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"Medienkompetenz" - Chimäre oder Universalkompetenz? - Essay | Jugend und Medien | bpb.de

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"Medienkompetenz" - Chimäre oder Universalkompetenz? - Essay

Joachim Weiner

/ 12 Minuten zu lesen

Medienkompetenz ist zu einem gesellschaftlichen Leitbild avanciert. Doch der im eigentlichen Sinne medienkompetente Bürger ist von Politik, Industrie und Medien gar nicht erwünscht – gefragt ist der Konsument.

Einleitung

Der durch die mikroelektronische und digitale Revolution in den 1980er Jahren ausgelöste gesellschaftliche Wandel wird heute zu Recht als ein mit der Erfindung des Buchdrucks vergleichbarer kulturrevolutionärer Umbruch begriffen. Von den Sozialwissenschaften als Transformation der Industriegesellschaft in eine Informations- und Wissensgesellschaft beschrieben, in der Produktions- und Kommunikationsprozesse zunehmend auf der Verarbeitung von Informationen und Wissen beruhen, hat er unseren Lebens- und Arbeitszusammenhang tiefgreifend verändert. Der softwarebasierte Technologieschub hat uns neue Produktions-, Informations- und Kommunikationsstrukturen beschert, durch die unsere diesbezüglichen Möglichkeiten erheblich erweitert worden sind.

Wir leben heute in einer von den neuen, digitalen Medien durchdrungenen und vermittelten Welt, in der die oder der Einzelne über das Internet und die audiovisuellen Massenmedien Zugang zu einem unüberschaubaren Informations-, Wissens- und Unterhaltungsangebot hat, das unsere Vorstellung und unser Wissen von der Welt und der Gesellschaft, in der wir leben, maßgeblich prägt. Die für den erfolgreichen Umgang mit den neuen Medien und den durch sie generierten Informations- und Kommunikationsstrukturen erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse werden unter dem vielversprechenden Label Medienkompetenz gehandelt.

Lange Zeit ein wenig beachtetes und bisweilen auch belächeltes Konstrukt der Medienpädagogik, ist Medienkompetenz in den vergangenen beiden Jahrzehnten zu einem mehr oder weniger fraglos akzeptierten gesellschaftlichen Leitbild avanciert, das gleichermaßen von der Politik, der Wirtschaft, den Medien und der Medienpädagogik propagiert wird. Insbesondere die Politik wird nicht müde, sie gebetsmühlenartig als unabdingbare Basiskompetenz für eine angemessene politische, kulturelle und ökonomische Teilhabe des Einzelnen am gesellschaftlichen Leben und am Wohlstand der postindustriellen Informations- und Wissensgesellschaft zu beschwören. Sie wird den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur als notwendige Voraussetzung für ihre Beschäftigungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt, ihre Teilhabe an der demokratischen Meinungs- und Willensbildung und die erfolgreiche Orientierung in dem durch das Internet aufgeschlossenen Informations- und Wissensuniversum verkauft, sondern auch als wirksamer Schutz vor den Fallstricken, Risiken und Gefahren der postmodernen Mediengesellschaft.

Wem es an Medienkompetenz mangelt, so die in zahlreichen medienpolitischen Papieren der Parteien, Ministerien und Wirtschaftsverbände unterschwellig mitlaufende Drohung, läuft Gefahr, den Anforderungen der Wissensgesellschaft nicht gewachsen zu sein und auf der Strecke zu bleiben.

Begriffliche Unschärfe

Das Problem ist nur, dass die von Politik, Wirtschaft und Medien seit Jahren von den Bürgern eingeforderte Medienkompetenz inhaltlich und begrifflich derart unbestimmt ist, dass niemand genau weiß, was ihm eigentlich abverlangt wird. Selbst Medientheoretiker und -pädagogen räumen mehrheitlich ein, dass es bislang an verbindlichen Normen und Kriterien zur Bewertung von Medienkompetenz mangele. Ihre gängige Bestimmung als Fähigkeit des Subjekts, einen sachgerechten, sinnvollen, kritisch-reflexiven, sozial verantwortungsvollen und kreativen Umgang mit den Medien zu pflegen, ist kaum mehr als eine wohlklingende Leerformel. Es kann daher nicht verwundern, dass erhebliche Uneinigkeit darüber besteht, welche Fähigkeiten Medienkompetenz umfasst, wie sie erfolgreich erworben und vermittelt werden kann und erst recht ab wann jemand hinreichend über sie verfügt.

