Einleitung
In diversen politikwissenschaftlichen Lehrbüchern und Nachschlagewerken ist zu lesen, dass das britische Regierungssystem - das Westminster-Modell - als Musterbeispiel einer Konkurrenzdemokratie gilt. Mittlerweile stellt sich jedoch die Frage, ob die Lehrbücher nicht grundlegend umgeschrieben werden müssen. Schließlich wurde das Westminster-Modell, das Lord Hailsham einst als elective dictatorship bezeichnete und Arend Lijphart vor rund einem Jahrzehnt noch als Synonym für die Mehrheitsdemokratie benutzte, gleich auf zweifache Weise herausgefordert: zunächst durch die zahlreichen nach 1997 erfolgten Verfassungsreformen der regierenden Labour-Partei und dann durch das Ergebnis und die Folgen der Unterhauswahl 2010.
Der Beitrag untersucht den Wandel des Westminster-Modells (auf nationaler Ebene) vor dem Hintergrund der von Lijphart beschriebenen Demokratiemodelle und der von George Tsebelis begründeten Vetospielertheorie. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sowohl die Verfassungsreformen als auch die Unterhauswahl 2010 das Westminster-Modell verändert haben, der durch die Wahl hervorgerufene Wandel jedoch weitaus gravierender war als die durch die Verfassungsreformen erfolgten Veränderungen.
Analyse auf der Grundlage der Demokratiemodelle
In seinem bekannten Werk "Patterns of Democracy" stellt Arend Lijphart zwei Demokratiemodelle gegenüber: die Konsensus- und die Mehrheitsdemokratie. Beide Modelle sind grundsätzlich Idealtypen, werden aber laut Lijphart weitgehend von real-existierenden Demokratien repräsentiert: die Konsensusdemokratie von der Schweiz, Belgien sowie der Europäischen Union (EU), die Mehrheitsdemokratie von Großbritannien. Zur Unterscheidung der beiden Modelle definiert Lijphart zehn Variablen und damit zehn Elemente der Mehrheits- und zehn Elemente der Konsensusdemokratie, die er je zur Hälfte zwei Dimensionen zuordnet: der Exekutive-Parteien- und der Föderalismus-Unitarismus-Dimension. Auf dieser Grundlage entsteht eine "zweidimensionale konzeptuelle Karte der Demokratie", in der sich die Position einzelner Länder innerhalb eines bestimmten Zeitraums durch die Ermittlung der durchschnittlichen Variablenwerte lokalisieren lässt. Lijpharts letzte vergleichende Untersuchung umfasst 36 Länder im Zeitraum von 1945 bis 1996.
Die Exekutive-Parteien-Dimension umfasst die ersten fünf Variablen, zwischen denen - wie Lijphart zeigt - eine hohe positive Korrelation besteht. Die erste Variable ist das Parteiensystem und nimmt idealtypisch in der Mehrheitsdemokratie die Ausprägung eines Zweiparteiensystems und in der Konsensusdemokratie die Ausprägung eines Mehr- bzw. Vielparteiensystems an. Lijphart misst die Anzahl der Parteien in einem Parteiensystem mit Hilfe des effective number of parliamentary parties index von Markku Laakso und Rein Taagepera. Die von Lijphart berechnete durchschnittliche effektive Anzahl britischer Parlamentsparteien beläuft sich zwischen 1945 und 1992 auf 2,11. Damit lag Großbritannien in diesem Zeitraum auf dem 29. Platz (in absteigender Reihenfolge) in Lijpharts Ländervergleich. Die effektive Anzahl britischer Parlamentsparteien hat sich in der Folge der Unterhauswahl 2010 verändert: Mit 2,58 liegt sie nunmehr deutlich über dem von Lijphart berechneten Wert.
