Einleitung
Javier Gomez wird am Flughafen von San Francisco seine Papiere vorweisen, die Sicherheitskontrolle passieren und das Flugzeug nach Mexiko-Stadt besteigen, aufrechten Ganges und ohne Angst. Nicht so wie in der Vergangenheit, in der er fast Jahr für Jahr die Vereinigten Staaten heimlich betrat und verließ, erstmals im Februar 1984 und zuletzt im März 2009, als er sich mit zwölf anderen "illegalen Migranten" auf das Fahrgestell eines Lieferwagens legte, dicht gedrängt und die Schuhe eines Mitpassagiers im Gesicht, und sich während 15 Stunden unter der schweren Teppichmatte nicht rühren durfte, um weder an der Grenze noch bei den häufigen Kontrollen im Hinterland die Aufmerksamkeit der US-amerikanischen Behörden zu erregen.
"Sie haben mir eine Arbeitserlaubnis gegeben", sagt der 52-Jährige in seinem Wohnwagen, der schon einige Jahrzehnte unter den Rädern haben dürfte, und nimmt einen Schluck aus der Bierflasche. Die Stille des Moments wird vom Horn eines Güterzugs durchbrochen, der einige hundert Meter die verlassene Wilson Landing Road hinunter durch die Dunkelheit der Nacht rattert. Danach legt sich wieder Lautlosigkeit über die schier endlosen Baumreihen der Plantagen, welche die Umgebung des nordkalifornischen Städtchens Chico durchziehen. Javier hat die Worte bedächtig und nur mit dem Hauch eines Lächelns gesprochen. Eine Woche, nachdem er die Nachricht vom Migrationsamt in der Hauptstadt Sacramento im Briefkasten liegen sah, scheint ihm der Vorgang noch immer ungeheuerlich, fast unfassbar zu sein. Lange ist er ein "Illegaler" gewesen.
Seine Familie, die in der Gemeinde Tláhuac im Süden von Mexiko-Stadt wohnt, lässt er noch im Ungewissen. "Ich will meine Frau und die anderen überraschen", erklärt Javier. In knapp zwei Monaten wird seine älteste Enkelin 15 Jahre alt. Die rauschende fiesta de quinceañera markiert in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern den Übergang vom Mädchen zur jungen Frau. Spätestens dann will Javier zuhause sein. Zuvor müssen noch die Nussernte eingefahren und der ersehnte Ausweis in San Francisco abgeholt werden. Die mit Holztapete verkleideten kleinen Schränke über der braun-grauen Sitzcouch quellen bereits über mit Weihnachtsgeschenken. Dank der harten Dollars, die Javier seit 1984 in die Heimat schickt, hat seine Familie in Tláhuac ein kleines Grundstück kaufen und darauf ein Haus bauen können. Die drei Kinder verließen die Schule nicht wie er nach sechs Jahren, sondern mit dem Abitur in der Hand. Seine Ehefrau Rosa María Villanueva hat die Geldsendungen verlässlich verwaltet und Javier über die Jahre und Distanzen hinweg die Treue gehalten. Wie sie betont auch er, das strenge Regime der meist alleinerziehenden Mutter habe verhindert, dass die Familie wie jene anderer Arbeitswanderer an der zermürbenden Trennung zerbrochen sei. Das Visum erscheint wie die Krönung dieser Aufstiegsgeschichte. Doch lassen weder das zurückhaltende Naturell Javiers noch die Enge und Einsamkeit im Wohnwagen die Freude überschäumen. Hier koche er alleine, schlafe er alleine, rauche er alleine, hat er beim Vorstellen seines abgelegenen Heimes gesagt.
Gewohnheiten aus dem pueblo
Bis vor vier Jahren hatte Javier im nahen Städtchen Hamilton mit mexikanischen Arbeitskollegen eine Wohnung geteilt. Doch hätten diese oft übermäßig getrunken und Marihuana geraucht. Obwohl ihm viel an Geselligkeit und Freundschaften liege, sei ihm dies gegen den Strich gegangen. Viele Landsleute, die wie er meist ländlichen und einfachen Verhältnissen entstammen, führten sich wie in ihrem pueblo, ihrem Heimatdorf, auf. Sie setzten sich betrunken ans Steuer, verursachten Unfälle und meinten, alles mit Geld regeln zu können. "Aber hier müssen die Gesetze eingehalten werden", meint Javier. Deshalb nehme er immer eine Decke mit, um nach einem Fest im Auto zu schlafen. Deshalb achte er peinlich darauf, dass die Verkehrspolizei an seinem alten Buick nichts zu beanstanden habe. Und deshalb bezahle er stets pünktlich Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Bei seinem Visumantrag sei ausschlaggebend gewesen, dass er sich nie etwas zuschulden habe kommen lassen, berichtet Javier nicht ohne Stolz. Die illegale Überquerung der Grenze ist für ihn kein moralisches, schuldbehaftetes Problem. Er muss arbeiten, Geld verdienen.
