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Warum Reisen? | bpb.de

Warum Reisen? Zur Psychologie des Reisens - Essay

Martina Zschocke

/ 13 Minuten zu lesen

Warum zieht es Menschen aller Anstrengungen zum Trotz immer wieder in die Ferne? Reisen dienen längst nicht nur der Erholung; sie bringen uns äußerlich und innerlich in Bewegung. Das erzwungene "Reise-Fasten" während der Pandemie hat dies noch verdeutlicht.

Was hat es mit dem Reisen auf sich? Worin liegt das Glück des Aufbruchs? Warum treibt oder zieht es Menschen aller Anstrengungen zum Trotz in die Ferne? Grundsätzlich lassen sich Reisemotive in Push- und Pull-Motive unterteilen: Während Push-Motive all die Motive sind, die einen von Zuhause wegtreiben, sind Pull-Motive alles, was einen woanders hinzieht. Weiterhin gibt es unbestimmte Motive wie "Fernweh" ganz allgemein. Es ist kein Zufall, dass dieser Begriff aus der Zeit der Romantik ab Ende des 18. Jahrhunderts stammt, in der vieles mit Melancholie und einer unbestimmten Sehnsucht verbunden war und freiwilliges Reisen deutlich wichtiger wurde.

Zu den Pull-Motiven gehört in erster Linie der Reiz bestimmter Länder, Landschaften, Städte und Lebenskulturen. Aber auch die Neugier und der Wunsch nach Bildung und anderen Sprachen zählen dazu. Hinzu kommen physisch-physikalische Motive wie Reizsuche oder Reizvermeidung, aber auch nach außen gerichtete Gründe wie der Wunsch nach Prestige. Ein weiteres wichtiges Pull-Motiv ist die Freude an Bewegung. Dabei ist das Reiseziel oft nicht so bedeutend, wie der Aufbruch und das Unterwegssein an sich. Andere Pull-Motive können soziale Motive oder auch Inspirationen durch Filme, Bücher oder Musik sein. Neben der Suche nach neuen Eindrücken und Abenteuern kann es auch die Suche nach Sinn sein, die einen in die Fremde zieht. Reisen als Sinnsuche beschreibt etwa der Autor und Filmemacher Phil Cousineau, der zwischen Reisen im Sinne des Tourismus und Pilgerreisen unterscheidet, während er unter Letzteren alle Reisen versteht, deren Zweck es ist, etwas zu finden, was für den Reisenden von tiefer Bedeutung ist. Dies kann sich auch auf Literatur, Kunst, Musik, Architektur, Lebensstile und -entwürfe und Freiheit beziehen.

Zu den Push-Motiven gehören vor allem Abstand und Distanz zum Alltag und dessen Zweckbestimmtheit zu gewinnen, aber auch den eigenen Standpunkt in der Welt neu zu bestimmen, sich wieder "einzunorden". Das Motiv der Selbsterkenntnis und Selbstaktualisierung kann bis hin zu Erweiterungen des Selbst um im Alltag vernachlässigte Aspekte der Persönlichkeit reichen. Am häufigsten findet sich dieses Motiv bei längeren Reisen, die als Zäsur vor oder nach einer bestimmten Lebensphase angetreten werden – etwa nach dem Schul- oder Ausbildungsabschluss, nach Trennungen oder vor Antritt einer neuen Arbeitsstelle. Klassische Beispiele sind Work-and-Travel-Aufenthalte, Weltreisen, aber auch die Walz, jene Reise der Handwerker, die je nach Zunft drei Jahre und einen Tag dauern kann und bestimmten Regeln unterliegt (zum Beispiel eine Bannmeile um den eigenen Wohnort). Diese Reisen haben potenziell einen deutlich höheren Einfluss auf die Identität als rein touristische Reisen, was sich oft in Form der verstärkten Selbsterkenntnis und Selbstaktualisierung zeigt, die einerseits durch den Abstand vom Alltag, andererseits durch die Freiheit von den Erwartungen anderer ermöglicht wird. Dabei werden oft Ideal- und Realselbst verglichen und im Optimalfall so angeglichen, dass sie den eigenen Wert- und Lebensvorstellungen besser entsprechen. Durch Reisen können also Spielräume für das eigene Leben erweitert und Lebensentwürfe aktualisiert werden – die Reise an sich entspricht dann den klassischen rites de passage, sie erfüllt mithin die Funktion eines Übergangsritus. Der Schriftsteller Cees Nooteboom beschrieb dies folgendermaßen: "In einem nomadischen Leben habe ich vielleicht gelernt, wer ich bin und wer ich nicht bin."

