweiligen Zwecke unterschiedliche Medien einspannen. In manchen Regionen kontrollieren Akteure aus Politik und Wirtschaft die Medienlandschaft völlig.

In vielen Redaktionen zeigte sich, dass die Grenzen zwischen redaktionellen und bezahlten Inhalten längst gefallen sind. Phänomene wie Image-Reklame und "Sakasucha" sind weit verbreitet. Als "Image-Artikel" werden in Russland von Journalisten verfasste Werbeartikel für einen Politiker oder Geschäftsmann bezeichnet, die für den Leser aber nicht als PR-Material zu erkennen sind. Unter "Sakasucha" versteht man, dass einige Journalisten dafür bezahlt werden, dass sie in ihren Artikeln politische Gegner kompromittieren.

Nur vereinzelt gab es Beispiele für unabhängige Redaktionen, denen es gelungen war, mit umsichtigen Finanzierungsmodellen wirtschaftlich unabhängig zu bleiben und sich damit auch größere inhaltliche Freiräume zu schaffen. Immerhin haben sich mehr als 50 unabhängige Zeitungen seit 2004 zur Allianz Unabhängiger Russischer Verlage (ANRI) zusammengeschlossen, um sich überregional zu vernetzen und zu unterstützen. Große Unabhängigkeit schafft dabei beispielsweise eine eigene Druckerei. Denn bis heute sind die meisten Druckereien ebenso wie die Vertriebswege staatlich organisiert, was es den Behörden leicht macht, Verlage und Redaktionen bei unliebsamer Berichterstattung unter Druck zu setzen. Auch Besuche der Steuerpolizei oder Beamte des Brandschutzes sind verbreitete Mittel, um Journalisten in ihrer Arbeit zu verunsichern.

Tradition und neue Abhängigkeiten

Bis heute wurzelt das Verständnis der Rolle von Massenmedien in der sowjetischen Tradition. In der UdSSR dienten die Massenmedien allein den Interessen der Partei- und Staatsführung. Die strenge Zensur wurde zwar im neuen Russland abgeschafft, aber das staatsnahe Verständnis von Medien hat sich in der postsowjetischen Gesellschaft ebenso fortgesetzt wie die Selbstzensur in den Redaktionen. Das bedeutet, dass in Russland Zeitungen, Hörfunksender und Fernsehsender vor allem als Instrumente der Machtausübung gelten. Ein journalistisches Verständnis, das Medien als Vierte Gewalt ansieht und vor allem im Dienste des Mediennutzers versteht, ist traditionell unterentwickelt. Das gilt auch für das Selbstverständnis vieler Journalisten, die sich nicht in erster Linie ihrem Leser, Zuhörer oder Zuschauer verpflichtet sehen. Viele russische Kollegen erinnern sich deshalb mit Wehmut an die Zeit von Glasnost und Perestroika, als die strenge Kontrolle der Medien nachließ und eine lebendige gesellschaftliche Debatte vor allem über Fragen der stalinistischen Vergangenheit erblühte. Damals entstanden neue Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender; alte modernisierten und veränderten sich auch in Stil und Sprache. Aber es entstand keine Freiheit der Medien, die sich nachhaltig auswirkte.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gerieten die Medien in der Wirtschaftskrise der 1990er Jahre zunehmend unter finanziellen Druck und immer stärker in die Abhängigkeit von einflussreichen Geldgebern. Einen funktionierenden Werbemarkt gab es nicht und damit wenig Ansatzpunkte für eine Entwicklung unabhängiger, freier Medien. Vielmehr wurde das frühere System der vollständigen staatlichen Subventionierung in Teilen an andere, neue Geldgeber ausgelagert. Zwar verlor der Staat an Einfluss, aber es entstanden neue Abhängigkeiten. Wichtige Interessengruppen, sogenannte "Oligarchen", erwarben große Marktanteile von TV-Sendern, Rundfunkstationen und Zeitungen und begannen diese zunehmend als Sprachrohre für ihre Interessen zu nutzen.