Als zweite Variable fungiert die Regierung, die idealtypisch in der Mehrheitsdemokratie die Ausprägung einer Einpartei-Mehrheitsregierung und in der Konsensusdemokratie die Ausprägung einer übergroßen ("oversized") Vielparteien-Koalitionsregierung annimmt. Lijphart misst den "Mehrheitsgrad" von Regierungen, indem er den Durchschnitt zwischen der Phase von Einparteiregierungen und der Phase von minimal winning-Regierungen ermittelt. Der berechnete durchschnittliche Mehrheitsgrad britischer Regierungen beläuft sich zwischen 1945 und 1992 auf 96,7 Prozent. Damit lag Großbritannien in diesem Zeitraum auf dem 28. Platz (in aufsteigender Reihenfolge) in Lijpharts Ländervergleich. Der Mehrheitsgrad britischer Regierungen hat sich nach der Unterhauswahl 2010 durch die Bildung der Koalitionsregierung aus Konservativen und Liberaldemokraten verändert: Mit 50 Prozent liegt er nunmehr deutlich unter dem von Lijphart berechneten Wert.
Die dritte Variable betrifft das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament und zeigt idealtypisch in der Mehrheitsdemokratie die Ausprägung eines von der Exekutive dominierten Verhältnisses und in der Konsensusdemokratie die Ausprägung eines ausgewogen(er)en Verhältnisses. Lijphart misst den Grad der Exekutiv-Dominanz mit Hilfe eines Index, der auf der Kabinettsdauer basiert - dem Mittel aus zwei unterschiedlichen Indizes der Kabinettsdauer (mit einigen zum Teil fragwürdigen Korrekturen bzw. Anpassungen bei verschiedenen politischen Systemen). Die berechnete durchschnittliche Kabinettsdauer beläuft sich in Großbritannien zwischen 1945 und 1996 auf 5,52 Jahre. Damit lag Großbritannien in diesem Zeitraum zusammen mit sechs anderen Ländern an der Spitze (in absteigender Reihenfolge) in Lijpharts Ländervergleich. Die durchschnittliche Kabinettsdauer könnte sich in Großbritannien nach der Unterhauswahl 2010 verringern, da - wie Lijphart zeigt - die "Überlebenschancen" von minimal winning-Koalitionsregierungen niedriger sind als die von Einpartei-Mehrheitsregierungen.
Die vierte Variable ist das Wahlsystem und nimmt idealtypisch in der Mehrheitsdemokratie die Ausprägung eines Mehrheitswahlsystems (mit einem relativ hohen Grad an Stimmen-Mandats-Disproportionalität) und in der Konsensusdemokratie die Ausprägung eines Verhältniswahlsystems (mit einem relativ niedrigen Grad an Stimmen-Mandats-Disproportionalität) an. Lijphart misst den Grad der Disproportionalität eines Wahlsystems mit Hilfe des least squares index von Michael Gallagher. Die von Lijphart berechnete durchschnittliche Disproportionalität des britischen First-Past-The-Post Systems (FPTP) beläuft sich zwischen 1945 und 1992 auf 10,33 Prozent. Damit lag Großbritannien in diesem Zeitraum auf dem 22. Platz (in aufsteigender Reihenfolge) in Lijpharts Ländervergleich. Der Grad der Disproportionalität des britischen Wahlsystems hat sich bei der Unterhauswahl 2010 - ohne Reform des Wahlsystems - verändert: Mit 14,82 Prozent liegt er nunmehr - obwohl das Wahlsystem weder zu einem Zweiparteiensystem noch zu einer Einpartei-Mehrheitsregierung führte - deutlich über dem von Lijphart berechneten Wert.
Als fünfte Variable fungiert die "Organisation" der Interessengruppen, die idealtypisch in der Mehrheitsdemokratie die Ausprägung eines kompetitiven sowie unkoordinierten Pluralismus und in der Konsensusdemokratie die Ausprägung eines koordinierten sowie kompromissorientierten Korporatismus annimmt. Lijphart misst den Grad des Interessengruppenpluralismus mit Hilfe des Index von Alan Siaroff (in dem hohe Werte für einen kompetitiven sowie unkoordinierten Pluralismus stehen). Der von Lijphart angegebene durchschnittliche Interessengruppenpluralismus beläuft sich in Großbritannien zwischen 1963 und 1970 sowie zwischen 1983 und 1990 auf 3,38. Damit lag Großbritannien in diesem Zeitraum auf dem 34. Platz (in aufsteigender Reihenfolge) in Lijpharts Ländervergleich. Der Grad des Interessengruppenpluralismus hat sich in Großbritannien weder durch Verfassungsreformen noch durch die Unterhauswahl 2010 signifikant verändert.
