Reisen und Tourismus sind per definitionem mit der Aneignung "fremder" Räume verknüpft, die für einen begrenzten Zeitraum aufgesucht, durchwandert, bereist und besichtigt werden. Mobilität ist immer eine Form der Raumaneignung, stellt also ein "Raumphänomen" dar. Dabei ist Raum nicht als gegebene physische und natürliche Umwelt zu verstehen, sondern er unterliegt – wie andere gesellschaftliche Kategorien, mit denen er in Wechselwirkung tritt – einer sozialen Konstruktionsleistung.
Im Folgenden werden die vielfältigen Verbindungslinien zwischen (touristischem) Reisen und "Erobern" in den Fokus gerückt, wobei Letzteres im Sinne unterschiedlicher Formen der Aneignung fremder Räume in der Ortsveränderung verstanden wird. Basierend auf Zugangsweisen und Erkenntnissen der Post- und Dekolonialen Theorie werden Wechselwirkungen zwischen Tourismus/Reisen und Raum hinsichtlich gesellschaftlicher Asymmetrien und (post)kolonialer Strukturen beleuchtet. Dargelegt wird jeweils, wie die europäische koloniale Expansion und daraus resultierende Vorstellungen und Diskurse historische Reisepraktiken prägen, und wie sich diese in weiterer Folge im modernen Ferntourismus auf vielfältige Weise manifestieren. Deutlich zeigt sich hier, dass sowohl Rahmenbedingungen und Strukturen als auch Motive und Vorstellungen des modernen Tourismus nur vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen verständlich werden.
Mobilität und Reisen aus intersektionaler Perspektive
Reisen war (und ist) immer mit gesellschaftlichen Hierarchien verknüpft, manifestieren sich doch nicht zuletzt hier gesellschaftliche Disparitäten. So war Mobilität in der europäischen Geschichte aufgrund der bestehenden Gesellschaftsstrukturen, Normen und Werte lange nur bestimmten gesellschaftlichen Gruppen zugänglich.
Allerdings waren hierfür sowohl geschlechts- als auch schichtspezifische Barrieren eingezogen: Die Bildungsreise sollte den jungen Männern des wohlhabenden Bürgertums vorbehalten bleiben, galt sie doch im Wesentlichen als Vorbereitung für den beruflichen Lebensweg.
Die Frage der Teilhabe an Reisemöglichkeiten ist auch in globaler Hinsicht relevant. So verlief die transatlantische Mobilität im Zuge der europäischen Expansion quasi monodirektional von den imperialen Zentren in die kolonialen Peripherien. Deren BewohnerInnen gelangten – mit wenigen Ausnahmen – nur dann nach Europa, wenn sie von Forschungs- und Entdeckungsreisenden auf ihren Schiffen mitgenommen wurden, sei es freiwillig oder erzwungen.
Identitätsbildung durch "Fremderfahrung"
Wie dargelegt, wies das aufgeklärte Bürgertum dem Reisen und der Kategorie "Erfahrung" ein identitätsstiftendes Potenzial zu, ging es doch darum, sich von der "gottgewollten", ständisch strukturierten Gesellschaftsordnung zu emanzipieren.
So zeigte der Literaturwissenschaftler Edward Said, dass sich Europa erst durch die ständige Auseinandersetzung mit dem "Orient" – den er nicht als geografische Größe, sondern als Vorstellungskomplex des "Okzidents" verstand – seiner selbst bewusst wurde. Die europäische Kultur habe an Stärke und Identität gewonnen, indem sie das Eigene vom Gegenbild des orientalischen Anderen abhob. Said, ein wesentlicher Mitbegründer der Colonial Discourse Theory und Postcolonial Studies, sah im Orientalismus-Diskurs – in Anlehnung an Michel Foucaults Diskursbegriff – ein Herrschaftsinstrument des Westens: Es gehe um die "Orientalisierung" und "Zurichtung" des Orients nach eigenen Vorstellungen, um durch Repräsentation von außerhalb und hegemonialer Kulturproduktion Autorität zu gewinnen.