Allen theoretischen Unklarheiten, methodischen Problemen und unterschiedlichen Konnotationen zum Trotz, die dem Konstrukt Medienkompetenz anhaften, werden Politik und Wirtschaft nicht müde, sie als unverzichtbare Ressource anzupreisen, die es in einem lebenslangen Lernprozess beständig aufzufrischen gilt. Jedwedes Unterfangen, das den Anspruch erhebt, Medienkompetenz zu befördern, gilt derweil von vornherein als gut und unterstützenswert. Selbst die lange Zeit umstrittene, weil ausschließlich eigennützige Sponsoringpraxis der profitorientierten Medienindustrie, Kindergärten und Schulen mit stark verbilligter oder kostenloser Hard- und Software auszustatten, ruft kaum noch Bedenken hervor, seit die Unternehmen dazu übergegangen sind, sie der Öffentlichkeit als "Medienkompetenzförderung" zu verkaufen. Wer hingegen die Tauglichkeit von Medienkompetenz als Leitbild der Mediengesellschaft in Frage stellt und die zahlreichen, von der öffentlichen Hand finanzierten Maßnahmen zu ihrer Förderung in weiten Teilen für fragwürdig oder gar überflüssig hält, läuft Gefahr, im medienpolitischen Diskurs geflissentlich überhört und an den Rand gedrängt zu werden.

Selbst die Kritik renommierter Medienpädagogen und -theoretiker an dem unreflektierten Umgang mit dem wissenschaftlich invaliden Medienkompetenzkonzept hat seine Apologeten bislang nicht irritiert. Im Gegenteil: Medienkompetenz scheint sich immer mehr zur allumfassenden Universalkompetenz der globalisierten Wissensgesellschaft zu entwickeln, und die Appelle an die Bürger, die ihre zu verbessern, haben in den vergangenen Jahren eher zu- als abgenommen.

Insbesondere die Politik kann sich nach der von ihr betriebenen Deregulierung des Medienmarktes eine Demontage ihres medienpolitischen Leitbegriffs nicht leisten. Damit wäre ihre Strategie gescheitert, die Bewältigung der Probleme und Risiken, die auf das Konto ihrer Entscheidungen gehen, an den einzelnen Bürger zu delegieren. Schließlich ist doch heute jeder gehalten, sich über die technische Beherrschung der neuen Informations- und Unterhaltungsmedien hinaus zu befähigen, die Risiken und Fallen der schönen neuen Medienwelt zu erkennen und gekonnt zu umschiffen, ihren falschen Versprechungen und verführerischen, aber qualitätslosen Angeboten nicht unreflektiert auf den Leim zu gehen und den insbesondere durch Internet und Handy entstandenen Gefahren für den Daten- und Persönlichkeitsschutz angemessen vorzubeugen.

Den Bürgern wird diese Zumutung von der Politik als ein Beitrag zur Stärkung der Eigenverantwortung im Dienste eines selbstbestimmten Lebens in der digitalen Gesellschaft verkauft. Wer sich nicht hinreichend um die benötigte Medienkompetenz bemüht, so die unterschwellig vermittelte Botschaft, der verhält sich verantwortungslos und hat daher auch kein Recht sich zu beklagen, wenn er an den Klippen der Mediengesellschaft Schiffbruch erleidet.