Am folgenden Tag arbeitet Javier nicht, wie während der Ernte von Montag bis Samstag üblich, von 7 bis 19 Uhr. Es ist Sonntag. Darum kann er mich bereits am frühen Nachmittag durch die Baumplantagen der McGowans fahren. Seitdem ihm sein jüngerer Bruder Francisco 1986 Arbeit bei dieser Farmerfamilie besorgt hat, schuftet Javier in ihren Diensten. Damals pflanzten die McGowans im südlich von Chico gelegenen Gemeindehauptort Butte City Reis an. Dieser wurde an die Brauerei Anheuser Busch geliefert, weshalb Budweiser noch heute Javiers bevorzugtes Feierabendbier ist. Erst putzte er die Geräte, dann brachte ihm Francisco die Bedienung der Maschinen bei. Als sich die McGowans auf den Anbau von Pflaumen, Mandeln und Nüssen in Chico beschränkten, musste Javier erneut angelernt werden. Mittlerweile fest etabliert, verdient er 12,50 Dollar pro Stunde. Ein Anfänger erhält acht Dollar. "Ich könnte wie andere Kollegen bis zu 20 verdienen. Dazu müsste ich jedoch Englisch sprechen, fügt Javier hinzu. Sein Patron Richard McGowan habe ihm angeboten, den Unterricht und gar den Lohnausfall zu bezahlen. Aber mit dieser Sprache stehe er auf Kriegsfuß.
Weil Richard McGowans Betrieb am Sonntagnachmittag ruht, suchen wir die nahe gelegene Anlage von dessen Bruder Henry auf. Zwei Mexikaner lenken die Baumnüsse von großen Containern auf ein Förderband, an dem vier Mexikanerinnen stehen, um die minderwertigen Stücke auszusortieren. Danach werden die Nüsse maschinell gewaschen, getrocknet und auf einen Lastwagen verladen. Henry McGowan gräbt mit einem Traktor das Wasser ab, das aus der Waschanlage sickert. In Butte City war er Javiers Arbeitgeber gewesen. Als er ihn sieht, steigt er unverzüglich herunter und kommt zu uns herüber. "Ohne die Mexikaner funktionierte die kalifornische Landwirtschaft nicht", sagt er, ein kleiner, kräftiger und sympathischer Mittfünfziger. Seit 20 Jahren habe er keinen weißen Amerikaner mehr beschäftigt. "Die suchen spätestens nach zwei Tagen das Weite. Sie halten die Hitze und die Härte der Arbeit einfach nicht aus."
Hat sich Javier nie ausgebeutet gefühlt? Er verneint entschieden. Die McGowans hätten ihn immer gut behandelt. Sie seien harte Arbeiter, die selber Hand anlegten. Deshalb verzichteten sie auf fremde Gutsverwalter. Solche mayordomos seien oft selbst mexikanischer Abstammung, die ihre Stellung ihrer Zweisprachigkeit verdankten. Obwohl ihre Vorfahren ebenfalls illegal eingewandert seien, fühlten sie sich den einfachen Landarbeitern, den campesinos, überlegen. Meistens seien sie es, welche die Arbeiter rücksichtslos behandelten. Weil in Chico kleine Familienbetriebe überwögen, seien die Arbeitsbedingungen relativ gut. Selbstredend denkt Javier dabei an sein kurzes Erwerbsleben in Mexiko, nicht an die Verdienstmöglichkeiten und Annehmlichkeiten im drei Fahrstunden entfernten Silicon Valley.
Die Zufriedenheit hängt eben vom Maßstab ab. Javiers Bruder Francisco, den wir im Südwesten Chicos besuchen, sagt, er habe den amerikanischen Traum verwirklicht. Da er als damals Lediger nicht wie Javier alljährlich nach Mexiko zurückkehrte, erfüllte er 1986 die Bedingungen, um von einer Amnestie der Regierung Ronald Reagans zu profitieren und seinen Aufenthaltsstatus zu legalisieren. Ein zinsloses Darlehen des Staates erlaubte ihm vor elf Jahren, ein kleines Reihenhaus zu erstehen. Doch seinen drei Kindern, hier geboren und somit US-amerikanische Staatsbürger, solle es später noch besser gehen: "Mit ihrer Ausbildung können sie etwas anderes anstreben, eine Anstellung in einem Büro, mit Klimaanlage", erzählt er in seinem Wohnzimmer, mit den Füßen in Filzpantoffeln und dem Blick auf den Fernseher gerichtet. Es läuft der lauthals kommentierte clásico der mexikanischen Fußballmeisterschaft zwischen Club América aus der Hauptstadt und Chivas aus Guadalajara.