Auch der Soziologe Stuart Hall zeigte auf, dass sich erst durch den Vergleich mit nichteuropäischen Gesellschaften im Rahmen der europäischen Expansion eine spezifische westliche Identität herausbildete: Differenz schuf hier die Überzeugung eigener "Einzigartigkeit".
Koloniale Expansion als Mobilitätsmotor
Durch den globalen Warenverkehr im Kontext der kolonialen Expansion Europas hatte sich Ende des 16. Jahrhunderts ein funktionierendes maritimes Verkehrsnetz etabliert, das sich schließlich im 18. Jahrhundert maßgeblich verdichtete, wodurch auch transatlantische Migrationsströme gefördert wurden.
Ein weiterer "Mobilitätsschub" ging im 19. Jahrhundert von Forschungsexpeditionen aus. Ihre Aufgabe war nicht nur die "Entdeckung" und wissenschaftliche Erkundung bislang in Europa unbekannter Gebiete, sondern auch die Aufteilung der Welt unter den westlichen Kolonialmächten.
Den "Entdeckern" brachten derartige Unternehmungen erheblichen Ruhm ein, was auch deren Bedeutsamkeit für die europäische Welt zum Ausdruck bringt. Wie die Entdeckungen selbst wurden sie idealisiert und heroisiert: Sie hätten sich aufgeopfert, um Fortschritt und Zivilisation in die Welt zu bringen. Diese "Heldenerzählungen" des 19. Jahrhunderts wurden über Generationen hinweg tradiert, heute werden sie im Zuge postkolonialer Kritik zunehmend hinterfragt.
Weibliche Eroberer
Auch reisende Europäerinnen, die im 19. Jahrhundert auf dem gesamten Globus vermehrt Spuren hinterließen, wollten sich in die europäische Erfolgsgeschichte von Forschung und Entdeckung einschreiben. Doch hatten Frauen aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen weitaus geringere Möglichkeiten als ihre männlichen Kollegen, bahnbrechende "Entdeckungen" zu machen. Um den Ruhm für ein solch prestigeträchtiges Unterfangen für sich zu beanspruchen, bedurfte es einer spezifischen Leistung, nämlich als erste(r) einen bestimmten Ort, eine Region oder eine Menschengruppe erreicht und damit "entdeckt" zu haben. Wenn schon nicht als erste(r) Angehörige(r) des Westens, dann zumindest als erste Europäerin oder als erste weiße Frau, wie Reiseschriftstellerinnen oft betonten.
Hier kam es zu interessanten Verschiebungen sozialer Kategorien: Einerseits hoben Reiseschriftstellerinnen ihre Weiblichkeit in besonderem Maße hervor, andererseits betrieben sie ihre "Vermännlichung": Mit den Bildern der "mutigen", "heldenhaften" Reisenden wurde der "männliche Heldenethos" auf Frauen übertragen.
Sehnsucht nach dem "wahren" Leben
Der Eroberungshabitus europäischer Reisender des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zeigt sich auch daran, dass sie unaufgefordert in die Häuser völlig fremder Menschen eindrangen, häufig mit dem Anspruch, Kultur und Lebensweise kennenzulernen oder auch "erforschen" zu wollen. An der Rechtmäßigkeit dieser Vereinnahmung fremder Räume wurden keinerlei Zweifel formuliert.