Wiederentdeckung der Sinne

Doch was macht neben den komplexen Reisemotiven das Reiseerleben aus, was den besonderen Reiz des Reisens, der dazu führt, dass viele dieses Erleben immer wieder erfahren möchten? Was genau passiert beim Reisen?

Genau genommen beginnt das Reiseerleben bereits, bevor man die Reise angetreten hat: Vorfreude gilt als schönste Freude – und für viele ist sie ein wesentlicher Teil des Reisens. Wer Reiseführer liest, sich für Ziele entscheidet und Routen plant, ist innerlich schon unterwegs und nährt die Vorfreude auf das, was da kommt. Aus der psychologischen Forschung weiß man allerdings, dass vor allem unerwartete Reize aktivierend wirken. Das heißt, Vorfreude erzeugt zwar eine positive Spannung vor der Reise, sie kann aber auch dazu führen, dass während der eigentlichen Reise vergleichsweise geringere Freude empfunden wird. Denn konkrete Erwartungen vermindern die Neugier und führen eher zu Enttäuschungen als zu Offenheit und Spontaneität.

Ob man eine Reise lange plant oder spontan aufbricht, hat etwas mit der Persönlichkeit, den persönlichen Rahmenbedingungen und Vorlieben sowie mit der ureigenen Neugier und der Wertschätzung für Überraschungen und Entdeckungen zu tun. Wer spontan aufbricht, in den erstbesten Zug steigt oder zu blind booking tendiert, wo man erst drei Tage vor der Reise erfährt, wo es hingeht, wird kaum zielgerichtete Vorfreude empfinden – aber da er oder sie per se offen und aufgeschlossen ist, auch kaum Enttäuschungen erleben.

Wenn der Alltag immer gleich verläuft, fehlen Lebendigkeit und Intensität, die durch wechselnde Reize entstehen. Dabei ist nicht die absolute Reizstärke wichtig für die Wahrnehmung, sondern die Intensitätsänderung. Gleichbleibende Reize lösen kaum noch Nervenimpulse aus, man "adaptiert" und nimmt demzufolge weniger wahr. Reisen weckt die Wahrnehmung und schärft die Sinne. Einerseits, weil die Neuartigkeit der Reize die Sinne anregt, andererseits, weil die Notwendigkeit der Orientierung auf Reisen ihren verstärkten Einsatz fordert. Aufgrund des Abstands von den Anforderungen des Alltags ist auch die Aufmerksamkeit größer, das heißt, man ist weniger abgelenkt, und die "Wahrnehmungskanäle" sind offener. Deshalb kommt es beim Reisen zu einem Gefühl erhöhter Wachheit und Lebendigkeit, weil verschiedene – oft auch im Alltag weniger genutzte – Sinne angesprochen werden.

Ein anderes Licht, andere Farben, andere kulinarische Erfahrungen und möglicherweise Sand unter den Füßen: Gerade solche sinnlichen Eindrücke werden in einer immer stärker durchmedialisierten Welt immer seltener. Das Übermaß an Informationen, die nicht unmittelbar sinnlich – also zum Beispiel über den Geschmacks- oder Tastsinn – vermittelt sind, führt zu einer übermäßigen Beanspruchung und Ausbildung der sogenannten Fernsinne wie des Sehsinns. Dies geschieht zulasten der sogenannten Nahsinne, die im Alltag eher unterfordert werden. Und so äußerte der Arzt und Psychotherapeut Helmut Milz zutreffend: "Das Vertrauen in die Qualität der eigenen Sinne ist dem kultivierten Menschen in vielfacher Form abhanden gekommen." Reisen kann das Gleichgewicht wieder herstellen, erst recht, wenn es sich um selbst organisiertes Reisen handelt: Es fördert die analoge Wahrnehmung in einer zunehmend digitalisierten Welt.