Während Javier in Gedanken dauernd in Mexiko weilt, hat Francisco in Chico Wurzeln geschlagen. Ansprüche und Lebensweise der Nordamerikaner sind ihm wegen der Kinder weit weniger fremd. Aber sehen er oder seine Ehefrau fern, dann nur auf mexikanischen oder spanischsprachigen US-Kanälen. Wie sehr die rund 49 Millionen in den USA lebenden Latinos ihrer Herkunftskultur und -sprache verbunden bleiben, hat sich zwei Tage zuvor bei der Vergabe der Übertragungsrechte für die nächsten Fußballweltmeisterschaften gezeigt. Während der englischsprachige Sender Fox News 400 Millionen US-Dollar bezahlte, waren sie Telemundo, der ganz auf die fußballverrückten hispanics ausgerichtet ist, 600 Millionen wert. Francisco hat draußen an der Eingangstüre einen Anschlag angebracht, auf dem geschrieben steht: "Dies ist ein katholisches Haus. Es lebe die Jungfrau von Guadalupe!" Er hofft, die mexikanische Nationalheilige verscheuche die hartnäckigen Hausmissionare der Mormonen, Evangelikalen und Zeugen Jehovas.
Dem Krebseimer entkommen
Die United Farm Workers of America (UFWA) sind die wichtigste Landarbeitergewerkschaft in Kalifornien. Haben sich die Gebrüder Gomez ihr angeschlossen? Sie haben nicht einmal von ihr gehört. Die relativ guten Arbeitsbeziehungen in den Kleinbetrieben Nordkaliforniens seien ein Grund für die fehlende Präsenz der UFWA in dieser Gegend, sagt Juan-Miguel Rubio, ein Gewerkschaftsfunktionär, der vor 15 Jahren illegal eingewandert ist. Wir sitzen in einem mexikanischen Restaurant in Santa Rosa, eine knappe Autostunde nördlich von San Francisco. Die UFWA seien im Weinanbau des nahen Napa Valley und im Gemüseanbau des Central Valley zwischen San Francisco und Los Angeles stark engagiert, fährt Rubio fort. "Dort sind riesige Unternehmen tätig, bei denen die Arbeitsbedingungen tendenziell schlecht sind und es am meisten zu verteilen gibt." Doch die Gewerkschaft ist schmächtig. Von den gut 400000 Agrararbeitern in Kalifornien gehören ihr bloß 5000 an. Dass 80 Prozent der Arbeiter "illegale Einwanderer" seien, bringe sie in eine noch schwächere Position, sagt Rubio. Natürlich komme es so zu Ausbeutung. Laut den UFWA sind auf den Feldern des Sun State seit 2005 mindestens 16 Personen allein an den Folgen der Hitze gestorben.
Javier Gomez verknüpft sein Schicksal nicht mit jenem eines Kollektivs. Er schreibt es seinen individuellen Anstrengungen zu, dass ihn das Glück, die McGowans als Arbeitgeber zu haben, nicht verlassen habe. Als Mitglied einer benachteiligten Klasse sieht er sich nicht. Das Kollektiv, dem er sich am meisten verbunden fühlt, ist seine Nation. Auch in Mexiko hat der Nationalismus über alle andere Großideologien und -identitäten gesiegt. Angesichts seiner Landsleute kann seine erklärte Liebe zum Vaterland aber schon leiden. Davon zeugen die Bemerkungen über seine ehemaligen Mitbewohner in Hamilton. Dafür sprechen seine Erfahrungen, die er auf seinen Wanderungen durch Südkalifornien gemacht hat. "In Los Angeles fühlt man sich wie in Mexiko. Überall sind Bettler und Betrunkene zu sehen", sagt er nachdenklich.