Auch heute drängt es westliche TouristInnen, Grenzen der Privatsphäre in weit entlegenen Regionen zu ignorieren. Dieses Bedürfnis, einen "Blick hinter die Kulissen", auf das "wahre" Leben, auch auf das Arbeitsleben der GastgeberInnen zu erhaschen, bewog den Anthropologen Dean MacCannel zu seinem Konzept unterschiedlicher touristischer Räume, die er als front und back stage bezeichnete. Da die Menschen vor Ort das Eindringen in ihr privates Leben keineswegs akzeptieren würden, sei die Zugänglichkeit von Räumen unterschiedlich gestaltet. Die "Vorderbühne" ist grundsätzlich für die touristische Begegnung vorgesehen, die back stages sollen vor den aneignenden Blicken der Reisenden geschützt werden. Doch handelt es sich eigentlich um idealisierte Endpunkte eines Kontinuums, auf dem sich eine Reihe von front regions befinden, die so gestaltet sind, dass sie als back regions erscheinen, und umgekehrt werden entsprechend gestaltete back regions dafür verwendet, um beispielsweise Außenstehende zu beherbergen.
Es geht also nicht um eine tatsächliche Binarität zwischen Echtem und Unechtem, Vorder- und Hinterbühne, und auch nicht wirklich um Authentizität, sondern um symbolische Strukturen und deren "diffuse Effekte". Letztlich ist die back region eine (touristische) Illusion, eine Phantasie, die auf spezifischen Vorstellungen und Erwartungen der TouristInnen beruht. Diese bestehen in der begierigen Suche nach dem Authentischen hinter den Kulissen, die hervorgebracht wird von der Sehnsucht nach wahrer Intimität, nach ursprünglicher Natur und dem einfachen Leben.
Ähnliche Motive prägen den Ethnotourismus, der ebenfalls von der Suche nach dem Authentischen getragen wird, nach Natürlichkeit, Ganzheit und Spiritualität, die in der entfremdeten und säkularisierten Lebensweise der westlichen Gesellschaft endgültig verloren zu sein scheinen. In den Projektionen der EthnotouristInnen wird damit der ideengeschichtliche Diskurs der Aufklärung fortgeschrieben, der nicht zuletzt getragen ist von Zivilisationsflucht und Zivilisationskritik und der Figur des "Edlen Wilden". Doch ortet der Ethnologe Andreas Obrecht im Aufsuchen "exotischer Orte" und außereuropäischer Gesellschaften auch die "grenzenlose Lust" an Entdeckung und an der Terra Incognita, letztlich eine "Projektionsfläche der Sehnsucht nach wirklichem Abenteuer".
Darüber hinaus sind die "bereisten" ethnischen Gesellschaften oft marginalisierte Minderheiten im eigenen Land. Ob die (meist sehr kurzen) Besuche – trotz des Interesses der TouristInnen an "kultureller Diversität und Andersheit" – tatsächlich dazu dienen, die Lebensweise der Menschen näher kennenzulernen, oder nicht vielmehr die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Reisenden aus dem Globalen Norden befriedigt werden sollen, gilt es kritisch zu hinterfragen.
Zur Kolonialität des Tourismus
Der moderne Ferntourismus wird in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zunehmend hinsichtlich seines "kolonialen Gehaltes" analysiert. Aufgrund seiner historischen Verflechtungen mit der europäischen Expansion sei er – so die einhellige Meinung – nicht nur in postkoloniale Beziehungen eingebettet, sondern bestätige und verstärke diese hierarchischen Strukturen fortwährend.
Wesentliche Impulse lieferte hier der Anthropologe Dennison Nash, der den Fokus seiner Analyse auf die ökonomischen Zentren im Globalen Norden richtete. Er erkannte den Schlüsselfaktor für den modernen Tourismus in der Produktivität der westlichen Industrienationen, wo genügend Überschuss produziert wird, um Reisen im Sinne von Freizeitaktivität überhaupt zu ermöglichen. Gleichzeitig entstünden im Rahmen dieses ökonomischen Systems erst touristische Bedürfnisse. Darüber hinaus übten die westlichen Industrienationen – nicht zuletzt aufgrund ihrer ökonomischen Überlegenheit – ein hohes Maß an Kontrolle über die Zielregionen aus. Aufgrund dieser Machtposition beschrieb Nash die globalen Zentren als imperialistisch und den Tourismus als "eine Form des Imperialismus".
