Als Heinrich Benrath am frühen Morgen des 22. Januar 1891 aus dem Fenster seines Hotelzimmers in Cuxhaven blickte, klarte der Himmel allmählich auf. Eine kurze und unruhige Nacht lag hinter dem "Specialberichterstatter" des "Hamburgischen Correspondenten". Der heftige Nordwest-Sturm war abgeflaut, und die Küstenlandschaft lag unter einer Decke frischen Schnees. Rechtzeitig fand sich Benrath am Hafenbahnhof ein, wo pünktlich um 8 Uhr ein prominenter Besucher einem Sonderzug entstieg – Kaiser Wilhelm II. besuchte die Hafenstadt links der Elbmündung in die Nordsee.
Cuxhaven diente im Winter bei widrigen Witterungsverhältnissen als Nothafen für Hamburg. In den vergangenen Tagen hatte schwerer Eisgang die Einfahrt in die Elbe fast unmöglich gemacht, hinzu kam die stürmische See. Der Kaiser wollte sich einen eigenen Eindruck von der Lage verschaffen, wenngleich auch bei nun, wie die Zeitungen später meldeten, "herrlichstem Kaiserwetter",
Erfreut bemerkte der Monarch, der ein ausgeprägtes Faible für alles Maritime hatte, an dem aus den drei gelben Schornsteinen aufsteigenden Dampf, dass das Schiff kurz davor war, an den Landungsbrücken anzulegen. Mit diesem Manöver, das wohlvorbereitet und mitnichten so spontan stattfand, wie es den Anschein erweckte, verband sich zweierlei: Zum einen bot sich dem Kaiser die Gelegenheit zu einem ausführlichen Besuch des Schiffes. Wilhelm II. ließ sich von Albert Ballin, dem Direktor der HAPAG, das Schiff präsentieren, das er schon wenige Jahre zuvor auf der Stettiner Vulcan-Werft bewundert hatte. Vom Promenadendeck ging es zunächst durch den erst- und zweitklassigen Rauchsalon, dann über den im Rokoko-Stil gehaltenen Damen- und den Musiksalon an den Passagierkabinen entlang in den großen Saal, wo sich der Kaiser an die Umstehenden wandte und konstatierte: "Sie sehen, meine Herren, wir können in Deutschland Schiffe bauen." Auf dem Weg zur Kommandobrücke, so notierte es sich der anwesende Benrath, kamen Wilhelm II. und Ballin auf den eigentlichen Grund für das Anlegemanöver zu sprechen – die geplante "Orientfahrt" der "Augusta Victoria".
Seit November 1890 hatte die HAPAG wiederholt in überregionalen Zeitungen eine "Excursion nach Italien und dem Orient" mit dem "Doppelschrauben-Schnelldampfer Augusta Victoria" angekündigt. "Genügende Betheiligung vorausgesetzt" sollten auf der Rundreise durch das Mittelmeer ab dem 21. Januar 1891 in "ca. 50 Tagen" von Hamburg aus "Southampton, Gibraltar (Genua nur, wenn eine grössere Zahl von Reisenden wünschen sollte, erst dort an Bord zu gehen), Alexandria (für Cairo und event. Ismaillia), Port Said, Jaffa (für Jerusalem), Beirut (für Damaskus), Constantinopel, Athen, Malta (durch die Strasse von Messina), Palermo, Neapel (für Rom), Algier, Lissabon" und schließlich wieder Southampton und Hamburg angelaufen werden. Für die Mitfahrenden waren ausschließlich Kabinenplätze in der 1. Klasse vorgesehen, für die "je nach Lage und Grösse" ein "Passagepreis einschließlich vollständiger Verpflegung" von 1600 bis 2400 Mark aufgerufen wurde – immerhin das Drei- bis Vierfache eines durchschnittlichen Jahresverdiensts im Deutschen Kaiserreich.