In Mexiko kennt jedes Kind die teoría del cangrejo, nach der sich die Menschen wie die Krebse in einem Eimer verhalten: Ist einer drauf und dran, über den Rand in die Freiheit zu gelangen, ziehen ihn die anderen wieder hinunter. Die Metapher verweist darauf, dass sich mexikanische Auswanderer im Gegensatz etwa zu kubanischen oder chinesischen viel seltener organisieren, gegenseitig unterstützen und so rasch sozial aufsteigen. Dass die Mexikaner in den USA und insbesondere in Kalifornien dennoch Ängste hervorrufen, hat mit ihrer Zahl und der Vergangenheit zu tun. 32 Millionen Einwohner gaben beim US-Zensus 2010 an, mexikanischer Herkunft zu sein. In Kalifornien machen die hispanics, die fast ausschließlich aus dem südlichen Nachbarland stammen, 38 Prozent der Bevölkerung aus, im Süden des Gliedstaates gar die Hälfte. Die politische Sprengkraft dieser demografischen Fakten wird durch einen Umstand erhöht, den Javier bei der Fahrt durch die fruchtbare Landschaft etwas nostalgisch und eher beiläufig erwähnt: "Das alles gehörte einmal zu Mexiko."
California is different
Die irischen Vorfahren der McGowans errichteten 1835 ihre erste Ranch in Kalifornien tatsächlich auf mexikanischem Boden - in Alta California (Oberkalifornien). Während die Halbinsel Baja California (Niederkalifornien) vom Dominikanerorden christianisiert worden war, hatte der spanische Vizekönig in Mexiko-Stadt das Gebiet nördlich davon den Franziskanern zugeschlagen. Dem Heiligen Franz von Assisi zu Ehren errichteten die Mönche 1776 die Mission San Francisco, der Keim der heutigen Weltstadt. Als Mexiko 1821 von den spanischen Kolonialherren die Unabhängigkeit erlangte, wurde Oberkalifornien Teil eines riesigen und kaum bevölkerten Landes mit einem fragilen Staat. Der geografischen Expansion der vor Energie strotzenden und von missionarischem Sendungsbewusstsein berauschten USA hatte Mexiko nichts entgegenzusetzen. Erst verlor es das Gebiet des heutigen Texas, das sich 1836 mit Unterstützung Washingtons für unabhängig erklärte, und nach dem Krieg von 1846/1847 musste es auch die nachmaligen US-Gliedstaaten Arizona, New Mexico und Kalifornien an die USA abtreten.
Der Lateinamerikanist Barry Carr erzählt in seinem Büro an der University of California in Berkeley, Kalifornien habe seine spanisch-mexikanische Vergangenheit ab den 1920er Jahren wiederentdeckt - als Mittel der Reisewerbung. "California is different", habe das Motto gelautet. Versprochen wurde die sichere und bequeme Erkundung einer fremdländisch anmutenden, weil nicht angelsächsisch geprägten Gegend Amerikas. Mit Blick auf den verstärkten Autotourismus wurden die verfallenen Missionen renoviert und mit Straßen erschlossen. "Es war ein sehr oberflächlicher Gebrauch der Geschichte", befindet Carr. Der Enthusiasmus, mit dem das kulturelle Erbe für die Touristen aufgefrischt wurde, kontrastierte mit dem Argwohn gegenüber den mexikanischen Arbeitern, die von der Landwirtschaft seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in immer größerer Zahl angeheuert wurden.
Erst vor wenigen Wochen hat der kalifornische Gouverneur Jerry Brown mehrere Gesetzesreformen zugunsten von illegalen Immigranten und deren Kindern unterzeichnet. College-Studenten ohne gültige Papiere dürfen fortan private und staatliche Stipendien beantragen. Lokalbehörden ist künftig untersagt, Arbeitgeber zur Benutzung von "E-Verify" zu zwingen, einer Datenbank der Bundesregierung zur Überprüfung des Aufenthaltsstatus von Arbeitnehmern. Die Rechte von Landarbeitern und ihren Gewerkschaften, allen voran der UFWA, werden gestärkt. Browns demokratische Parteikollegen loben, leistungsstarke und dringend benötigte Studenten und Arbeiter würden endlich belohnt. Die republikanische Opposition dagegen grollt, alle ehrlichen Einwanderer müssten sich wie Idioten vorkommen. Der Politologe Dan Schnur von der University of Southern California bemerkt in einer Zeitung, die Gesetzesänderungen hätten erstaunlich wenig Staub aufgewirbelt: "Vor fünf Jahren wären sie riskant und vor 15 oder 20 Jahren glatter politischer Selbstmord gewesen."