Dabei entstanden die Medienimperien von Boris Beresowski und Wladimir Gussinski, die mit ihren Vermögen aber auch die Arbeit von journalistischen Vorzeigeprojekten absicherten. Besondere Popularität erreichte der landesweite Fernsehsender NTW, dessen professionell gemachte Nachrichtensendungen für kritischen Journalismus in Russland standen und neue Maßstäbe setzten. "Beresowski und Gussinski fühlten sich als Strippenzieher und Schicksalslenker Russlands. Es sah wie Pressefreiheit und mutiger Enthüllungsjournalismus aus, war aber doch nichts anderes als Auftragsarbeit und eine Abbildung der Grabenkriege verschiedener Cliquen im gnadenlosen Kampf um die permanente Umverteilung des Staatsvermögens", hieß es in der Internetzeitung "Russland-Aktuell" in einem Nachruf auf diese Jahre.

Der Wahlkampf 1996 zeigte, wie leicht sich Journalisten und Medien instrumentalisieren ließen. Die meisten prominenten Journalisten schlugen sich damals einseitig auf die Seite von Präsident Jelzin, um einen Wahlsieg der Kommunistischen Partei unter Gennadi Sjuganow zu verhindern. Es gab erbitterte Diskussionen zwischen russischen Kollegen und westlichen Moskau-Korrespondenten, die diesen vorwarfen, den unabhängigen Journalismus nun endgültig zu verraten. Der Sender NTW trug mit massiver Wahlpropaganda zur Wiederwahl von Jelzin bei. "Den Vorwurf undemokratischen Verhaltens und der Verletzung der Pressefreiheit konterte die NTW-Führung damals mit dem Argument, jedes Mittel sei recht, um die Kommunisten zu stoppen", beschreibt "Russland-Aktuell" das Vorgehen des Senders. Als Gegenleistung erhielt NTW landesweite Sendelizenzen und einen günstigen Kredit des Staatsunternehmens Gasprom.

Der Moskauer Journalist Alexej Simonow sieht seine eigene Rolle in dieser Zeit heute sehr selbstkritisch. Der Gründer der Moskauer Stiftung für die Verteidigung von Glasnost beklagt heute, dass die Journalisten ihrer Verantwortung damals nicht gerecht geworden seien und das Ansehen das Berufsstandes selbst nachhaltig beschädigt hätten. "Die Journalisten verrieten ihre Leser und Zuschauer", sagt Simonow heute. "Das war auch mein Fehler. Das hätten wir nicht tun dürfen, aber wir hatten Angst vor der kommunistischen Wiederkehr." Der Journalismus in Russland hat sich aus seiner Sicht davon nicht mehr erholen können und in der breiten Bevölkerung jedes Ansehen eingebüßt, sagt der 72-jährige Wächter über die Pressefreiheit in Russland.

Mit dem Machtantritt des neuen Präsidenten Wladimir Putin begann eine neue Phase der Medienpolitik, in der der Staat sich wieder stärker der Medien bemächtigte. Im Zuge neuer Verteilungskämpfe im Kreml wurden die Medienpäpste Beresowski und Gussinski entmachtet, ihre Medienkonzerne zerschlagen und das System neu strukturiert. Eine Tochterfirma des staatlichen Gasprom-Konzerns übernahm beispielsweise im Frühjahr 2001 den Sender NTW und verwandelte ihn in einen Propagandasender des Kreml. Nach und nach wurden mehrere große Zeitungen und Sender wieder verstaatlicht, Journalisten stärker unter Druck gesetzt und ganze Redaktionen geschlossen. Mit der Errichtung einer neuen zentralen Machtvertikale ging einher, dass auch die öffentliche Meinung wieder stärker gesteuert wurde. ROG führt Putin deshalb seit Jahren als einen der weltweiten "Feinde der Pressefreiheit".

Neue Hoffnung unter Medwedew

Als Russlands neuer Präsident Dmitri Medwedew am 7. Mai 2008 sein Amt antrat, keimte die Hoffnung, dass in den Medien wieder etwas mehr Freiheit einziehen möge. Es war eine ungewöhnliche Geste, dass das neue Staatsoberhaupt den Chefredakteur der "Nowaja Gaseta", Dmitri Muratow, nach dem Doppelmord an dem Moskauer Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasija Baburowa Anfang 2009 zu einem Gespräch in den Kreml einlud und ihm sein Beileid bezeugte. Die beiden waren im Januar 2009 mitten in der Moskauer Innenstadt auf offener Straße erschossen worden.