Auf Reisen spielt das Sehen zwar eine zentrale Rolle, aber es kommt ganz offensichtlich zu einer erweiterten Wahrnehmung, in der vor allem die Nahsinne Riechen, Schmecken und Fühlen, aber auch der Fernsinn Hören bedeutsamer werden, als sie es im Alltag sind. Welche Sinne dabei primär angesprochen werden, ist abhängig von den besuchten Gegenden mit ihren jeweils spezifischen Umgebungsreizen. Je "fremder" der Zielort und je größer die Differenz von der vertrauten Umgebung, desto mehr Sinneskanäle werden genutzt. An einem Küstenort in Mexiko kann es beispielsweise eine Melange sein aus dem Spüren der hohen Luftfeuchtigkeit, dem Riechen der Meeresluft, dem Hören des Getümmels an den Straßenständen und dem Sehen der in kräftigen Farben gestrichenen Häuser sowie des türkisblauen Wassers. In den Großstädten in den USA oder Japan wird durch die hohen Gebäude, die vielen Leuchtreklamen, Menschen und Autos wiederum eher der Sehsinn angesprochen, wohingegen ein indischer Markt mutmaßlich vor allem dem Geruchs- und Geschmackssinn bleibende Eindrücke bieten dürfte. Gerade über Gerüche werden häufig Erinnerungen verankert, ist der Geruchssinn doch unser archaischster Sinn.

Interessanterweise führt nicht nur die Stimulation durch viele neue Reize und Eindrücke dazu, dass die eigene Aufmerksamkeit gesteigert und die Wahrnehmung vertieft wird, sondern ebenso absolute Reizarmut – zum Beispiel in der Wüste. In welchem Maß die Sinne geschärft und was aufgenommen wird, hängt unter anderem von der Art und dem Tempo der Reise sowie der Dichte der Umgebungsreize ab. Besonders viel und intensiv wird wahrgenommen, wenn die eigene Bewegung nicht zu schnell ist, etwa beim Radfahren oder Flanieren. Bei zu zügigem Reisen gehen Qualität und Tiefe der Wahrnehmung verloren. Die Eindrücke verflüchtigen sich rascher, werden bruchstückhaft, und auch die Erinnerungen bleiben oberflächlich.

Im Idealfall lernt man auf Reisen auch wieder zu staunen. Staunen ist an Überraschung gebunden, an unerwartete Erlebnisse. Etymologisch kommt staunen von "erstarren" – es geht also auch um ein Innehalten, Aufmerken. Man staunt eher, wenn man nichts oder wenig erwartet und alle Sensoren auf Empfang geschaltet sind. Hierin wurzelt der Reiz des ersten Mals in allen Dingen, aber auch von ersten Reisen in Gegenden, die einem neu sind. Das korrespondiert mit Erkenntnissen der Neuro- und Wahrnehmungspsychologie: Bei Dingen, die wir das erste Mal tun, ist das Gehirn hellwach und hochaktiv, beim zweiten Mal reagiert es deutlich verhaltener, und mit jeder weiteren Exposition nimmt die Reaktion ab. Je vertrauter etwas ist, desto weniger wird unser Gehirn aktiv; die Adaptation setzt ein, und unsere Aufmerksamkeit lässt nach. Vorhersagbarkeit ist in gewissem Maße beruhigend und nützlich, zu viel davon lässt uns jedoch abstumpfen, und wir schalten gleichsam auf Autopilot. Unser Gehirn ist aber per se neugierig: Es benötigt immer wieder – in Maßen – Stimulation und funktioniert optimal bei einem ausgewogenen Maß an Bekanntem und Neuem. Und Reisen ist offenkundig ein guter Weg, um diese Balance zu erreichen. Dem tschechischen Fotografen Josef Koudelka wird ein Satz zugeschrieben, der diesen Zusammenhang treffend ausdrückt: "Wenn Sie lange an einem Ort leben, werden Sie blind, weil Sie nichts mehr beobachten. Ich reise, um nicht blind zu werden."