Mit den Reformen grenzt sich Kalifornien eben nicht nur gegen den rechtskonservativen Furor ab, der seit dem vergangenen Jahr Bundesstaaten wie Alabama, Arizona, Georgia oder South Carolina laut der "New York Times" in einem Wettbewerb um die restriktivsten Einwanderungsgesetze hat "Amok" laufen lassen. Die politische Geste bedeutet auch eine Abkehr von der eigenen Vergangenheit. Die 1990er Jahre waren in Kalifornien ein Jahrzehnt offen ausgetragener ethnischer Spannungen. Am berühmtesten und berüchtigtsten war der Fall des Schwarzen Rodney King, der 1991 von weißen Streifenpolizisten grundlos geprügelt wurde, was wochenlange Unruhen in Los Angeles auslöste. Im selben Jahr erschossen zwei asiatische Ladenbetreiber vermeintliche schwarze Diebe und kamen praktisch straflos davon. Diese Dynamik erfasste auch die Mexikaner - und wurde von ihnen angetrieben.
Am 8. November 1994 stimmten 59 Prozent der kalifornischen Wähler für die Annahme der "Save Our State" genannten Initiative, die die Abschaffung zahlreicher Rechte von "illegalen Einwanderern" verlangte, aber letztlich auf juristischem Wege an ihrer teilweisen Verfassungswidrigkeit scheitern sollte. Dass am Vorabend in Los Angeles 700000 Menschen gegen sie protestiert und etliche von ihnen die mexikanische Fahne geschwenkt hatten, vertiefte bei vielen die Angst vor einem Identitätswandel Kaliforniens. Das Gespenst der reconquista ging um, lange bevor 2004 der Politologe Samuel Huntington in seinem kontrovers diskutierten Buch "Who are we?" vor ihr warnen sollte. Als am 15. Februar 1998 die Fußballnationalteams der USA und Mexikos im Los Angeles Coliseum aufeinandertrafen, wurden Hymne und Mannschaft der Gastgeber mit Schmähungen überzogen. Die weißen Amerikaner waren unter den 91000 Zuschauern eine Minderheit. Am folgenden 2. Juni befürworteten 61 Prozent der Kalifornier eine Volksinitiative, mit der bilinguale Programme an öffentlichen Schulen de facto beendet und durch Intensivunterricht in Englisch ersetzt wurden. Beobachter werteten dies auch als ein Ausrufezeichen gegen die Verbreitung der spanischen Sprache.
Zahlreiche Weiße zogen in diesen Jahren vom Süden in den Norden Kaliforniens, wo noch heute die angelsächsischen Protestanten die Norm sind. Mit 14 Prozent ist der hispanische Bevölkerungsanteil in Butte County, in dem Chico liegt, recht gering. Ob dies ein Grund ist, weshalb sich Javier nie vor Anfeindungen oder gar Razzien gefürchtet hat? Die Tatsache, dass Alabama, wo Latinos bloß vier Prozent der Einwohner ausmachen, das bisher strengste Gesetz gegen illegale Einwanderer verabschiedet hat, lässt Zweifel an diesem Zusammenhang aufkommen. Wieso also erscheint der weiße Nachbar, der sich vor einigen Jahren fürchterlich daran störte, dass Francisco mexikanische Musik hörte und deshalb wegzog, nicht als Beleg von verbreiteter Fremdenfeindlichkeit, sondern höchstens von einem nicht gänzlich ungetrübten Zusammenleben?
"Die meisten Kalifornier leben erst seit wenigen Generationen hier. Das Bewusstsein, dass letztlich alle Einwanderer sind, ist dadurch noch ausgeprägter als anderswo", begründet der Historiker Barry Carr. Zudem seien die Demokraten in Kalifornien - in wachsendem Maße dank der hispanischen Wählerschaft - traditionell stark. Farmer Henry McGowan, der von den veritablen Hetzjagden gegen Latinos in anderen Bundesstaaten noch nie gehört haben will, reibt sich den Schweiß von der hohen Stirn und sagt mit einem Grinsen: "In Alabama ist doch völlig egal, ob die Migranten fliehen! Was geht dort deshalb schon kaputt? Wenn die Politiker aber uns die Mexikaner vertreiben, kriegen sie mit der Agrarlobby ein echtes Problem. Nein, mit der wollen sie sich nicht anlegen." Er selber beschäftige ohnehin nur Arbeiter mit gültigen Papieren, sagt er. Die fällige Buße von 10000 Dollar pro "Illegalem" wolle er nicht riskieren.
Eine Frage, die ich mir schon im Sommer beim Besuch der Familie Gomez Villanueva im Süden von Mexiko-Stadt gestellt habe,