Nachdem Ballin die Nachfrage des Monarchen, ob denn alkoholische Getränke im Preis eingeschlossen seien, verneinte, setzte der daraufhin heiter gestimmte Wilhelm II. – "Ah, Sie rechnen auf den Durst Meiner guten Deutschen" – die Besichtigungsrunde fort, bevor er wieder abreiste.
Modernes Reisen
"Zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit gehört das Massenreisen", notierte der Schriftsteller und Journalist Theodor Fontane 1873 in einem Manuskript, das Jahre später unter dem Titel "Modernes Reisen. Eine Plauderei" veröffentlicht werden sollte. Wären früher nur "bevorzugte Individuen" verreist, so sei "jetzt jeder und jede" unterwegs, gehörten Gespräche über vergangene und zukünftige Reiseziele zum Alltag – wenngleich auch nur in privilegierten und begüterten Kreisen der Gesellschaft. Für Fontane stand es außer Frage, dass zwar auch "Mode und Eitelkeit" ihren Anteil an dieser Entwicklung hätten, "der moderne Mensch, angestrengter wie er wird, [jedoch] auch größerer Erholung" bedürfe und deshalb verreise, um Abstand zum Alltag gewinnen zu können. Letztlich entscheide aber über den Erfolg, ob die Erholungssuchenden unter reisen den dauerhaften Aufenthalt an einem anderen Ort oder aber eine "dauernde Fortbewegung, will sagen beständiger Wechsel von Eisenbahnen und Hotels, woran sich Bergerkletterungen und ähnliches bloß anschließen", verstünden. Dem "halbnomadischen" Leben der Sommerfrischler zeigte sich Fontane zwar mehr zugetan, doch auch dem "vollnomadisch" Reisenden, dem Touristen, gestand er dessen spezifischen Reisedrang zu. Letzterer sei aber im Gegensatz zu den Sommerfrischlern ständig wechselnden Wirten, Mietskutschern und Führern und deren "Gewinnsucht und Rücksichtslosigkeit" ausgesetzt und müsse sich angesichts schlechter Leistung bei hohen Kosten letztlich resilient zeigen – ob das die Erholung fördere, zog Fontane in Zweifel.
In Fontanes Text, Loblied auf die Erholungsreise und Tourismuskritik zugleich, spiegelt sich geradezu idealtypisch die Entwicklung des Tourismus zu Beginn des letzten Drittels des langen 19. Jahrhunderts zwischen der Französischen Revolution von 1789 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 wider. Der Begriff "Tourist" für Reisende, deren Reise einzig dem Selbstzweck dient, findet sich ab 1800 in Wörterbüchern. Er ist angelehnt an die als "Grand Tour" bezeichnete Rundreise junger europäischer Adeliger, die seit dem späten 18. Jahrhundert von dem aufkommenden Bürgertum nachgeahmt wurde und sich schließlich im 19. Jahrhundert, ihren ursprünglichen Erziehungs- und Bildungscharakter einbüßend, zur Erholungsreise breiter Schichten wandelte. Aber schon um 1900 müssen sich Touristen von vermeintlich echten Reisenden als "billiger Reisepöbel" oder "Sightseeing-Volk" beschimpfen lassen.
Dass das Reisen gegen Ende des 18. Jahrhunderts seine Zweckhaftigkeit verlor, wurde, so der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger in seiner Theorie des Tourismus, "durch eine ganz spezifische historische Situation" begünstigt, deren Komponenten sich benennen, aber nicht ursächlich hierarchisieren lassen: "die geschichtliche Situation, aus der der Tourismus hervorgegangen ist, [kann] als ein Syndrom politischer, sozialer, wirtschaftlicher, technischer und geistiger Züge, deren Gemeinsames in ihrem revolutionären Wesen liegt" beschrieben werden.