Verlagerung von Verantwortung

Dass diese schleichende, in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen fortschreitende Verlagerung der Verantwortung für die problematischen Folgen politischer Entscheidungen von der Politik auf die Bürger bislang mehr oder weniger widerstandslos hingenommen wird, zeigt, wie stark neoliberale Denkmuster bereits im individuellen Bewusstsein verankert sind. Anders lässt sich kaum erklären, dass selbst dann, wenn die Politik Medienkompetenz ganz offenkundig dazu missbraucht, um ihr eigenes Versagen zu kaschieren, kein lautstarker Widerspruch aufkommt.

So etwa, wenn versucht wird, der Öffentlichkeit ein so beunruhigendes gesellschaftliches Phänomen wie die merkliche Zunahme schwerer psychischer und sozialer Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit Blick auf deren Medienverhalten als Folge eines Mangels an Medienkompetenz zu verkaufen. Als ob der exzessive Fernsehkonsum und die suchtähnliche Abhängigkeit von Handy, Computer, Internet, computerbasierten Killerspielen und sonstigen medialen Gewalt- und Pornografieangeboten, die bei vielen der psychisch und sozial schwer gestörten Kinder und Jugendlichen zu beobachten sind, die primäre Ursache für ihr deviantes Verhalten wären.

Wie unverfroren die Politik darum bemüht ist, der Öffentlichkeit die Symptome jugendlicher Devianz als deren Ursache zu verkaufen, offenbart ihr unseriöser Umgang mit den Amokläufen von Jugendlichen an Schulen in Erfurt, Emsdetten und Winnenden. Noch bevor die psychosozialen Ursachen und die Hintergründe der Taten hinreichend geklärt waren, wurde im Verbund mit den Medien eine Debatte über das Verhältnis von Medien und Gewalt eröffnet, in der sich Politiker, Psychologen, Pädagogen und Kriminologen mit hinlänglich bekannten Argumenten für oder gegen ein Killerspielverbot und einen verstärkten Jugendschutz aussprachen. Einig waren sich die Kontrahenten jedes Mal aber darin, dass es den Tätern an Medienkompetenz gemangelt habe und daher deren Förderung die wirksamste Prävention gegen solche Taten sei.

Indem die von der Politik zu verantwortenden sozialen und ökonomischen Bedingungen, unter denen solche sozial und psychisch deformierten Männer in unserer Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft heranwachsen, in den medial inszenierten Debatten über die Ursachen der Amokläufe systematisch ausgeblendet wurden, bekamen unter der Hand diejenigen die Mitverantwortung für die Taten zugeschoben, die für eine ausreichende Medienkompetenz der Heranwachsenden zuständig sind: die Eltern, Kindergärten und Schulen. Durch diesen strategischen Schachzug war nicht nur die Politik, sondern auch die Medienindustrie weitgehend von dem Vorwurf der Mitverantwortung für die Taten entlastet und konnte, mehr oder weniger ungehindert, ihr profitables Angebot an Gewalt, Pornografie und menschenverachtenden Reality-Formaten weiter ausbauen.

Wenn sich unterdessen auch die Computerspieleindustrie, die geradezu darauf angewiesen ist, permanent an der medialen Gewaltspirale zu drehen, um die von ihr entwickelten Produkte einer nach immer neuen Kicks verlangenden Klientel erfolgreich zu verkaufen, für die Förderung der Medienkompetenz ihrer Kundschaft stark macht, dann nicht, weil die Branche unter dem Eindruck der Amokläufe mehr Verantwortungsbewusstsein entwickelt hätte. Sie hat nach wie vor kein Interesse daran, ihre jugendliche Kundschaft vor übermäßigem Medienkonsum und mentaler Verrohung zu bewahren. Wohl aber daran, dass die Konsumenten ihre Allmachts- und Gewaltphantasien nur digital befriedigen und nicht die Grenze zur Realität überschreiten - schaden doch Amokläufe nicht nur dem Image der Branche, sondern auch dem Geschäft.