Stimulanz für die Psyche

Reisen hat darüber hinaus verschiedene positive Auswirkungen auf die Psyche. Studien haben gezeigt, dass die tiefere sinnliche Wahrnehmung, die Aktivierung und die Notwendigkeit der Orientierung nach außen sogar helfen können, milde depressive Episoden zu überwinden, die oft mit einer starken Fokussierung auf sich selbst und mit dauerndem Grübeln über immer dieselben Themen einhergehen und einen im wahrsten Sinne des Wortes bewegungsunfähig machen. Rausgehen, sich auf die Welt einlassen und sich in ihr orientieren zu müssen, wirkt dem entgegen. Dies gilt umso mehr, wenn am Reiseziel intensiveres Licht, Bewegung und befriedigende soziale Kontakte dazukommen. Dass Bewegung das beste Mittel gegen Melancholie sei, schrieb schon der Gelehrte Robert Burton in seiner 1621 veröffentlichten "Anatomie der Melancholie". Im Idealfall ist das allgemeine Aktivierungsniveau auf Reisen höher – aber auch das Verhältnis zwischen An- und Entspannung ausgeglichener.

Auch bei chronischen psychischen Leiden wurden positive Effekte von Reisen beschrieben. So soll der Schriftsteller Bruce Chatwin, der Anfang der 1960er Jahre für das Londoner Auktionshaus Sotheby’s tätig war und an einer schweren psychogenen Sehstörung litt, von seinem Arzt "weite Horizonte" verschrieben bekommen haben – was offensichtlich fruchtete, denn er reiste in den Sudan, wo er vollständig gesundete. In den 1980er Jahren beschrieb Dieter Häußer, der ärztliche Direktor einer Nervenklinik, den Nutzen von Kurzreisen, wobei die Wirkfaktoren auch hier vor allem in der Aktivitätssteigerung, vermehrter Eigeninitiative und höherer Kontaktbereitschaft lagen.

Nun ist Reisen allerdings kein Allheilmittel gegen Depressionen, und die grundsätzlich positiven Wirkungen können je nach Veranlagung und momentanem Zustand auch in ihr Gegenteil umschlagen: So ist Reisen bei Schizophrenien und Epilepsien deutlich riskanter, da psychotische Schübe oder Krampfanfälle durch Reizüberflutung ausgelöst werden können. Was für den einen also positive Anregung, erhöhte Selbstwirksamkeit und Freude bedeutet, kann für den anderen negativer Stress und Überforderung sein. So beschrieb die Psychiaterin Graziella Margherini das Stendhal-Syndrom, das sie bei Touristen feststellte, die auf ihre Notfallstation in Florenz eingeliefert wurden. Die von ihr geschilderten Symptome ähnelten einer Übererregung, wie sie bei einer starken Verliebtheit eintreten kann. Die Ergriffenheit hätte sich bei manchen Patienten so gesteigert, dass sie über Schwindel, Herzbeklemmung, Schweißausbrüche, Schwäche und Ohnmachtsgefühle klagten. Ihnen waren vor lauter Stimulanz "die Sinne geschwunden". Ein anderes im Zusammenhang mit Reisen beobachtetes Phänomen ist das Jerusalem-Syndrom, bei dem Besucher der Heiligen Stadt sich angesichts der religiösen Bedeutung des Ortes auf einmal für biblische Figuren halten und anfangen, zu Predigen oder Visionen zu verkünden. Meist helfen ein paar Tage Bettruhe, bisweilen sind jedoch auch Antipsychotika notwendig. Jedes Jahr sollen etwa 100 Touristen betroffen sein.

Äußere und innere Bewegung

Reisen hat nicht nur Einfluss auf Wahrnehmung und Psyche, sondern nachweislich auch auf das Denken und die Kreativität: einerseits durch den gewonnenen Abstand, der größere Aufmerksamkeit ermöglicht, andererseits durch die Bewegung an sich. Denn äußere Bewegung fördert auch innere, geistige Bewegung. Sowohl beim aktiven Bewegen als auch beim passiven Bewegtwerden kommen Gedanken und Phantasien in Gang.

Neurowissenschaftliche Forschungen bestätigen, dass bestimmte Hirnregionen sehr fein auf Rhythmen reagieren und dass vor allem gleichmäßige Rhythmen von mittlerer Geschwindigkeit, wie sie zum Beispiel beim Laufen entstehen, für viele Gehirnfunktionen förderlich sind. Auch wurde herausgefunden, dass das kreative Potenzial während und kurz nach dem Gehen erhöht ist – das Spazieren in abwechslungsreicher Umgebung erweist sich hierbei als besonders effektiv. Durch Reisen kommt somit nicht nur der Reisende selbst, sondern auch vieles in seinem Denken in Bewegung, was zu frischen Gedanken, neuen Erkenntnissen und originellen Lösungen führen kann. Neue Orte bieten Inspiration, und insbesondere der Aufenthalt im Ausland kann die kognitive Flexibilität erhöhen und die Fähigkeit fördern, neue Zusammenhänge herzustellen. Entsprechende Studien beziehen sich zwar auf längere Auslandsaufenthalte, aber ein ähnlicher Effekt konnte auch nach einfachen Urlaubsreisen nachgewiesen werden.