So tummelten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rheintal als frühem touristischen Hotspot zwischen Koblenz und Köln zunächst englische Touristen, häufig mit einem neuen Medium in der Hand, dem Reiseführer. Das "Red Book" von John Murray und die ebenfalls roten Reisehandbücher von Karl Baedeker strukturierten und erschlossen die Welt für die vergleichsweise wohlhabenden Individualtouristen, während der baptistische Missionar Thomas Cook 1841 die Pauschalreise erfand und für einen Festpreis einen Tagesausflug mit der Eisenbahn organisierte, Schinkenbrot und Tee inklusive.
Ende des 19. Jahrhunderts galt die "Gesellschaftsreise" als akzeptierte Form der Reiseorganisation. Die 6. Auflage von Meyers Konversationslexikon (1902–1908) definierte die Gesellschaftsreise als "Unternehmen, dessen Veranstalter (…) eine Anzahl Reiselustiger vereinigen, um sie unter einheitlicher Leitung nach einem vorher bekannt gegebenen Programm nach interessanten Orten und Gegenden des In- und Auslands (…) zu führen". Für einen Festpreis erhielten die Reisenden "freie Fahrt, Ab- und Zugänge von und nach den Stationen, Gepäckbesorgung, Unterkommen mit voller Verpflegung einschl. Trinkgelder (jedoch ohne Wein und Heizung), orts- und sprachkundige Führer, freie Besichtigung aller Sehenswürdigkeiten einschl. Beförderung sowie im Programm vorgesehene Ausflüge". Auch die HAPAG fand Erwähnung; sie lege seit 1891 den Hauptwert auf Schiffsreisen mit "geschwinden und vorzüglich ausgestatteten Schnelldampfern", sorge aber für die Reisenden nur "während deren Aufenthalt auf dem Schiff" und überließe die Organisation der Landausflüge Reisebüros.
Erfindung der Kreuzfahrtreise
Der Hamburger Journalist Heinrich Egon Wallsee, 1891 ebenfalls Teilnehmer der "Orientfahrt" auf der "Augusta Victoria", schrieb in seinen Reiseerinnerungen, bislang sei es nur in der Phantasie eines Schriftstellers möglich gewesen, dass "eine auf Reisen gehende, mehrhundertköpfige Gesellschaft einen schwimmenden Prunkbau mit sich nimmt, wie die Schnecke ihr Haus".
Und in der Tat war die "Excursion" der "Augusta Victoria" die erste deutsche Kreuzfahrtreise ins Mittelmeer. Die erste Kreuzfahrtreise überhaupt war sie hingegen nicht. Norwegische und britische Reedereien unternahmen seit spätestens 1875 gelegentlich Kreuzfahrtreisen und nutzten für diese pleasure cruises sogar eigens gebaute oder umgebaute Schiffe. Und noch im Jahr vor der "Orientfahrt" der "Augusta Victoria" hatte die Bremer Reederei Norddeutscher Lloyd eine 14-tägige Kreuzfahrt nach Norwegen veranstaltet. Dass die Reise auf der "Augusta Victoria" bis in die Gegenwart als Beginn des Kreuzfahrttourismus gesetzt wird,
Die Idee zur Reise war zunächst aus der Not geboren. So hatte die wirtschaftlich angeschlagene HAPAG auf Drängen Albert Ballins, der ab 1886 zunächst als Leiter der Passagier-Abteilung tätig war und 1888 als 31-Jähriger in den Vorstand berufen wurde, vier moderne Schnelldampfer für den Post- und Passagierdienst nach New York angeschafft. Diese Schiffe versprachen durch den neuen Doppelschraubenantrieb nicht nur mehr Sicherheit, sie waren auch vergleichsweise luxuriös ausgestattet; zumindest in den Bereichen für die 1. und 2. Klasse. Aber selbst die von Auswanderinnen und Auswanderern häufig genutzte 3. Klasse bot bescheidenen Komfort. Da das Auswanderergeschäft konjunkturellen Schwankungen unterlag, die Transatlantikrouten nur saisonal betrieben wurden und die Elbe im Winter für Schiffe dieser Größenordnung bis Hamburg nur bedingt schiffbar war, lagen die kostspieligen Neuanschaffungen im Winter 1890 auf Reede. Der Entschluss, eine Kreuzfahrt zu organisieren, war also letztlich wirtschaftlich begründet. Das öffentliche Interesse und die Begeisterung darüber, "wenigstens einen dieser prachtvollen Schnelldampfer auch einem größeren, nicht nach America reisenden Publikum einmal vorzuführen" und zu diesem Zwecke "eine ebenso kühn und neu, wie entzückend geplante Rundreise nach den Gestaden des Mittelmeers bis nach der Sultanstadt am Bosporus" auszurichten, waren der HAPAG sicher.
