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Grundsätzliches zur Wahlreformdebatte | Parlamentarismus | bpb.de

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Grundsätzliches zur Wahlreformdebatte

Joachim Behnke

/ 17 Minuten zu lesen

Die wichtigste Aufgabe einer Reform des Wahlgesetzes ist die Beseitigung der Überhangmandate, um das demokratietheoretische Risiko einer nichtlegitimierten Mehrheit und Regierung zu bannen.

Einleitung

Die Bundestagswahl vom 27. September 2009 kann mit Fug und Recht als historische Zäsur in der Geschichte der Wahlen und der Parteienstruktur der Bundesrepublik Deutschland betrachtet werden. Nie zuvor waren die "kleinen" Parteien FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke so stark, nie zuvor die "großen" Parteien SPD und CDU/CSU so schwach. In der Tat kann man ihnen das Attribut "groß" nur noch mit gewissen Einschränkungen zuschreiben und lediglich als Ausdruck ihrer relativen Stärke zu den (noch?) kleinen Parteien. Mit dem sich damit zumindest mittelfristig etablierten Fünfparteiensystem deuten sich weit reichende Konsequenzen für die Regierungsbildung an.

Die neue Struktur des Parteiensystems hat aber noch eine andere, sich unmittelbar auf das Wahlergebnis auswirkende Folge. Die relative Schwäche der großen Parteien führte zu einem Rekord bezüglich einer besonderen Eigenheit des deutschen Wahlsystems: Mit insgesamt 24 Überhangmandaten, 21 davon für die CDU, drei für die CSU, entstanden bei der Bundestagswahl 2009 mehr Überhangmandate als je zuvor. Zwar war schon mit der Wiedervereinigung ein sprunghafter Anstieg der Überhangmandate zu verzeichnen gewesen, aber was vorher ein Phänomen war, das vor allem in den neuen Bundesländern zu verzeichnen war, ist nun auch im Westen im großen Maßstab aufgetreten (sh. Abbildung in der PDF-Version).

Der Grund hierfür liegt in der schon beschriebenen Parteienstruktur. Überhangmandate entstehen besonders leicht, wenn eine Partei mit weniger als 50 Prozent der Zweitstimmen in einem Bundesland annähernd alle Direktmandate in diesem Bundesland gewinnen kann. Aufgrund der starken Position der Linken (bzw. früheren PDS) in den ostdeutschen Bundesländern war es dort für CDU oder SPD daher leicht, auch mit nur 35 bis 40 Prozent der Zweitstimmen den Großteil der Direktmandate zu erringen, womit Überhangmandate entstanden. Die Zunahme von allen drei kleinen Parteien im Westen führt nun dort zu demselben Effekt.

Wichtiger noch als die absolute Anzahl der Überhangmandate ist jedoch die Differenz an Überhangmandaten zwischen Union und SPD, da diese den relativen Vorteil ausdrückt, den eine Partei beziehungsweise ein Lager durch die Überhangmandate gegenüber dem anderen Lager erzielt. Dieser Vorteil fiel 2009 für die Union fast doppelt so hoch aus wie beim bisherigen Rekordvorteil, der 1998 zu Gunsten der SPD entstanden war, als diese alle 13 Überhangmandate, die damals entstanden waren, für sich verbuchen konnte. Dieser Vorteil von 24 Mandaten entspricht immerhin über vier Prozent der regulären Anzahl von Mandaten im Bundestag. Oder, um es noch anschaulicher auszudrücken: Die Union erhält dank der Überhangmandate so viele zusätzliche Sitze, wie sie normalerweise für rund 1,75 Millionen zusätzlicher Zweitstimmen erhalten hätte; das entspricht ziemlich genau der Zahl aller gültigen Zweitstimmen, die in Berlin abgegeben wurden. Durch die Überhangmandate entstand der Union also ein "stimmwertgleicher Vorteil" in Mandaten, der dem Effekt entsprach, als ob eine virtuelle Großstadt von Unionswählern in der Größenordnung von Berlin vom Himmel gefallen sei.

Überhangmandate sind also mehr denn je präsent als Begleitphänomen von Bundestagswahlen - mit potenziell folgenschweren Konsequenzen. Besondere Brisanz gewinnt das Problem der Überhangmandate noch einmal dadurch, dass der Gesetzgeber durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum so genannten "negativen Stimmgewicht" vom Juli 2008 dazu verpflichtet ist, das Wahlsystem bis zum Sommer 2011 so neu zu regeln, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts nicht mehr auftreten kann. Unter negativem Stimmgewicht versteht man den Effekt, dass eine Partei durch zusätzliche Zweitstimmen weniger Sitze erhalten kann. Zwar hat sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil nicht explizit dazu geäußert, ob Überhangmandate verfassungsgemäß sind, aber dennoch gibt es einen starken Zusammenhang zwischen Überhangmandaten und dem Auftreten des negativen Stimmgewichts. Es sind zwar Überhangmandate vorstellbar, ohne dass es zum Effekt des negativen Stimmgewichts kommt, umgekehrt ist dieser Effekt aber immer mit dem Auftreten von Überhangmandaten verbunden. Die Abschaffung oder Neutralisierung der Überhangmandate wäre also eine hinreichende, wenn auch nicht notwendige Bedingung zur Beseitigung des negativen Stimmgewichteffekts.