Die Föderalismus-Unitarismus-Dimension umfasst die letzten fünf Variablen, zwischen denen - wie Lijphart zeigt - ebenfalls eine hohe positive Korrelation besteht.
Die sechste Variable betrifft die vertikale Gewaltenteilung bzw. den Staatsaufbau und zeigt idealtypisch in der Mehrheitsdemokratie die Ausprägung eines unitarischen sowie zentralisierten Staates und in der Konsensusdemokratie die Ausprägung eines föderalen sowie dezentralisierten Staates. Lijphart misst den Föderalismus- und Dezentralisationsgrad mit folgendem Index: 1 = unitarisch und zentralisiert; 2 = unitarisch und dezentralisiert; 3 = semi-föderal; 4 = föderal und zentralisiert; 5 = föderal und dezentralisiert. Dabei gilt ein Staat als föderal, wenn er formal eine föderale Verfassung aufweist, welche die Gewaltenteilung zwischen Bund und Gliedstaaten garantiert, und als dezentral, wenn ein hoher Grad an politischer Macht auf subnationaler Ebene ausgeübt wird. Der von Lijphart ermittelte Föderalismus- und Dezentralisationsgrad beläuft sich in Großbritannien zwischen 1945 und 1996 auf 1,0. Damit lag Großbritannien in diesem Zeitraum zusammen mit 14 anderen Ländern an der Spitze (in aufsteigender Reihenfolge) in Lijpharts Ländervergleich. Der Föderalismus- und Dezentralisationsgrad hat sich in Großbritannien seit 1998 durch die Politik der Devolution verändert. Diese hat dazu geführt, dass der Dezentralisationsgrad in Großbritannien zunahm, da Kompetenzen von der Zentralregierung an die Regionalregierungen abgegeben wurden - wenngleich asymmetrisch: So erhielt das schottische Regionalparlament weitaus mehr Kompetenzen als die nordirische Versammlung und diese wiederum mehr Kompetenzen als die walisische Versammlung. Der Föderalismusgrad wurde indessen nicht berührt, da die Devolutions-Politik nicht zu einer formalen föderalen Verfassung geführt hat, welche die Machtteilung zwischen der Zentralregierung und den Regionalregierungen garantiert. Somit ist das britische Parlament in der Lage, die Autonomie der Regionalregierungen - wie bereits mehrfach in Nordirland geschehen - mit einer einfachen Mehrheitsentscheidung rückgängig zu machen beziehungsweise auszusetzen. Bei einer Gesamtbetrachtung kann der britische Staatsaufbau als "unitarisch und semi-dezentral" begriffen werden und dem Föderalismus- und Dezentralisationsgrad in Großbritannien der Wert 1,5 zugewiesen werden, der etwas über dem von Lijphart berechneten Wert liegt.
Die siebte Variable ist die Gewaltenteilung innerhalb der Legislative beziehungsweise der Kameralismus und nimmt idealtypisch in der Mehrheitsdemokratie die Ausprägung einer Machtkonzentration im Parlament und in der Konsensusdemokratie die Ausprägung einer Machtteilung im Parlament an. Lijphart misst den Kameralismusgrad mit folgendem Index: 1 = Unikameralismus bzw. eine Kammer; 2 = schwacher Bikameralismus bzw. asymmetrische und kongruente Kammern; 3 = mittelstarker Bikameralismus bzw. asymmetrische und inkongruente oder symmetrische und kongruente Kammern; 4 = starker Bikameralismus bzw. symmetrische und inkongruente Kammern. Dabei gelten Kammern als symmetrisch, wenn sie (annähernd) gleiche Kompetenzen aufweisen und/oder deren Mitglieder über die gleiche (direkte) Legitimation verfügen, und als inkongruent, wenn sie sich aufgrund unterschiedlicher Wahlsysteme oder einer strukturellen Überrepräsentation bestimmter Minderheiten (z.B. kleiner