Das Unternehmen sprach mit diesem Vorhaben gleich mehrere Vorlieben und Bedürfnisse reisender Zeitgenossinnen und Zeitgenossen an. Die in der Retrospektive "exotisch" anmutenden Ziele wirken weniger spektakulär, wenn man sich die Annoncen für Nilkreuzfahrten in damaligen deutschen Tageszeitungen vergegenwärtigt, die von Thomas Cook & Son oder dem Berliner Reisebüro von Carl Stangen ausgerichtet wurden.
Mit dem Doppelschraubendampfer wusste die HAPAG auf zwei Feldern zu überzeugen. Zum einen wurde, ganz im Geiste der Zeit, der hohe Sicherheitsstandard der "Augusta Victoria" betont, zum anderen die gehobene Ausstattung, für die wiederholt das Bild des schwimmenden Grandhotels bemüht wurde. Das Schiff stand damit für ein modernes und komfortables Transportmittel, das in dem Format einer "Vergnügungsreise", in Anlehnung an Theodor Fontane, zudem die Bodenständigkeit der Sommerfrische und den Eskapismus der Sommerreise auf attraktive Weise in Einklang zu bringen wusste.
Hinter dieser neuen Attraktivität maritimen Reisens sollten die zuvor herrschenden Gefahren und Härten einer Schiffsreise verblassen.
Die "Excursion nach dem Mittelmeer"
Mit dem Schiff betraten die Passagiere am 22. Januar 1891 nicht nur ihre Unterkunft für die kommenden Wochen, sondern auch eine ihnen zumeist völlig fremde Welt. Sogar dem Zeichner Allers fiel die Orientierung zunächst schwer, obwohl er in der Kaiserlichen Marine gedient hatte. In seiner Kabine angekommen, einem kleinen Raum mit schmalen Schränken und zwei übereinander angebrachten Betten, bestaunte er zunächst die Waschbecken mit fließend kaltem und warmem Wasser sowie das elektrische Licht – was für ein Luxus!
Das Leben der Reisenden spielte sich vor allem auf dem Hauptdeck, dem Oberdeck und dem Promenadendeck ab; weniger in den Kabinen als vielmehr in den Salons, dem großen Speisesaal oder in den Außenbereichen. Mehr als 70 Stewards, ein Arzt nebst Gehilfen, ein Friseur und 21 Köche kümmerten sich um das Wohlbefinden der Passagiere. Einige von ihnen spielten zudem in der Bordkapelle, die auf dieser Reise bei sprichwörtlich jedem Wind und Wetter musizierte. Dem Kapitän, einer unnahbaren wie unantastbaren Respektsperson, unterstanden ein halbes Dutzend Offiziere sowie 35 Bootsleute und Matrosen. Für die meisten Gäste unsichtbar blieben hingegen die insgesamt fast 150 Maschinisten, Heizer und Kohlenzieher, die auf den unteren Decks des knapp 145 Meter langen und 17 Meter breiten Schiffs die beiden Dampfmaschinen mit insgesamt 14110 PS am Laufen hielten.