Wieviel Neues oder Fremdes auf Reisen gesucht wird, hängt von der Persönlichkeit, der Reisesozialisation, den Vorlieben und der aktuellen Lebenssituation ab. So wird der klassische sensation seeker, der abwechslungsreiche Erfahrungen und das Abenteuer sucht, kaum mit dem Strandurlaub glücklich. Menschen dieser Kategorie brauchen mehr Reize, um auf optimale "Betriebstemperatur" zu kommen, als Reisende, die von sich aus eher das Bewährte suchen und immer wieder an dieselben Lieblingsorte fahren. Doch trotz der Unterschiedlichkeit der Reisen, die daraus resultieren, treten bei den Reisenden mit Blick auf Wahrnehmung, Psyche und Denken dieselben Effekte auf – nur in unterschiedlichem Ausmaß.

Erleben und Erinnerung

Reisen ist unter anderem auch wichtig, um bleibende Erinnerungen zu schaffen. Es ist eine offene Frage, wie die meisten Menschen sich später an die Zeit der Covid-19-Pandemie erinnern werden. Sicherlich werden der Beginn und das Ende der Pandemie im Gedächtnis bleiben, aber was dazwischen war, davon wird vermutlich nur wenig haften bleiben, weil tiefe Erinnerungsspuren vor allem durch Lebens- und Erlebnisintensität und eine mittlere Ereignisdichte entstehen – was im gleichförmigen Corona-Alltag häufig fehlt.

Nahezu alle Reisenden berichten, dass die Zeit während der Reise wie im Fluge vergangen sei, ihnen in der Erinnerung jedoch sehr lang vorkomme: In der Rückschau erscheinen Wochen wie Monate. Hohe Ereignisdichte und Erlebnisintensität verkürzen die Zeitwahrnehmung in der Gegenwart und verlängern sie in der Erinnerung. Da die Tage beim Reisen oft genau von dieser Intensität geprägt sind, schwinden sie gleichsam dahin und hinterlassen viele und tiefe Erinnerungsspuren. Es gilt, sich auf Neues einzulassen, andere Welten zu entdecken und einzutauchen ins Erleben. Dies geschieht allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Dichte nicht derart überhandnimmt, dass nichts mehr wahrgenommen wird und der eigene mentale "Arbeitsspeicher" quasi permanent überlastet ist.

Reisemotive und Reisearten gibt es wie den sprichwörtlichen Sand am Meer. Ob man bei Reisen eher Inspiration oder Kontemplation und Regeneration oder beides sucht, hängt vom Reisetyp, aber auch der aktuellen Lebenssituation ab. Reisen lassen einen buchstäblich wieder aufleben. Die verschiedenen positiven Effekte treten in besonders starkem Maße auf, je länger die Reise dauert und je individueller sie gestaltet und organisiert ist. Aber bereits jede Kurzreise ermöglicht es, aus der Alltagshabitualisierung auszubrechen – und ein gelegentlicher Tapetenwechsel tut allemal gut, um wieder wacher zu werden und intensiver wahrzunehmen, auch wenn es keine Abenteuerreise ist. Insbesondere Reisen in Gegenden, die einem noch unbekannt sind, haben einen klar positiven Einfluss auf Psyche und Denken. Oder, wie es der Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse in seinem Gedicht "Stufen" 1941 ausdrückte:

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne (…)
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Dies trifft auf die ganz realen Reisen genauso zu wie auf die allegorische Lebensreise. Gäbe es keinen Tourismus, behauptet etwa der Freizeitforscher Jost Krippendorf, bräuchten wir viel mehr Sanatorien und Krankenhäuser.