föderaler Staaten) unterschiedlich zusammensetzen. Lijphart betrachtet das britische Parlament zwischen 1945 und 1996 grundsätzlich als asymmetrisch und ("technisch") inkongruent, jedoch zugleich als "Relikt einer vordemokratischen Ära", wodurch er ihm nicht den Wert 3,0, sondern 2,5 zuweist - der sich aber immer noch in der Mitte von Lijpharts Skala mit der Tendenz zu einem höherem Kameralismusgrad befindet. Damit lag Großbritannien in diesem Zeitraum (zusammen mit Botswana) auf dem 15. Platz (in absteigender Reihenfolge) und infolgedessen in der Hälfte der Länder mit stärkerem Bikameralismus in Lijpharts Ländervergleich. Der Kameralismusgrad hat sich in Großbritannien nicht verändert - auch nicht durch den House of Lords Act 1999, mit dem alle bis auf 92 Hereditary Peers aus dem House of Lords entfernt wurden. Der House of Lords Act sollte einerseits sicherstellen, dass die Konservativen über keine "strukturelle Mehrheit" mehr im House of Lords verfügen und im Laufe der Zeit die von den Parteien benannten Life Peers genauer das Verhältnis zwischen den Wählerstimmen bei der vorangegangenen Unterhauswahl reflektieren, andererseits aber - durch die Einrichtung einer Appointments Commission - dafür sorgen, dass eine bestimmte Zahl an unabhängigen Cross-bench Life Peers aufrechterhalten wird und keine Partei eine Mehrheit im House of Lords hat. Bei einer Gesamtbetrachtung hat sich die Kongruenz nicht maßgeblich verändert. Hervorzuheben ist aber, dass das britische Parlament letztlich erst durch den House of Lords Act vollständig (sowohl im Falle einer Labour-Regierung als auch im Falle einer konservativen Regierung) inkongruent wurde.
Als achte Variable fungiert das Verfahren zur Verfassungsänderung bzw. die Veränderbarkeit der Verfassung, die idealtypisch in der Mehrheitsdemokratie die Ausprägung einer mit gewöhnlicher bzw. einfacher Mehrheit zu ändernden "flexiblen" Verfassung und in der Konsensusdemokratie die Ausprägung einer mit qualifizierter Mehrheit zu ändernden "rigiden" Verfassung annimmt. Lijphart misst den Grad der Rigidität einer Verfassung mit folgendem Index: 1 = einfache Mehrheit; 2 = Mehrheit ist größer als einfache Mehrheit, aber kleiner als Zwei-Drittel-Mehrheit; 3 = Zwei-Drittel-Mehrheit oder vergleichbare Hürde; 4 = Mehrheit ist größer als Zwei-Drittel-Mehrheit (mit einigen Korrekturen bzw. Anpassungen bei verschiedenen politischen Systemen). Der von Lijphart ermittelte Grad der Rigidität der britischen Verfassung beläuft sich zwischen 1945 und 1996 auf 1,0. Damit lag Großbritannien in diesem Zeitraum zusammen mit fünf anderen Ländern an der Spitze (in aufsteigender Reihenfolge) in Lijpharts Ländervergleich. Die Rigidität der britischen Verfassung hat sich nicht verändert - auch nicht (indirekt) durch die Referenden, welche die Labour-Partei in der Regierungsverantwortung zu zentralen Verfassungsreformen, etwa zur gesamten Devolution-Politik, durchgeführt oder angekündigt hat. Zwar könnten sich die nachfolgenden Regierungen dadurch verpflichtet fühlen, ebenfalls Referenden zu intendierten zentralen Verfassungsreformen abzuhalten und deren Ergebnisse umzusetzen. Grundsätzlich müssen britische Regierungen aber weder Referenden abhalten noch deren Ergebnis akzeptieren - wodurch sich die Rigidität der britischen Verfassung nicht verändert hat und die Parlamentssouveränität in Großbritannien nicht eingeschränkt wird.