Auch schien es ein ermutigendes Signal zu sein, dass Medwedew sein erstes Exklusiv-Interview als Präsident im Frühjahr desselben Jahres ebenfalls der kremlkritischen "Nowaja Gaseta" gab. Dieses Signal, dass nun selbst der Präsident zu den Lesern dieses Blattes gehörte, verhalf der Wochenzeitung zu einem enormen Popularitätsaufschwung, von dem sie auch finanziell profitierte. Firmen und Banken, die sich vorher scheuten Werbeanzeigen zu schalten, gehörten plötzlich zu den Anzeigenkunden, als habe das Interview das Blatt aufgewertet.

Medwedew fand deutliche Worte, als ein halbes Jahr später die Menschenrechtlerin und frühere Journalistin der "Nowaja Gaseta", Natalja Estemirowa, in Tschetschenien entführt und ermordet wurde. Der Präsident verurteilte die brutale Ermordung und versprach sich für effektivere Ermittlungen der Polizei bei Journalisten-Morden einzusetzen. Anders als 2006 nach dem Mord an Politkowskaja sendete das staatliche Fernsehen bewegende Nachrufe und zeichnete das Bild einer mutigen Frau, die wegen ihrer Recherchen ermordet wurde. Diese kleinen Zeichen einer Veränderung des gesellschaftlichen Klimas wirkten auf kritische Journalisten und Bürgerrechtler wie eine leise Ermutigung. Der frühere Moskau-Korrespondent Erik Albrecht beurteilt das so: "Unter ihm (Medwedjew) gibt es die Verbesserung im Kleinen. Die Atmosphäre wird offener. Doch an den entscheidenden Stellen, wie dem Staatsfernsehen, an denen er tatsächlich ein Mehr an Demokratie und Meinungsfreiheit bewirken könnte, hält auch Dmitrij Medwedjew am System fest." Auch Simonow schien es, als entstünden mit Medwedew zumindest kleine Freiräume: "Es schien uns, als ob es einen Gegensatz zwischen Putin und Medwedew gebe, und darüber haben die Medien ausgiebig geschrieben. In diesem kleinen Raum entstand ein Stück Freiheit und Raum für Kritik."

Nachdem inzwischen deutlich wurde, dass Putin die Präsidentschaft 2012 wieder übernehmen wird, ist offen, wie er mit der Instrumentalisierung der Medien weiter verfahren wird. Ende Oktober 2011 überraschte die Nachricht, dass Putin den diesjährigen Medienstaatspreis an den zum Invaliden geprügelten russischen Umweltjournalisten Michail Beketow verleihen würde. Damit werden zum ersten Mal Journalisten mit dieser Auszeichnung bedacht, die sich durch offene Kritik an den Machthabern hervorgetan haben. Außer Beketow, der wegen seiner kritischen Berichterstattung aus der Stadt Chimki fast totgeschlagen wurde, gehörte auch die Fernsehjournalistin Irina Petrowskaja sowie die Publizisten Fjodor Lukjanow und Sergej Parchamow zu den Preisträgern. Zum ersten Mal sollte der Regierungschef selbst die Auszeichnung an die Preisträger übergeben.

Trotz solcher überraschenden Gesten zeigt sich der Chefredakteur des Radiosenders "Echo Moskwy", Alexej Wenediktow, überzeugt, dass die Medien für Putin nur ein Mittel der Machtausübung bleiben: "Putin glaubt nach wie vor, die Medien wären ein Mittel zur Lösung von Fragen, ein Instrument. Die Medien sind kein Institut der Zivilgesellschaft, kein Institut des Staates. Sie sind ein Instrument in den Händen des Besitzers." Zwar wird im bevorstehenden Präsidentenwahlkampf im Frühjahr 2012 das Fernsehen erneut die entscheidende Rolle spielen, aber die Bedeutung des Internets wächst.