Versagen der Medienpädagogik

Dass die Medienpädagogen, von einigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen, die fragwürdige Indienstnahme ihres Leitbegriffs "Medienkompetenz" durch die Politik und die Medienindustrie allenfalls verhalten monieren, ist nur auf den ersten Blick irritierend. Ihre auffällige Zurückhaltung erklärt sich daraus, dass viele von ihnen in den zurückliegenden zwanzig Jahren ihren bewahrpädagogischen Ansatz aufgegeben und ein neues Selbstverständnis entwickelt haben. Sie verstehen sich nicht mehr als moralische Schutztruppe, die das wehrlose Kind vor den verderblichen Einflüssen der audiovisuellen Massenmedien und der Werbung zu schützen beansprucht. Eher schon sehen sie sich als medienpolitische task force zur Eindämmung der Kollateralschäden, die im Gefolge der Deregulierung des Medienmarktes entstanden sind.

Wo sie aber Medienkompetenz als optimales Prophylaktikum gegen einen unreflektierten Umgang mit den neuen Medien und die Gefahr, sich in den verführerischen Fallstricken der "schönen neuen Medienwelt" hoffnungslos zu verheddern, anpreisen, ohne auf ihre begrenzte Wirksamkeit hinzuweisen, machen sich die Medienpädagogen zu Komplizen einer Politik, der das Wachstum der Medienwirtschaft mehr am Herzen liegt als ein hinreichender Verbraucherschutz. Statt gegen die fragwürdige Indienstnahme ihres Leitbegriffs Front zu machen, entwickelt die Medienpädagogik ständig wachsende Anforderungskataloge, die Elternhäuser und Schulen abarbeiten sollen, um Kinder und Jugendlichen gegen die medialen Gefährdungen zu immunisieren.

Abgesehen davon, dass der Nachwuchs heute einem unkontrollierbaren Medieneinfluss unterliegt, ist die den Eltern und Lehrern zugemutete Medienkompetenzvermittlung kaum zu leisten. Sie sprengt den ihnen dafür zur Verfügung stehenden Zeitrahmen und übersteigt in vielen Fällen auch deren pädagogische Fähigkeiten, mentalen Kapazitäten und Wissenshorizont. Kaum etwas ist daher für die Medienerziehung von Kindern und Jugendlichen mit ungleichen milieubedingten Voraussetzungen und Fähigkeiten so wenig hilfreich wie die überfrachteten Curricula, mit denen sich realitätsferne Medienpädagogen zu profilieren versuchen.

Würde die Medienpädagogik den familiären Verhältnissen und der schulischen Realität in unserer Gesellschaft Rechnung tragen und sich von ihren voluminösen Anforderungskatalogen und ihrem problematischen Medienkompetenz-Leitkonzept verabschieden, liefe sie allerdings Gefahr, ihren gewinnbringenden Nutzen für die Politik, die Medien und die Medienindustrie zu verlieren. Und das wäre für sie ein Desaster, weil sie ohne die zahlreichen vom Bund, den Ländern und der Privatwirtschaft finanzierten Forschungsaufträge, Gutachten und Medienanalysen zu einem Schattendasein im zunehmend verwertungsorientierten Wissenschaftsbetrieb verdammt wäre.

Von daher ist es kein Wunder, dass viele Medienpädagogen eher die Gunst der Stunde nutzen, um Medienkompetenz mehr und mehr zu einer Universalkompetenz der digitalen Gesellschaft aufzublähen und den Gebrauchswert ihrer Disziplin für die Politik, die Medien und die Medienindustrie weiter zu erhöhen. Kaum ein problematisches soziales Phänomen, das sie nicht auf einen Mangel an Medienkompetenz zurückzuführen versuchen, um im nächsten Schritt mit neuen Förderkonzepten aufzuwarten, die vorgeblich geeignet sind, um aus passiven und unreflektierten Medienkonsumenten kreative und selbstbestimmte, den Anforderungen der globalisierten Informations- und Wissensgesellschaft gewachsene Medienakteure und -nutzer zu machen.