Die neunte Variable betrifft die Frage, wer die Verfassung bzw. höherrangiges Recht hinsichtlich der Konformität von Gesetzen mit diesem höherrangigen Recht (letztentscheidend) interpretiert und zeigt in der Mehrheitsdemokratie die Ausprägung der Parlamentssouveränität und in der Konsensusdemokratie die Ausprägung einer gerichtlichen Normenkontrolle. Lijphart misst die Stärke der gerichtlichen Normenkontrolle mit folgendem Index: 1 = keine Normenkontrolle; 2 = schwache Normenkontrolle; 3 = mittelstarke Normenkontrolle; 4 = starke Normenkontrolle. Die von Lijphart ermittelte Stärke der gerichtlichen Normenkontrolle beläuft sich in Großbritannien zwischen 1945 und 1996 auf 1,0. Damit lag Großbritannien in diesem Zeitraum zusammen mit sechs anderen Ländern an der Spitze (in aufsteigender Reihenfolge) in Lijpharts Ländervergleich. Die Stärke der gerichtlichen Normenkontrolle hat sich in Großbritannien durch den Human Rights Act 1998 verändert, mit dem die Europäische Menschenrechtskonvention in britisches Recht überführt wurde. Großbritannien ratifizierte die Konvention 1951, überführte sie aber nicht wie viele andere Mitgliedstaaten in das nationale Recht, wodurch sie nicht vor britischen Gerichten einklagbar war. Durch den Human Rights Act wurde jedoch die Möglichkeit geschaffen, dass britische Bürger vor britischen Gerichten klagen und diese vom Parlament beschlossene Rechtsakte hinsichtlich ihrer Konformität mit der Konvention überprüfen können - im Falle einer festgestellten Inkompatibilität aber nicht für nichtig erklären können. Die Gerichte (in England und Wales) können nur eine Inkompatibilitätserklärung abgeben, nach der das Parlament im Rahmen eines Schnellverfahrens den beanstandeten Rechtsakt ändern oder aufheben kann - aber nicht muss. Die Parlamentssouveränität wird also grundsätzlich nicht eingeschränkt, da das Parlament weder aufgrund des Urteils eines britischen Gerichts noch aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verpflichtet ist, tätig zu werden - auch wenn dies in der Vergangenheit immer der Fall war. Mit Blick auf das einer Inkompatibilitätserklärung folgende Schnellverfahren und die (dabei) zunehmende Bedeutung der britischen Gerichte für politische Entscheidungen kann allerdings nicht mehr davon ausgegangen werden, dass es in Großbritannien überhaupt keine Normenkontrolle gibt, und muss der Stärke der gerichtlichen Normenkontrolle der Wert 1,5 zugewiesen werden, der etwas über dem von Lijphart berechneten Wert liegt.
Die zehnte Variable ist die Zentralbank und nimmt idealtypisch in der Mehrheitsdemokratie die Ausprägung einer schwachen sowie abhängigen Zentralbank und in der Konsensusdemokratie die Ausprägung einer starken sowie unabhängigen Zentralbank an. Lijphart misst den Grad der Unabhängigkeit der Zentralbank mit Hilfe eines Index, der insgesamt drei Indizes kombiniert (in denen hohe Werte für eine starke sowie unabhängige Zentralbank stehen): zwei unterschiedliche Indizes von Alex Cukierman, Steven B. Webb und Bilin Neyapti sowie einen Index von Vittorio Grilli, Donato Masciandoro und Guido Tabellini. Der von Lijphart angegebene Grad der Unabhängigkeit der Bank of England beläuft sich zwischen 1950 und 1990 auf 0.31 - dem Mittel aus einem der beiden Cukierman-Webb-Neyapti Indizes (0.30) und dem Grilli-Masciandoro-Tabellini Index (0.32). Damit lag Großbritannien in diesem Zeitraum auf dem 27. Platz (in absteigender Reihenfolge) in Lijpharts Ländervergleich. Der Grad der Unabhängigkeit der Bank of England ist durch eine unmittelbar nach dem Regierungswechsel 1997 eingeleitete Zentralbank-Reform der Labour-Regierung erhöht worden. Auf der Grundlage des (für den Zeitraum nach der Reform einzigen verfügbaren) Grilli-Masciandoro-Tabellini Index lag der Grad der Unabhängigkeit der Bank of England mit 0,69 nach der Reform deutlich über dem von Lijphart berechneten Wert von 0,32.
Im Ergebnis sind drei Punkte festzuhalten.
