Einleitung
Das Ende der Sowjetunion war eng verbunden mit der Hoffnung auf Rechtsstaatlichkeit und eine unabhängige Justiz. Noch vor dem Systemzusammenbruch hatte Michail Gorbatschow im Rahmen von Perestroika und Glasnost die Entwicklung des "sozialistischen Rechtsstaats" zum politischen Ziel erklärt. Mit dem Auseinanderfallen der Sowjetrepubliken und der daraus resultierenden Unabhängigkeit Russlands verlor das Attribut "sozialistisch" seine Bedeutung, und es schien, als stünde einer Transformation in einen freiheitlichen Verfassungsstaat nach westlichem Vorbild nichts mehr entgegen.
Doch zwanzig Jahre später haben sich diese Erwartungen nicht erfüllt. Die Defizite des Rechtsstaats werden durch offene Schauprozesse unübersehbar. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz ist erschreckend niedrig: Nach einer Umfrage des renommierten Lewada-Zentrums fühlten sich im Dezember 2010 nur 33 Prozent der Befragten in Russland durch das Gesetz geschützt.
Warum ist es bisher nicht gelungen, die Ziele von Perestroika und Glasnost in diesem Bereich umzusetzen? Die politische Führung hat ihre eigenen Erklärungen. Sie verweist auf die schwierige, instabile politische Ausgangslage wie auf die besondere Kultur Russlands. Die volle Entfaltung der Inhalte der Verfassung brauche Zeit. Die Verfassung wird insofern nicht generell in Frage gestellt, allerdings werden ihre freiheitlichen Prinzipien zu Idealen, deren Zeit noch nicht gekommen ist. Dies erinnert an die Verheißungslogik sowjetischer Tage.
Ideen und Hoffnungen
Als Michail Gorbatschow 1988 in den berühmten Thesen des Zentralkomitees der KPdSU zur 19. Unionskonferenz das Ziel der Verwirklichung eines "sozialistischen Rechtsstaats"
Und das Verfassungsgericht schien zu halten, was es versprach:
Aus den politischen Versprechen Gorbatschows wurden Rechtspflichten. Die am 12. Dezember 1993 in Kraft getretene Verfassung erklärt Russland in Artikel 1 zu einem demokratischen, föderalen Rechtsstaat und den Menschen, seine Rechte und Freiheiten in Artikel 2 zum höchsten Wert. Während sich die Russische Föderation gegenüber ihren Bürgern in der Verfassung verpflichtete, tat sie dies gegenüber den europäischen Nachbarstaaten wenige Jahre später mit dem Beitritt zum Europarat am 28. Februar 1996 und durch die Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention am 5. Mai 1998. Es folgten Justizreformen sowie wichtige Neukodifizierungen der Gesetzbücher und Prozessordnungen, etwa des Strafprozessgesetzbuches.
Postsowjetische Realität
Damit ist die Russische Föderation heute kein stalinistischer Willkürstaat mehr. Insbesondere die Wirtschaftsgerichte genießen immer mehr Vertrauen. Eine Befragung von Unternehmern in Russland zeigt, dass sich Gerichtswesen und Rechtsdurchsetzung zwischen 2000 und 2007 spürbar verbessert haben. Vor allem das Vertrauen in die Vollstreckung der Urteile wuchs. Gleichwohl stieg das Vertrauen nicht flächendeckend. Entscheidend ist nach wie vor, gegen wen geklagt wird. So wird die Wahrscheinlichkeit, einen Prozess gegen den Staat zu gewinnen, immer noch als gering eingeschätzt.
Noch deutlicher zeigt sich das Problem der Selektivität von Justiz im Strafprozess. Hier prägen große Schauprozesse das Bild vom Rechtsstaat. Besondere Aufmerksamkeit erregte weltweit der Fall des ehemaligen Öl-Magnaten Michail Chodorkowski.
Auch andere Zielgruppen erhielten Warnungen durch exemplarische (pokazatelnyi) Justiz. Als die mehrfache Mutter und Jukos-Managerin Swetlana Bachima mit dürftigen Beweisen aufgrund ihrer Beteiligung am Jukos-Fall zu einer hohen Haftstrafe verurteilt wurde, war für die Journalistin Anna Politkowskaja klar, dass hier ebenfalls ein Exempel statuiert werden sollte: "Die Jukos-Mitarbeiter betrachteten die Festnahme ihrer Kollegin als Warnung an sich selbst - praktisch für alle im Unternehmen war es offenkundig, dass die Generalstaatsanwaltschaft die Repressalien gegen Jukos bis hinunter zu den einfachen Mitarbeitern ausweitete. Doch die Situation war weit schlimmer: Erhebt man gegen Chodorkovski Beschuldigungen, die sich ohne weiteres an die Adresse der meisten großen Geschäftsleute richten ließen, so kann das Schicksal Swetlana Bachimas jeden einfachen Bürger treffen."