"Küchengespräche" im Internet

Das Internet gilt in Russland bislang als Reservat der Pressefreiheit. Anders als in China oder im Iran gibt es in der Russischen Föderation keine staatliche Zensur im Netz. Als die US-Organisation "Freedom House" im April 2011 das russische Internet nur als "eingeschränkt frei" charakterisierte, protestierten viele Blogger gegen diese Einschätzung und bestanden darauf, dass das russische Internet frei sei. Die Zahl der regelmäßigen Nutzer steigt beständig und liegt nach Schätzungen des Moskauer Umfrageinstituts WZIOM 2011 bei 40 Prozent der russischen Bevölkerung und damit elf Prozent höher als noch vor einem Jahr. Unter jungen Leuten zwischen 18 und 24 Jahren sollen sich sogar 91 Prozent im Netz tummeln, wobei dabei noch keine Aussage gemacht ist, wie viele von ihnen tatsächlich auf informative Inhalte zugreifen.

Ohne Frage spielt das Internet in Russland eine sehr große Rolle, und die russischsprachige Blogosphäre ist grenzüberschreitend. Die Blogger sitzen nicht nur in der Russischen Föderation, sondern in mehr als 90 Ländern. Über das Internet ist die weitverzweigte russische Diaspora heute aktiver Teil der Debatten im Inland. Kritische Intellektuelle, die in anderen Medien nicht zu Wort kommen, können ihre Stimme erheben und schreiben regelmäßig ihre vielgelesenen Blogs. Die meisten russischen Blogger tummeln sich auf der Massen-Plattform "Live-Journal", liebevoll "Schiwoj Schurnal" oder "Sche-Sche" genannt. Während in westlichen Ländern Blogger meist vereinzelt auftreten und vor allem "Facebook" als wichtigstes soziales Netzwerk dient, ist dies in Russland auf dem "Live-Journal" von Anfang an verschmolzen. Auf diese Weise haben einige bekannte Blogger sehr schnell eine große Leserschaft versammelt und die russische Blogosphäre stärker politisiert als beispielsweise in Deutschland.

Vielen Russen dient die Blogosphäre als moderner Ersatz für die "Küchengespräche" der Sowjetzeit, bei denen über alles gesprochen wurde, was damals in keiner Zeitung stand. Heute wandern viele Themen und Debatten ins Internet und werden dort sehr aufmerksam verfolgt. Längst haben sich im Netz auch hochwertige journalistische Angebote wie Externer Link: www.gazeta.ru etabliert, die als wichtige, glaubwürdige Informationsquelle gelten. Russische Blogger berufen sich gerne auf die Tradition des "Samisdat" in der Sowjetunion, als im Selbstverlag entstandene Schriften in Dissidentenkreisen kursierten und verbotene Texte die Runde machten.

Abseits der größeren Städte bleibt es vielerorts noch schwer, einen Internetzugang zu bekommen. Deshalb ist strittig, wie weit der Einfluss des Internets auf die russische Bevölkerung reicht. Auch der russische Journalist und Blogger Oleg Kaschin zeigt sich skeptisch, ob die Freiheit im Internet wirklich politische Wirkung entfaltet: "Hier lassen die Leute ihren 'Dampf' ab. Gäbe es im Internet diese Möglichkeit nicht, dann wäre in Russland schon millionenfach der 'Arabische Frühling' ausgebrochen. Aber so verbreiten die Unzufriedenen ihren Unmut im Netz." In der Wirklichkeit verändere dies nichts, zeigt sich Kaschin überzeugt. Vermutlich ist es auch deshalb so, dass die Behörden kaum gegen kritische Internet-Medien oder Blogger vorgehen. "Auf die Kampagnen der Blogger reagiert der Staat meistens überhaupt nicht - obwohl viel Geld ausgegeben wird, um Leute anzuheuern, die zu Tausenden die gleichen Kommentare auf den Blogs hinterlassen", so Kaschin. Allerdings würden inzwischen einzelne Posts in den Blogs juristisch verfolgt. Auch gab es inzwischen schon Verurteilungen von Bloggern. Zudem wurde das "Live-Journal" 2011 wiederholt von Hackern attackiert, was einige Blogger dazu veranlasste, auf andere Plattformen zu wechseln. Sorge bereitet auch, dass russische Behörden eine Software testen, mit der schon bald angebliche "extremistische Inhalte" aufgespürt werden sollen.