Erstens hat das (real existierende) Westminster-Modell zwischen 1945 und 1996 nur annähernd der (idealtypischen) Mehrheitsdemokratie entsprochen - und sollte daher nicht mit dieser gleichgesetzt werden. Eine Gesamtbetrachtung von Lijpharts Untersuchung zeigt zudem, dass es sich von den 36 analysierten Ländern weder in der Exekutive-Parteien-Dimension noch in der Föderalismus-Unitarismus-Dimension am stärksten mit dem Idealtyp der Mehrheitsdemokratie gedeckt hat. Selbst bei einer Betrachtung beider Dimensionen fungierte Neuseeland letztlich als "reineres" Exemplar der Mehrheitsdemokratie.
Zweitens haben die nach 1997 erfolgten Verfassungsreformen der regierenden Labour-Partei dazu geführt, dass sich das Westminster-Modell in der Föderalismus-Unitarismus-Dimension in einigen Variablen in Richtung Konsensusdemokratie bewegt hat - ohne den Charakter der Mehrheitsdemokratie zu verlieren. Schließlich entspricht das Westminster-Modell in allen Variablen der Föderalismus-Unitarismus-Dimension - mit Ausnahme der Unabhängigkeit der Zentralbank - noch immer mehr der Mehrheits- als der Konsensusdemokratie.
Drittens hat die Unterhauswahl 2010 und die anschließende Bildung der Koalitionsregierung dazu geführt, dass sich das Westminster-Modell in der Exekutive-Parteien-Dimension in einigen Variablen in Richtung Konsensusdemokratie bewegt hat - ebenfalls ohne den Charakter der Mehrheitsdemokratie zu verlieren. Schließlich entspricht das Westminster-Modell in allen Variablen der Exekutive-Parteien-Dimension noch immer mehr der Mehrheits- als der Konsensusdemokratie (im Bereich des Wahlsystems sogar noch deutlicher als in dem von Lijphart untersuchten Zeitraum).
Zudem könnten die in Aussicht gestellten Reformen der neuen Koalitionsregierung dazu führen, dass sich das Westminster-Modell in beiden Dimensionen weiter verändert. In der Föderalismus-Unitarismus-Dimension könnte sich der Kameralismusgrad verändern. Schließlich haben sich die Regierungspartner in den Koalitionsvereinbarungen darauf geeinigt, ein Komitee zur Vorbereitung von Vorschlägen für eine ganz oder überwiegend (nach den Grundsätzen der Verhältniswahl) gewählte zweite Kammer - mit vermutlich einmaligen langen Amtszeiten und einem grandfathering system für die gegenwärtigen Peers - einzusetzen. Eine derartige zweite Kammer würde sich in der Zusammensetzung wahrscheinlich deutlicher von der ersten Kammer unterscheiden (d.h. inkongruenter - und zugleich nicht mehr ein "Relikt einer vordemokratischen Ära" - sein) sowie möglicherweise aufgrund ihrer stärkeren Legitimation auch mehr Kompetenzen einfordern (und im Falle einer entsprechenden Kompetenzübertragung symmetrischer sein).
In der Exekutive-Parteien-Dimension könnte sich der Grad der Disproportionalität des Wahlsystems verändern. Schließlich hat sich die Koalitionsregierung auch darauf geeinigt, ein Referendum über die Einführung des Alternative Vote Systems (AV Systems) durchzuführen. Das AV System hätte im Vergleich zum bestehenden FPTP System diverse Vorteile. So würde es die Liberaldemokraten nicht so stark benachteiligen - aber nicht die Stimmen-Mandats-Proportionalität erhöhen. Es könnte sogar zu einer noch größeren Disproportionalität führen, wie die Independent Commission on the Voting System 1998 anhand von Simulationsrechnungen belegt hat. Das bedeutet jedoch nicht zwingend, dass es Einpartei-Mehrheitsregierungen hervorbringen würde. Das AV System ist zwar ein Mehrheitswahlsystem, kann aber durchaus auch - wie zuletzt das FPTP System - ein hung parliament, also ein Parlament ohne absolute Mehrheit einer Partei, erzeugen. Dies ist angesichts der zunehmenden Schwäche der großen Parteien in Großbritannien nicht unwahrscheinlich. Entscheidend ist jedoch, dass mit dem AV System die Chance auf eine Einpartei-Mehrheitsregierung gewahrt wäre, während ein Verhältniswahlsystem - wie etwa das Single Transferable Vote System (STV System) oder die personalisierte Verhältniswahl (mit Sperrklausel) - den Zwang zur Bildung einer Koalitionsregierung (oder einer Minderheitsregierung) zementieren würde.