Die Corona-Pandemie hat das Reisen seit dem Frühjahr 2020 partiell unmöglich gemacht oder zumindest sehr stark eingeschränkt, womit sich Resonanzräume und Möglichkeiten für neue Reize deutlich verkleinert haben. Nun tut eine Zeit des erzwungenen "Reise-Fastens" unserer übersättigten Gesellschaft – in begrenztem Maße – sicherlich mal ganz gut und könnte die Freude und den Genuss am Reisen nach der Pandemie durchaus intensivieren. Erst nach einer längeren Zeit der unfreiwilligen Enthaltsamkeit ist vielen bewusst geworden, dass ihnen etwas fehlt – und es wurde deutlich, dass Reisen für weit mehr Aspekte sinnvoll ist als für Erholung. Vielleicht bringt es die Pandemie also mit sich, dass das Reisen, wenn es denn wieder uneingeschränkt möglich ist, wieder mehr im ursprünglichen Sinne gelebt und erfahren und nicht nur als Konsumgut wahrgenommen wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. John L. Crompton, Motivation for Pleasure Vacations, in: Annals of Tourism Research 4/1979, S. 408–424; Martina Zschocke, Mobilität in der Postmoderne. Psychische Komponenten von Reisen und Leben im Ausland, Würzburg 2005, S. 155–163.

  2. Vgl. Phil Cousineau, The Art of Pilgrimage, Berkeley 1998.

  3. Vgl. Zschocke (Anm. 1), S. 258–293.

  4. Cees Nooteboom, Grensoverschrijding, in: ders., Waar je gevallen bent, blijf je, Amsterdam 1983 (eig. Übersetzung).

  5. Helmut Milz, Der wiederentdeckte Körper, München 1994, S. 201.

  6. Vgl. Zschocke (Anm. 1), S. 212–220.

  7. Vgl. David Eagleman/Anthony Brandt, Kreativität. Wie unser Denken die Welt immer wieder neu erschafft, München 2018, S. 27ff.

  8. Siehe Externer Link: https://ecobnb.de/blog/zitate-gedanken-aphorismen-reisen.

  9. Vgl. Robert Burton, Die Anatomie der Melancholie, München 2001 (1621), S. 187.

  10. Vgl. Bruce Chatwin, Der Traum eines Ruhelosen, Frankfurt/M., S. 128.

  11. Vgl. Dieter Häußer, Kurzreisen chronisch-psychiatrisch Kranker als effektive soziotherapeutische Maßnahme, in: Psychiatrie, Neurologie, Medizinische Psychologie 8/1984, S. 496–502.

  12. Vgl. Graziella Margherini, La sindrome di Stendhal, Florenz 1995.

  13. Vgl. Yair Bar-el et al., Jerusalem Syndrome, in: British Journal of Psychiatry 1/2000, S. 86–90.

  14. Vgl. Rainer Schönhammer, In Bewegung. Zur Psychologie der Fortbewegung, Bd. 1, München 1991, S. 96.

  15. Vgl. Gerd Kempermann, Die Revolution im Kopf. Wie neue Nervenzellen unser Gehirn ein Leben lang jung halten, München 2016.

  16. Vgl. Marily Oppezzo/Daniel L. Schwartz, Give Your Ideas Some Legs: The Positive Effect of Walking on Creative Thinking, in: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 4/2014, S. 1142–1152.

  17. Vgl. Adam Galinsky/William Maddox, Cultural Borders and Mental Barriers. The Relationship between Living Abroad and Creativity, in: Journal of Personality and Social Psychology 5/2009, S. 1047–1061.

  18. Vgl. Jessica de Bloom et al., Vacation from work. A "Ticket to Creativity"? The Effects of Recreational Travel on Cognitive Flexibility and Originality, in: Tourism Manangement Jg. 44/2014, S. 164–171.

  19. Vgl. Marvin Zuckerman, Sensation Seeking. Beyond the Optimal Level of Arousal, Hillsdale–New York 1979.

  20. Vgl. Zschocke (Anm. 1), S. 206ff.

  21. Hermann Hesse, Stufen. Alte und neue Gedichte in Auswahl, Frankfurt/M. 1961.

  22. Vgl. Jost Krippendorf, Die Ferienmenschen. Für ein neues Verständnis von Freizeit und Reisen, Zürich 1984.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Martina Zschocke für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professorin für Freizeitpsychologie und Freizeitsoziologie an der Hochschule Zittau/Görlitz.
E-Mail Link: m.zschocke@hszg.de