Es gibt für den Gesetzgeber daher in der jetzigen Situation zwei Vorgehensweisen: Er kann sich zum Einen auf eine Korrektur des Wahlsystems beschränken, die sich ausschließlich auf den Effekt des negativen Stimmgewichts fokussiert. Diese technizistische, "enge" Lösung würde jede Perspektive auf das Wahlsystem, die über den zu behebenden Defekt hinausgeht, ignorieren und im Zweifelsfall sogar in Kauf nehmen, dass sich gewisse Aspekte des Wahlsystems unter dieser Lösung verschlechtern würden, solange alles im formalen Sinn den Auflagen des Verfassungsgerichts entspricht. Die zweite Vorgehensweise möchte ich als "integrative" Lösung bezeichnen. Sie besteht darin, dass sie die Kritik des Verfassungsgerichts zum Anlass nimmt, das Wahlsystem so anzupassen, dass es einerseits den Anforderungen des Urteils gerecht wird und gleichzeitig andere bestehende Mängel mit ins Visier nimmt. Bei der integrativen Sichtweise geht es vor allem darum, die Fähigkeit des Wahlsystems, seine wesentlichen Funktionen zu erfüllen, in vollem Umfange zu erhalten und möglicherweise sogar noch zu optimieren.

Diese Charakterisierung der beiden Lösungsansätze geht zugegebenermaßen von zwei Prämissen aus. Die erste besteht darin, dass das bestehende Wahlsystem in seinen Grundzügen so weitgehend wie möglich erhalten bleiben soll. Die zweite besteht in der Postulierung der Ansicht, dass es sich bei den Überhangmandaten um den derzeit gewichtigsten Defekt des Wahlsystems handelt, auf dessen Beseitigung es daher auch in erster Linie ankommt. Die erste Prämisse scheint mir aus zweierlei Gründen unproblematisch. Erstens gilt das deutsche Wahlsystem als Erfolgsmodell, das sich bewährt hat. Zweitens würde ein grundlegender Systemwechsel mit spürbaren Folgen für das Parteiensystem grundlegende Fragen der Legitimation aufwerfen. Die zweite Prämisse, nach der die Überhangmandate tatsächlich den größten Makel des Wahlsystems darstellen, gründet sich auf tiefer gehende Annahmen, was die essentiellen Funktionen des aktuellen Systems sind. Diese hängen offensichtlich davon ab, um welche Art von Wahlsystem es sich bei unserem System denn überhaupt handelt. Dieser Frage soll daher als nächstes nachgegangen werden.

Welches Wahlsystem haben wir?

Im deutschen Wahlsystem besitzen die Wählerinnen und Wähler zwei Stimmen; mit der Erststimme wählen sie einen Direktkandidaten in ihrem Wahlkreis, mit der Zweitstimme die Landesliste einer Partei. Die Gewinner in den Wahlkreisen werden nach relativer Mehrheitswahl festgelegt. Die Sitzverteilung im Ganzen geht folgendermaßen vor sich: Zuerst werden die Parteien bestimmt, die überhaupt an der Sitzverteilung teilnehmen, das sind alle Parteien, die mehr als fünf Prozent der Zweitstimmen erhalten oder mindestens drei Direktmandate errungen haben. Dann werden allen Parteien proportional zu ihrem bundesweiten Zweitstimmenanteil die ihnen zustehenden Sitze zugewiesen, wobei seit 2009 das Berechnungsverfahren nach Sainte-Laguë verwandt wird: Eine Partei mit 37 Prozent der Zweitstimmen erhält demnach etwa 37 Prozent der 598 Sitze, die regulär verteilt werden. Auf der Ebene dieser so genannten Oberverteilung erhielten die SPD bei der letzten Bundestagswahl 146 und die CDU 173 Mandate. Danach werden im Rahmen der so genannten Unterverteilung die Sitzkontingente der Parteien proportional auf deren Landeslisten verteilt. Danach standen der Landesliste der SPD in Baden-Württemberg 15 und der baden-württembergischen Landesliste der CDU 27 Mandate zu. Von dieser Sitzzahl werden die direkt im Wahlkreis gewonnenen Mandate abgezogen. Die verbliebenen Mandate werden entsprechend den Positionen auf der Landesliste verteilt, wobei erfolgreiche Wahlkreisgewinner übergangen werden. Die SPD erzielte beispielsweise in Baden-Württemberg ein Direktmandat, also wurden die übrigen 14 Mandate entsprechend den Listenplätzen verteilt. Die CDU allerdings hatte 37 Direktmandate in Baden-Württemberg gewonnen, obwohl ihr dort aufgrund der Zweitstimmen nur 27 Sitze zugestanden hätten. Diese "überzähligen" zehn Mandate bleiben der CDU in Form der berühmten "Überhangmandate" in vollem Umfang erhalten.