Der heutige westliche Ferntourismus führt vielfach in Länder des Globalen Südens, bei denen es sich meist um ehemalige Kolonien oder quasi-koloniale Räume handelt. Hier bestehen koloniale "Überschreibungen" fort, weshalb der Tourismusforscher Karlheinz Wöhler von "postkolonialem Reisen" spricht. Insbesondere ländliche und marginalisierte Bevölkerungsgruppen werden "touristifiziert" und "vermarktet", wobei eine Verräumlichung der Zeit erfolgt, indem diese entfernten Kulturen weit in die Vergangenheit zurückversetzt und gleichzeitig als rückständig und vormodern dargestellt werden.
Die (Post-)Kolonialität touristischer Beziehungen zeigt sich somit auch durch den Rückgriff auf einen Komplex westlicher Vorstellungen und damit zusammenhängender Praktiken, die wir heute als "koloniale Diskurse" bezeichnen. Sie basieren im Wesentlichen auf der Dualität zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten, auf binären Oppositionen und gleichzeitiger Hierarchisierung zwischen dem "Eigenen" und dem "Fremden", verbunden mit spezifischen Wertungen. Die diskursiven Strategien funktionieren auf Basis von Stereotypisierung und Homogenisierung, enthalten gleichzeitig Idealisierung und "Wunschphantasien", aber auch "Erniedrigungsphantasien" und "Rituale der Herabwürdigung". Diese Diskurse stehen in einer Matrix von Wissen und Macht, etablieren Wahrheit und schaffen damit Realität, wobei das in diesem Kontext geschaffene Wissen den Interessen einer bestimmten Gruppe von Menschen dient.
So konnten in einer groß angelegten Untersuchung US-amerikanischer Tourismusbroschüren und unter Heranziehung Postkolonialer Theorien drei touristische "Mythen" mit entsprechenden Repräsentationsmustern identifiziert werden, die unmittelbar auf koloniale Diskurse rekurrieren. Diese Mythen sind regional unterschiedlich verortet und bedienen jeweils andere touristische Bedürfnisse und Erwartungen.
Tourismus dekolonisieren – ein Ausblick
Bis hierhin mag der Eindruck entstanden sein, dass Reisen und Tourismus ausschließlich negativ zu beurteilen und letztlich abzulehnen seien. Dem ist jedoch nicht so: Tourismus ist weltweit einer der bedeutendsten Wirtschaftsfaktoren, mit beachtlichen jährlichen Wachstumsraten – zumindest bis 2020, als Corona-Pandemie und Lockdown-Phasen die Tourismusökonomie einbrechen ließen. Für zahlreiche Länder des Globalen Südens ist Tourismus ein wesentlicher Einkommensfaktor. Auf lokaler Ebene ermöglicht er benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen Empowerment – etwa indigenen Frauen, wie Beispiele aus Mexiko und Peru zeigen.
Um jedoch die touristische Begegnung mit Respekt zu gestalten, ist es wichtig, sich die Entstehungsbedingungen des modernen Tourismus vor Augen zu führen, die enge Verzahnung mit der europäischen Geschichte kolonialer Aneignung. Die spezifischen Vorstellungen und Ideologien im Hinblick auf das außereuropäische Fremde und das Eigene sind bis heute in unserem Wissensbestand verfügbar. Insbesondere gegenüber indigenen und marginalisierten Gruppen sollten derartige postkoloniale Diskurse und Praktiken abgebaut werden.
Allerdings ist auch zu bedenken, dass Menschen in (post)kolonialen Verhältnissen nicht nur willfährige Opfer der machtvoll agierenden Angehörigen des Westens sind, sondern eigene Handlungsfähigkeit (agency) haben. Der touristische Raum und die touristischen Begegnungen sind durchaus von vielfältigen Formen wechselseitiger Interaktion zwischen hosts und guests geprägt.