Schauprozesscharakter hatten auch die Verurteilungen im Zusammenhang mit der Ausstellung "Achtung, Religion". Den Künstlern wurde aufgrund von als religionsfeindlich eingeordneten Kunstwerken die Propaganda von anti-religiösem Hass vorgeworfen. Das Verfahren wurde von martialischen Anschuldigungen von Vertretern der Russisch-Orthodoxen Kirche begleitet
Zahlreiche große Verfahren finden daher vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ein neues Forum. Der EGMR wird von Beschwerden aus Russland geradezu überschwemmt: Im Juli 2011 wurden 42.480 anhängige Beschwerden aus Russland gezählt.
Bisher folgt Russland seinen Verpflichtungen aus der Konvention in bemerkenswerter Weise: So zahlt es die vom EGMR für die festgestellten Menschenrechtsverstöße festgelegten Schadensersatzsummen; vom Gerichtshof angemahnte strukturelle Reformen bleiben jedoch in der Regel aus.
Institutionelle Defizite
Die Gründe für die selektive Strafjustiz in Russland sind zunächst in institutionellen Defiziten zu suchen. Diskutiert werden die zu große Abhängigkeit des Richters vom direkten Vorgesetzten, der die einzelnen Fälle den Richtern jeweils individuell zuteilt, sowie intransparente Kriterien für die Einstellung und Entlassung von Richtern.
Allerdings scheint die anhaltende Krise des Justizsystems nicht nur durch das Ausbleiben institutioneller Reformen bedingt. Dies zeigt deutlich der Rückzug des Verfassungsgerichts in eine "selbstverschuldete Unmündigkeit". Eine Institution, die zuvor bewiesen hatte, dass sie strukturell in der Lage war, die Gewaltenteilung zu verteidigen, ging diesen Weg nicht mehr weiter. Das Verfassungsgericht, in den ersten Jahren als mutiger "Hüter über die Verfassung" gepriesen, versäumte es in den Putin-Jahren in wichtigen Entscheidungen, Verfassungsinhalte zu konkretisieren und gegenüber der Politik zu verteidigen. Während es einerseits vermied, sich der Zentralisierung der Staatsgewalt und der Errichtung der Machtvertikale unter Wladimir Putin entgegenzustellen, gelang es ebenso wenig, die Inhalte besonders gefährdeter Grundrechte wie der Meinungs-, der Kunst- oder der Religionsfreiheit
Rechtsnihilismus als Erbe der Sowjetunion?
Präsident Medwedews Forderungen nach mehr Rechtsstaatlichkeit sorgten für viel Aufmerksamkeit. Der "fundamentalen Rolle des Rechts", dem "Eckpfeiler unseres Staates und unserer Zivilgesellschaft", gelte besonderes Augenmerk. Sichergestellt werden müsse die "Achtung vor dem Gesetz" sowie die "Überwindung des Rechtsnihilismus".
Dabei fand im Westen weniger Beachtung, dass seine Forderungen nicht nur der institutionellen Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz, sondern auch einem kulturellen Wandel galten: Durch die sowjetischen Erfahrungen sieht Medwedew das Rechtsbewusstsein der Gesellschaft derart erschüttert, dass auch eine Art gesellschaftliche Umerziehung notwendig sei. Nach den vom Präsidenten veröffentlichten "Grundlagen der staatlichen Politik im Bereich der Entwicklung der rechtlichen Grundkenntnisse und des Rechtsbewusstseins der Bürger"
Dabei greift Medwedew eine uralte Kritik an der angeblichen Rechtsfremde der russischen Kultur auf. Seine Worte erinnern an die berühmten Forderungen des Rechtswissenschaftlers Bogdan Kistjakowski, der der russischen Intelligenzija bereits gegen Ende der Zarenzeit fehlendes Rechtsbewusstsein und mangelndes Interesse an Rechtsfragen vorwarf. Aufgrund des fehlenden Rechtsbewusstseins habe Russland zur Rechtsentwicklung ideengeschichtlich nichts beitragen können.
Andere lehnen die Rechtsidee nicht nur als Instrument der Mächtigen, sondern auch als "westlich" ab: Der Rechtsgelehrte Pawel Nowgorodzeff antwortete Kistjakowski mit Verweis auf die kulturelle Andersartigkeit des Russischen: "Der westeuropäische Gelehrte wird mit dem ihm eigenen Hochmut, im Bewusstsein seiner eigenen Überlegenheit, den ungebildeten und undisziplinierten Osten gar nicht oder wenigstens nicht richtig einschätzen, daß gerade durch die Tatsache, daß wir einen 'Esprit des lois' und einen 'contrat social' nicht haben und nicht haben können, die Eigentümlichkeit unserer Lage unmittelbar hervortritt, und daß das Fehlen von Apologien des Rechtes und des Staates in der russischen Literatur gerade darin seinen Grund hat, daß der russische Geist im ewigen Streben nach dem was höher als Recht und Staat ist seinen Ausdruck findet."