Analyse auf der Grundlage der Vetospielertheorie
Die Analyse des Wandels des Westminster-Modells auf der Grundlage von Lijpharts Demokratiemodellen ist aufschlussreich, aber nicht ausreichend. Schließlich wird dabei das Herzstück der Mehrheitsdemokratie - die Steuerungsfähigkeit des politischen Systems - nicht präzise erfasst beziehungsweise der Mehrheitscharakter des Westminster-Modells verzerrt: nämlich vor der Unterhauswahl 2010 unter- und danach überbewertet.
Lijpharts Vorgehen lässt sich in vielerlei Hinsicht kritisieren. Einer der problematischsten Aspekte an den verwendeten Variablen ist, dass sie als gleichwertig eingestuft werden - aber gerade mit Blick auf den Kerncharakter des Westminster-Modells nicht gleichwertig sind. Die wichtigste Variable in der Exekutive-Parteien-Dimension ist definitiv die Regierung - deren Ausprägung stark vom Parteiensystem abhängt, dessen Ausprägung wiederum stark vom Wahlsystem abhängt. Während das Wahl- und das Parteiensystem als Voraussetzungen für den Regierungstyp begriffen werden können, lässt sich die Kabinettsdauer als Folge des Regierungstyps begreifen. Die Interessengruppen haben indessen - wie Lijphart selbst anmerkt - überhaupt keine klare kausale Verbindung zu den anderen Variablen und sind im Vergleich zu diesen von untergeordneter Bedeutung. Die wichtigsten Variablen in der Föderalismus-Unitarismus-Dimension (mit Blick auf die nationale Ebene) sind der Kameralismus und die gerichtliche Normenkontrolle. Beide haben einen massiven Einfluss auf die Regierbarkeit auf nationaler Ebene. Alle anderen Variablen sind in dieser Hinsicht von untergeordneter Bedeutung - vor allem die Zentralbank, die nicht einmal eine politische Variable im engeren Sinne darstellt.
Ein weiterer, in diesem Zusammenhang zentraler, problematischer Aspekt an Lijpharts Variablen und deren Messung ist, dass nicht immer das Herzstück der Mehrheitsdemokratie angemessen erfasst wird: Eine minimal winning-Koalitionsregierung wird als Mehrheitstyp eingestuft, obwohl sie stark vom Kerncharakter der Mehrheitsdemokratie abweicht, da politische Entscheidungen stets eines Kompromisses zwischen mindestens zwei Parteien bedürfen; ein Parlament mit einem inkongruenten und asymmetrischen Kammersystem wird als mittelstarker Bikameralismus eingestuft, obwohl es ebenfalls stark vom Kerncharakter der Mehrheitsdemokratie abweicht, da eine asymmetrische zweite Kammer nicht (oder nur eingeschränkt) in der Lage ist, politische (Veto-)Macht auszuüben (und es ohne diese letztlich keine Rolle spielt, ob sie kongruent oder inkongruent ist).