Dass die Mehrzahl der davon inspirierten Fördermaßnahmen weitgehend an den Angehörigen der bildungsfernen Schichten vorbeigehen, die offiziell als die wichtigste Zielgruppe der Medienkompetenzförderung gehandelt werden, scheint weder die Politik noch die Medienpädagogik zu stören. Für medienpädagogische Projekte, von denen es auch hierzulande eine ganze Reihe gibt, die inhaltlich und methodisch an den Lebenslagen, mentalen Voraussetzungen und Erfahrungen ihrer bildungsfernen Klientel ansetzen, fehlen hingegen häufig die finanziellen Mittel. Und das, obwohl gerade solche Projekte trotz ihres oft bescheidenen Anspruchs einen größeren Beitrag zur Medienbildung sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher leisten als viele der teuren, von der Politik geförderten Programme und die meisten Schulen.

Letztere verfügen, selbst wenn sie mit Computern und einem Internetzugang ausgestattet sind, in der Regel weder über die zeitlichen noch über die personellen Ressourcen, die für eine qualifizierte und vor allem nachhaltige Medienbildung erforderlich wären. Deshalb erschöpft sich schulische Medienerziehung, allen wohlklingenden curricularen Vorgaben zum Trotz, meist darin, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, mit den gängigen Officeprogrammen umzugehen, mäßig sicher im Internet zu surfen, problemlos E-Mails zu schreiben und - wenn es hoch kommt - eine eigene Website zu erstellen. Für die von der Medienpädagogik geforderte systematische Analyse der gesellschaftlichen Funktion der Medien, ihrer Struktur und ihrer inhaltlichen Angebote oder gar für eine nähere Beschäftigung mit der Medienpolitik, der Medienkonzentration oder der Medienökonomie mangelt es in der Regel an Zeit und dem dafür notwendigen Know-how auf Seiten des Lehrpersonals.

Das gilt auch für die Vermittlung der Fähigkeiten und Kenntnisse, die für die erfolgreiche Erschließung des im Internet zur Verfügung stehenden Informationsangebots unabdingbar notwendig sind. Diese scheitert häufig schon an der geringen Lesefähigkeit und dem mangelnden Textverständnis vieler Kinder und Jugendlicher. Die wenigen rühmlichen Ausnahmen, die von den Medien als Beispiele für eine vorbildliche schulische Medienerziehung gefeiert werden, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das, was in der Fläche unter dem Label Medienerziehung angeboten wird, mehr als dürftig ist.

Selbst groß angelegte Initiativen wie "Schulen ans Netz" oder "Ein Laptop für jeden Schüler" haben bislang nicht merklich zu der davon erhofften Verbesserung der jugendlichen Medienkompetenz geführt. Dass die Ausstattung der Schulen mit Hard- und Software nur dann etwas bringen kann, wenn sie mit einer Aufstockung der personellen und fachlichen Ressourcen der Schulen und einer grundlegenden Veränderung der vorherrschenden Unterrichtsmethodik und -praxis einhergeht, ist zwar schon oft genug wissenschaftlich nachgewiesen worden, wird aber von den zuständigen politischen Entscheidungsträgern schon aus Kostengründen geflissentlich ignoriert. Angesichts der unzureichenden zeitlichen, fachlichen und methodisch-didaktischen Voraussetzungen für eine nachhaltige Medienbildung in unseren Bildungseinrichtungen erweist sich die nach jedem Amoklauf von Politikern aller Parteien lautstark erhobene Forderung nach einer verstärkten Medienkompetenzförderung durch Kindergrten und Schulen als eine ritualisierte Strategie zur Beruhigung der erregten Öffentlichkeit.

Der medienkompetente Bürger - ein Alptraum

Die frappante Diskrepanz, die hierzulande zwischen der allseits beschworenen Bedeutung von Medienkompetenz für die erfolgreiche Bewältigung der Herausforderungen der Informations- und Wissensgesellschaft und dem desolaten Zustand besteht, in dem sich die Medienbildung befindet, legt den Verdacht nahe, dass weder die Politik noch die Wirtschaft und die Medien ein ernsthaftes Interesse an dem reflektierten, kreativen und kritischen Mediennutzer haben, den sie unablässig als Leitbild der Mediengesellschaft vor sich hertragen.