Gleichwohl verkennt diese Sichtweise, dass die russische Rechtsphilosophie auch wichtige Verfechter der Rechtsidee hervorgebracht hat.
Es erscheint heute tragisch, dass diese Entwicklung durch die Oktoberrevolution langfristig zunichte gemacht wurde. Als Ironie der russischen Rechtsgeschichte erwies sich, dass die Bolschewiki das Recht des Zaren zwar ebenso wie Tolstoi als bloßes Machtmittel verurteilten und mit Marx insofern das Abstreben von Recht und Staat forderten, es anschließend aber unter neuen ideologischen Vorzeichen selbst als Machtinstrument für die Erreichung ihrer Ziele missbrauchten. Mit der Oktoberrevolution wurde die Politik auch offiziell über das geschriebene Recht gestellt. Es wurden zwar Verfassungen verabschiedet, diese enthielten jedoch vor allem politische Zielvorstellungen und Prinzipen; grundrechtliche Garantien blieben leere Versprechungen und waren nach westlichem Verständnis nicht justiziabel. Subjektive Rechtsgarantien, die sich im Widerspruch mit den Staatszielen befanden, sind diesem System fremd. Gewaltenteilung wird ebenfalls abgelehnt, weil sie der effektiven Durchsetzung der politischen Ziele entgegenstand. Recht wird wie in der Zarenzeit vom Staat gewährt und ist nicht gegen ihn durchsetzbar.
Mit dieser Tradition zu brechen, wäre die Aufgabe einer Perestroika für die russische Justiz. So mag es in Russland eine historisch oder auch kulturell bedingte Skepsis gegenüber dem Recht geben. Diese wird jedoch offensichtlich dadurch gestärkt, dass die politisch Mächtigen im Rahmen von Schauprozessen auch heute wieder Justizorgane für ihre Zwecke nutzen. Nach der bereits erwähnten Umfrage des Lewada-Zentrums vom Dezember 2010 gaben 46 Prozent der Befragten an, es gebe zu viele, die über dem Gesetz stünden.
Tatsächlich war Putins Amtsantritt eine Wende für die Rechtsstaatsentwicklung. Anders als Medwedew argumentiert Putin offen für den starken Staat und erklärt die liberalen Ideen der 1990er Jahre für gescheitert. Er unterstreicht die Bedeutung der politischen Macht in Zeiten politischer Instabilität und konstruiert die unter dem Schlagwort der Freiheit entstandene wirtschaftliche und soziale Krise der 1990er Jahre zum Gegenbild russischer Staatlichkeit: "Russland wird in der nächsten Zeit nicht, oder sogar überhaupt nicht, eine zweite Auflage der Vereinigten Staaten oder Englands, wo liberale Werte eine große historische Tradition haben." Schlüssel für die "Wiederbelebung und den Aufstieg Russlands" sei die starke Staatsmacht.
Braucht der Rechtsstaat Zeit?
Einen wichtigen Unterstützer in der Justiz findet Putin in Verfassungsgerichtspräsident Waleri Zorkin. Dieser hat wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass die politischen Verhältnisse noch nicht stabil genug seien, um die Verfassungsinhalte voll zum Tragen zu bringen. In dem Aufsatz "Vertrauens- und Staatskrise" zeichnet er ein düsteres Bild der Gegenwart.
Wichtig sei, das optimale Verhältnis zwischen den Normen der Verfassung und der Wirklichkeit in der jeweiligen historischen Entwicklungsetappe zu finden. Der avisierte "Mittelweg" hält an den Verfassungsinhalten fest, verschiebt sie aber auf spätere, stabilisierte Zeiten. In der Entscheidung des Verfassungsgerichts über die faktische Ernennung der Regierungschefs der Subjekte (entsprechen den deutschen Bundesländern) durch den föderalen Präsidenten sah das russische Verfassungsgericht daher keinen Verstoß gegen das Föderalismusprinzip, sondern überließ es der Politik zu entscheiden, wie viel Föderalismus das Land in Krisenzeiten vertrage und wie viel Zentralismus notwendig sei.
Es fragt sich, ob nicht gerade die Verdunkelung der Verfassungsinhalte zu Gunsten der "Stabilisierung" des Staates durch Schauprozesse und einer erneuten Unterordnung der Justiz unter die Politik das Vertrauen der Bürger in die Justiz erneut erschüttert und die Entwicklung von "Rechtsbewusstsein" verhindert hat. Wichtiger als die Erziehung der Bürger zu mehr Rechtsbewusstsein scheint in erster Linie eine politische Elite, die den Rechtsstaat, die Unterordnung der Politik unter das Recht, bedingungslos akzeptiert. Nur so scheint das Vertrauen in die Institutionen gestärkt werden zu können. Dann wäre die Perestroika - der Umbau - des Rechtswesens abgeschlossen. Dies aber ist bisher nicht geschehen, denn die politische Elite will in paternalistischer Tradition