Der typische Passagier auf der "Augusta Victoria" war ein männlicher bürgerlicher Alleinreisender aus Deutschland. So gab es unter den insgesamt rund 240 Gästen, die in Cuxhaven, Southampton und Genua an Bord gingen und mehrheitlich aus Deutschland, den USA, Großbritannien, den Niederlanden, Frankreich, der Schweiz und Norwegen stammten, nur wenige Ehepaare, keine Kinder, wenige Jugendliche und kaum allein reisende Damen, dafür aber mehrere Väter mit Töchtern in heiratsfähigem Alter. Die Rechtsanwälte, Offiziere, Unternehmer, Stadt- und Kommerzienräte, Rittergutsbesitzer, Architekten, Kaufleute und Direktoren pflegten zumeist bürgerliche Umgangsformen, was angesichts der Enge des Schiffes durchaus anstrengend werden konnte. Schon bald ermunterte deshalb ein eilends eingesetztes "Damencomité" die "Reisegenossinnen", "gemeinsam durch Unterschrift erklären zu wollen, dass sie einen militärischen Gruss der Herren während der Fahrt für angebrachter halten würden, als das unter Umständen sehr unbequeme Abnehmen der Kopfbedeckung".
Auf See strukturierten die Mahlzeiten den Tagesablauf. Die erste Ausgabe der an Bord gedruckten "Augusta-Victoria-Zeitung" informierte die Passagiere über den neuen Rhythmus ihres Alltags: Um 7.45 Uhr drehte der "Gong-Steward" seine Runde über alle Decks, schlug zunächst den Weckruf, und um 8 Uhr zum reichhaltigen Frühstück – "Kaffee, Thee, Chokolade nach Wahl, Beefsteak, Eier in allen Gestalten, Pfannkuchen, Schinken und allen möglichen Aufschnitt, alle Sorten Brot und köstliche Butter".
Die Zeichnung von Christian Wilhelm Allers zeigt Kreuzfahrtpassagiere der "Augusta Victoria" bei der Besichtigung der "Alabaster-Moschee" in Kairo, in ihren Händen Reiseführer. In der Bildmitte ein "Englischer Posten am Thor der Citadelle". (© Christian Wilhelm Allers, Backschisch. Erinnerungen an die Reise der Augusta Victoria in den Orient, Hamburg 1891.)
Die Zeichnung von Christian Wilhelm Allers zeigt Kreuzfahrtpassagiere der "Augusta Victoria" bei der Besichtigung der "Alabaster-Moschee" in Kairo, in ihren Händen Reiseführer. In der Bildmitte ein "Englischer Posten am Thor der Citadelle". (© Christian Wilhelm Allers, Backschisch. Erinnerungen an die Reise der Augusta Victoria in den Orient, Hamburg 1891.)
In den Häfen begaben sich die meisten Passagiere auf Landausflüge, gebucht an Bord bei dem Agenten der Firma Thomas Cook & Son, deren touristische Infrastruktur angesichts der Gruppengröße wiederholt an ihre Grenzen stieß. Bis ins Mittelmeer hatten die Reisenden mit schlechtem und kaltem Wetter, Sturm in der Biskaya und Seekrankheit zu kämpfen. Mit dem Reiseführer unter dem Arm wurden aber schon wenig später die Pyramiden besucht, Jerusalem und Konstantinopel besichtigt, die Akropolis bestaunt und der Vesuv bestiegen. In den Reiseberichten und Tagebuchnotizen werden die intensiven Eindrücke betont, zum Ende der Reise hin zeugen sie aber auch von Ermüdungserscheinungen und Übersättigung. Die Rückkehr nach Hamburg geriet zu einem triumphalen Einlaufen – dank der laufenden Presseberichterstattung war die Öffentlichkeit detailliert über den Ablauf der Reise informiert, und der Kaiser schickte ein Glückwunschtelegramm "zur Beendigung der schönen Reise der Augusta Victoria".