Das wäre nämlich einer, der seine beruflich und privat benötigten IT-Kenntnisse zwar auf dem neuesten Stand hält, aber nicht einen großen Teil seiner Freizeit dazu nutzt, um mehr oder weniger ungezielt und gedankenlos durch das Netz zu surfen oder sich stundenlang in der Welt der Computerspiele und Chatrooms zu verlieren. Im Umgang mit Büchern und Bibliotheken geschult, durch den er sich das notwendige Orientierungswissen für die Erschließung des im Internet ausgebreiteten Informationsangebots angeeignet hat, würde er im Netz vorwiegend gezielt nach Informationen suchen, die er zur Erweiterung seines Wissenshorizontes und zur effektiveren Bewältigung seines Alltags benötigt. Auf eine Mitgliedschaft bei "Facebook" oder "StudiVZ" würde er, schon um seine Privatsphäre zu schützen, verzichten. Bloggen und twittern würde er allenfalls dann, wenn er Relevantes zu vermelden hätte, das auf anderen Wegen keinen Eingang in den öffentlichen Diskurs finden würde, nicht aber, um die Welt mit belanglosen Nichtigkeiten und privaten Befindlichkeiten zu behelligen.

Er würde auch nicht seine Hardware, sei es nun sein Handy, Fernseher, MP3-Player, Navigationsgerät oder Computer, im Rhythmus der Innovationszyklen der Industrie gegen neue, leistungsstärkere Produkte eintauschen, sondern erst dann, wenn die Neuentwicklungen für ihn einen spürbar höheren Nutzen und Gebrauchswert hätten als seine Altgeräte. In gleicher Weise würde er auch in Sachen Software verfahren und seine Geräte nicht mit Programmen überladen, die er eigentlich nicht benötigt. Überdies würde er die Informations- und Unterhaltungsangebote der Medien überaus selektiv und restriktiv nutzen, weil er den größten Teil seines Freizeitbudgets für sein Familienleben, die Pflege seiner Sozialkontakte und die Wahrnehmung anderer Kultur- und Freizeitangebote verbrauchen würde.

Dieser, hier nur in groben Zügen skizzierte, aus der Sicht der Medienpädagogik wohl als ausreichend medienkompetent geltende Mediennutzer wäre der lebendige Alptraum der Medienindustrie, der Medien und der Politik. Er würde alle ihre Wachstumsprognosen und -hoffnungen zunichte machen und eine mit der jüngsten Finanzkrise vergleichbare Wirtschaftskrise heraufbeschwören, gilt doch die Informations- und Kommunikationstechnologie als der entscheidende Wachstumsmotor der globalisierten Wissensgesellschaft. Der von der Politik, den Medien und der Medienindustrie erwünschte medienkompetente Bürger ist daher wohl eher einer, der sich mehr oder weniger bewusstlos dem konsumistischen Imperativ der postindustriellen Mediengesellschaft unterwirft, der in etwa so lautet:

Konsumiere möglichst viel von dem, was Dir von den Medien und der Medienindustrie angeboten wird, entwickle aber dabei keine Denk- und Handlungsmuster, die Deine Verwendbarkeit auf dem Arbeitsmarkt beeinträchtigen oder zu einem gesellschaftlich inakzeptablen Sozialverhalten führen.

So viel zu der Medienkompetenz, die in unserer rendite- und wachstumsfixierten Marktgesellschaft den Bürgern abverlangt wird, und, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, weniger im Dienste eines selbstbestimmten als eines marktkonformen Umgangs mit den Medien steht. Wer ihr daher, wie von der Politik gefordert, lebenslang hinterherhechelt, hat gute Chancen, zu einem technisch hoch aufgerüsteten, mit überflüssigem Wissen angefüllten und unablässig medial kommunizierenden Medienidioten zu werden, von denen es in unserer schönen neuen Medienwelt schon heute mehr gibt, als uns lieb sein kann.

Dr. phil., geb. 1951; freiberuflicher Publizist, Kulturberater und Ausstellungsmacher, Köln. E-Mail Link: weiner@netcologne.de