Die von George Tsebelis begründete Vetospielertheorie erfasst indessen das Herzstück der Mehrheitsdemokratie. Auf der Grundlage des Vetospieleransatzes lässt sich der Wandel des Westminster-Modells besser beschreiben und die Untersuchung auf der Grundlage von Lijpharts Demokratiemodellen wesentlich ergänzen. Der Vetospieleransatz ist primär ein Modell, um das Potenzial für einen Politikwechsel - die Steuerungsfähigkeit - zu beschreiben. Dieses Potenzial wird durch Vetospieler abgebildet: individuelle oder kollektive Akteure, die politischen Reformen zustimmen müssen, damit diese in Kraft treten können. Folglich konzentriert sich Tsebelis allein auf die Akteure, die eine verfassungsrechtlich garantierte, reale Vetomacht ausüben (können). Tsebelis unterscheidet insbesondere zwischen institutionellen und parteipolitischen Vetospielern. Erstere sind formal in der Verfassung verankert, Letztere können sich innerhalb der institutionellen Vetospieler bilden und an deren Stelle treten sowie unter Umständen - wenn etwa ein weiterer institutioneller Vetospieler von dem gleichen parteipolitischen Vetospieler kontrolliert wird - "absorbiert" werden. Tsebelis argumentiert, dass die Steuerungsfähigkeit von der Anzahl der Vetospieler, der ideologischen Distanz zwischen den Vetospielern sowie auch von der Kohäsion innerhalb der (kollektiven) Vetospieler (und deren internen Entscheidungsregel) abhängt. Entscheidend ist, dass die Steuerungsfähigkeit laut Tsebelis sinkt, wenn die Anzahl an Vetospielern steigt.
In Großbritannien zählt Tsebelis (vor der Bildung der Koalitionsregierung 2010) ein absolutes Minimum an Vetospielern: einen institutionellen Vetospieler - das House of Commons -, an dessen Stelle ein parteipolitischer Vetospieler - die Einpartei-Mehrheitsregierung - tritt. Weder das House of Lords noch Gerichte werden von Tsebelis als Vetospieler gezählt. Das britische Parlament wird von Tsebelis als Einkammerparlament betrachtet, da das House of Lords kein absolutes Vetorecht hat. Gerichte werden von Tsebelis grundsätzlich nicht als Vetospieler gezählt bzw. in die Analyse einbezogen - obwohl er deutlich macht, dass Verfassungsgerichte mit der Kompetenz zur Normenkontrolle und Normvernichtung prinzipiell als Vetospieler betrachtet werden können. Allerdings gibt es in Großbritannien kein (Verfassungs-)Gericht, das in der Lage wäre, Normen zu kontrollieren und zu vernichten.
Vor dem Hintergrund des Vetospieleransatzes zeigt das Westminster-Modell sowohl zwischen 1945 und 1996 als auch zwischen 1997 und 2010 weitaus deutlicher den Charakter einer Mehrheitsdemokratie als auf der Grundlage von Lijpharts Demokratiemodellen. Dabei wird deutlich, dass die Verfassungsreformen das Herzstück der Mehrheitsdemokratie nicht berührt bzw. den Kerncharakter des Westminster-Modells nicht verändert haben - ganz im Gegensatz zur Bildung der Koalitionsregierung nach der Unterhauswahl 2010. Diese transformierte das politische System Großbritanniens von einem System mit einem parteipolitischen Vetospieler in ein System mit zwei parteipolitischen Vetospielern und bewirkte dadurch einen deutlichen Wandel des Westminster-Modells. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass der Transformation von einem Ein-Vetospieler-System zu einem Zwei-Vetospieler-System eine weiter reichende Bedeutung zukommt als der Transformation eines Zwei-Vetospieler-Systems in irgendein anderes Viel-Vetospieler-System. Schließlich garantiert nur ein Ein-Vetospieler-System sowohl ein Höchstmaß an Regierbarkeit bzw. Steuerungsfähigkeit und Stabilität als auch ein Höchstmaß an Transparenz und politischer Verantwortlichkeit bzw. Zurechenbarkeit. Es sorgte in Großbritannien lange Zeit dafür, dass die Regierungspartei der alleinige "Träger" der Parlamentssouveränität war und in der Folge - in Albert V. Diceys Worten - allein das Recht hatte, "to make or unmake any law whatever".
Vor dem Hintergrund des Vetospieleransatzes wird deutlich, dass sich der Kerncharakter des Westminster-Modells durch die Bildung der Koalitionsregierung nach der Unterhauswahl 2010 weitaus stärker verändert hat als durch die nach 1997 erfolgten Verfassungsänderungen der regierenden Labour-Partei - sicher auch weitaus stärker, als dies auf der Grundlage von Lijpharts Demokratiemodellen deutlich wird. Es handelt sich letztlich um einen fundamentalen Wandel in der Natur des Westminster-Modells - der sich verstetigen könnte, wenn die nächste Unterhauswahl erneut zu einem hung parliament führt.