Traumreisen von der Stange
Auch wenn die "Orientfahrt" der "Augusta Victoria" nicht die erste Kreuzfahrtreise gewesen sein mag, so markiert sie trotzdem den Beginn des Kreuzfahrttourismus im eigentlichen Sinne. Die Reise als touristisches Produkt des 19. Jahrhunderts lässt sich, so erneut Enzensberger, mit Begriffen aus der industriellen Fertigung beschreiben. Zunächst bedarf es genormter Einzelelemente, im Fall des Tourismus sind das ganz allgemein Sehenswürdigkeiten, deren Besichtigung letztlich auch das vermeintlich zweckfreie Reisen wieder mit einem Zweck auflud. Eine touristische Reise entsteht durch die Montage ausgewählter Sehenswürdigkeiten und kann, abhängig von den Erwartungen und Bedürfnissen der Reisenden, immer wieder neu zusammengesetzt werden. Um diese Reisen wirtschaftlich ertragreich zu gestalten, versuchten Reiseunternehmen fortan, die aus genormten Elementen montierten Produkte in die Serienfertigung zu geben.
Der tatsächliche oder herbeigeschriebene Erfolg der "Excursion" von 1891 bestärkte Albert Ballin und die HAPAG nicht nur darin, von nun an jährlich eine Kreuzfahrt ins Mittelmeer anzubieten, sondern eine eigene Sparte innerhalb des Unternehmens aufzubauen, mit Reisen nach Norwegen und in die Karibik, einem speziell für diese Aufgabe gebauten Schiff und umfangreichen Werbematerialien. Die Nachfrage nach Kreuzfahrtreisen war so groß, dass mehrere Anbieter in diesem Markt tätig sein konnten. Die schwimmenden Grandhotels boten kontrollierten Eskapismus mit doppeltem Boden und schrieben eine touristische Erfolgsgeschichte, die erst mit dem Ersten Weltkrieg ihr vorläufiges Ende fand.
Während in der Weimarer Zeit und in der Bundesrepublik der Kreuzfahrttourismus weiterhin den betuchten Reisenden vorbehalten blieb, zielten die staatlich organisierten Kreuzfahrten in den beiden deutschen Diktaturen auf eine Öffnung dieses touristischen Formats für die "Volksgenossen" oder "Arbeiter und Bauern". Auch wenn die Teilnehmenden an diesen Reisen letztlich nur eine zumeist handverlesene und überwachte gesellschaftliche Minderheit war, schufen die propagandistischen Bilder der nationalsozialistischen KdF-Fahrten oder der Reisen auf dem DDR-Kreuzfahrtschiff "Völkerfreundschaft" einen Sehnsuchtsort, der im bundesrepublikanischen Teil Deutschlands seit 1981 durch die Fernsehsendung "Traumschiff" weiter gefestigt wurde.
Nach der Wiedervereinigung 1990 etablierte die Kreuzfahrtmarke Aida Cruises mit dem Konzept des Clubschiffs US-amerikanische Spielarten der Kreuzfahrt am deutschen Markt und erreichte damit neue Kundenkreise. In den 2000er Jahren setzte in der Kreuzfahrtbranche ein erstaunlicher Boom ein, trotz Kritik an der Umweltunverträglichkeit von Kreuzfahrtschiffen und dem Aspekt des overtourism. Kritik gab es indes auch schon 1911, als in dem Baedeker zu Schweden und Norwegen der Hinweis enthalten war, dass es für andere Reisende unangenehm sei, "in den Strom der aus den Vergnügungsdampfern an Land gehenden Scharen zu geraten, da diese bisweilen alle Wagen in Anspruch nehmen und die Gasthäuser immer füllen".
Doch die Begeisterung für dieses touristische Reiseformat hält ungebrochen an, sogar trotz der Covid-19-Pandemie. Und so wird manche Touristin und mancher Tourist am Ende einer Kreuzfahrtreise ebenso wie der Journalist H. Weth nach der "Orientfahrt" der "Augusta Victoria" von 1891 auf die Frage "Wie hat Ihnen die Reise gefallen?" antworten: "Prachtvoll von Anfang bis zum Ende. Selten hat noch eine Partie von Touristen in so kurzer Zeit so Vieles und so Herrliches gesehen, wie wir, und so hübsch, so bequem, so mit Fürsorge und Luxus umgeben, hat sie es überhaupt noch nicht."