Nach Darstellung des Chefredakteurs des Radiosenders "Echo Moskwy", Alexej Wenediktow, sind die Machthaber von der Entwicklung des Internets und der sozialen Netzwerke gewissermaßen befremdet. "Putin begegnet dem Internet generell mit Misstrauen. Er nutzt es nicht, im Unterschied von dem jetzigen Präsidenten, der sogar seinen Zeitplan im iPad speichert. Putin meint, das Internet sei die Zone der gefälschten Informationen und des Manipulierens, was bis zu einem gewissen Grad auch stimmt." Während Medwedew selbst bloggt und twittert und sich mit seiner Internetaffinität als moderner Weltbürger präsentiert, spricht bislang wenig dafür, dass Putin diese Sympathie für neue Medien teilt. Ob er es allerdings wagen wird, auch dieses letzte Reservat der Freiheit unter seine Kontrolle zu bringen, werden vermutlich bereits die kommenden Monate seines Wahlkampfes zeigen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Interview d. Verf. mit Leonid Nikitinski im Oktober 2011 in Moskau.

  2. Gemma Pörzgen, Nur Öl und Gas, in: Journalist, (2009) 3, S. 59.

  3. Vgl. Reporter ohne Grenzen, Rangliste der Pressefreiheit weltweit, online: www.reporter-ohne-grenzen.de/ranglisten/die-neue-rangliste-2010.html (9.11.2011).

  4. Vgl. CPJ, Anatomy of Injustice: The Unsolved Killings of Journalists in Russia, online: http://cpj.org/reports/2009/09/anatomy-injustice-russian-journalist-killings.php (9.11.2011).

  5. Vgl. Reporter ohne Grenzen (Hrsg.), Helden und Handlanger: Die Arbeit von Journalisten und Medien in den russischen Regionen, Berlin 2009, online: www.reporter-ohne-grenzen.de/publikationen/rog-atlas-russland.html (9.11.2011).

  6. Von russ. sakas, Bestellung.

  7. Vgl. Es sah aus wie Pressefreiheit, war aber Auftragsarbeit, in: Russland-Aktuell vom 14.4.2006, online: www.aktuell.ru/russland/kommentar/
    es_sah_aus_wie_pressefreiheit_war_
    aber_auftragsarbeit_278.html (9.11.2011).

  8. Vgl. ebd.

  9. Interview d. Verf. mit Alexej Simonow im Oktober 2011 in Moskau.

  10. Erik Albrecht, Putin und sein Präsident. Russland unter Medwedjew, Zürich 2011, S. 149.

  11. Interview (Anm. 9).

  12. Vgl. Kerstin Holm, Michail Beketow, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.11.2011, S. 33.

  13. Briefing in der Association of European Businesses in Russia, in: Russland-Aktuell vom 15.10.2011, online: http://german.ruvr.ru/_print/58769935.html (9.11.2011).

  14. Internet-Nutzer in Russland in der Mehrheit: 53 Prozent, in: Russland-Aktuell vom 29.9.2011, online: www.aktuell.ru/russland/news/internet_
    nutzer_in_russland_in_der_mehrheit
    _53_prozent_30538.html (9.11.2011).

  15. Vgl. Gemma Pörzgen, Demokratische Bastion, in: Medienmagazin Insight, (2008) 2, S. 9-13.

  16. Vgl. Anton Barbashin, Blogosphäre in Russland: Viel Dampf, wenig Veränderung. Interview mit Oleg Kaschin, 3.11.2011, online: www.boell.de/weltweit/europanordamerika/
    europa-nordamerika-blogosphaere-in-russland-ohne-blogs-haette-es-laengst-aufstaende-gegeben-13252.html (9.11.2011).

  17. Briefing (Anm. 13).

Geb. 1962; freie Journalistin, Berlin; Vorstandsmitglied von "Reporter ohne Grenzen". E-Mail Link: gemma.poerzgen@gmx.net