Insgesamt gibt es 299 Wahlkreise, die Anzahl der Direktmandate entspricht also genau der Hälfte der im Zuge der Oberverteilung regulär zu verteilenden Sitze. In vielen Standardwerken zum deutschen Wahlsystem ist daher sinngemäß zu lesen: "Der Bundestag besteht regulär aus 598 Sitzen, von denen 299 nach dem Prinzip der relativen Mehrheitswahl in den Wahlkreisen und die übrigen 299 Sitze nach dem Proportionalprinzip vergeben werden." Dieser Satz oder ähnliche Sätze sind verantwortlich für das schon immer und immer noch weit verbreitete Missverständnis, es handle sich beim deutschen Wahlsystem um ein "gemischtes" System im Sinne eines so genannten "Grabensystems", bei dem zwei autonome Kontingente von Sitzen unabhängig voneinander nach zwei unterschiedlichen Verfahren - Mehrheitswahl hier, Proportionalwahl dort - vergeben würden. Da ja genau dies beim deutschen Wahlsystem nicht der Fall ist, lehnen einige Wahlsystemforscher daher die Bezeichnung "gemischtes Wahlsystem" für die Bundesrepublik Deutschland als schlicht "falsch" ab.

Die verbreitete Verwirrung ist eine Folge davon, dass in der Diskussion nicht so sehr Systeme als vielmehr konzeptuelle Begriffe mit- und untereinander gemischt werden, so dass es häufig alles andere als klar ist, was mit dem Begriff mixed oder "gemischt" denn tatsächlich gemeint ist. In letzter Zeit ist es wieder häufiger zu der Bezeichnung des deutschen Systems als gemischtem Wahlsystem gekommen, durchaus auch mit der intendierten Konnotation einer Abgrenzung gegenüber dem Verhältniswahlprinzip. Diese Autoren beziehen sich üblicherweise auf neuere Arbeiten zu so genannten mixed-member electoral systems, die derzeit einen prominenten Forschungsstrang zu Wahlsystemen bilden. Allerdings wird in diesem Kontext das deutsche Wahlsystem zur Subkategorie der mixed-member proportional systems gezählt. Aber wie die grundlegenden Regeln der Definitionslehre zeigen, ist auch ein mixed-member proportional system natürlich immer noch ein hundertprozentiges Verhältniswahlsystem. Die gültige Definition eines Schimmels als "weißes Pferd" macht diesen noch lange nicht zu weniger als 100 Prozent zu einem Pferd. In den Begriffen der klassischen Definitionslehre ist das proportional system das so genannte genus proximum (die nächsthöhere Gattung), der mixed-member-Bestandteil des Definiens hingegen die differentia specifica, also die spezifische Eigenschaft, die das Definiendum gegenüber anderen Elementen des genus proximum auszeichnet. Mixed-member proportional systems sind also eine Teilmenge aller Proportionalwahlsysteme, aber um nichts weniger Verhältniswahlsysteme als jedes andere Verhältniswahlsystem wie etwa die reine Listenwahl.

Zur Aufklärung dieser verwirrenden und mitunter auch verwirrten Begriffsverwendung bietet sich ein Begriffspaar an, das von Dieter Nohlen eingeführt worden ist. Nohlen unterscheidet zwischen der sogenannten Entscheidungsregel und dem Repräsentationsziel; erstere bezieht sich auf die Art und Weise, wie Sitze zugeteilt werden, das zweite Kriterium hingegen auf die durch das Design intendierte Verteilung der Sitze.

Das mixed-member proportional system ist nämlich lediglich gemischt in Bezug auf die Entscheidungsregel, nach der die Sitze vergeben werden, nicht in Bezug auf das Repräsentationsziel. "Die beiden Prinzipien Mehrheitswahl und Verhältniswahl lassen sich nicht mischen; sie stehen sich - wie gesagt - antithetisch gegenüber. Folglich gibt es auf der Ebene der Repräsentationsprinzipien auch keine 'Mischsysteme' oder 'Mischwahlsysteme'. Insofern ist eine Klassifikation der Wahlsysteme in Mehrheitswahl, Verhältniswahl und Mischwahlsysteme (mixed systems) fehlerhaft." Aufgrund der Verrechnung der Direktmandate mit den Mandaten, die den Parteien nach dem Proporzprinzip zustehen, dem sogenannten Verhältnisausgleich, wird das Repräsentationsziel der Verhältniswahl in keiner Weise angetastet. Das Mehrheitswahlsystem bestimmt lediglich einen Teil der personalen Besetzung des Sitzkontingents, welches aber nach dem Proporzprinzip bestimmt wird. Die Zuteilung der Sitze an die Gewinner in den Wahlkreisen geht normalerweise innerhalb der Verteilung nach dem Proporzprinzip auf, ist in diese integriert; es soll mit ihr keineswegs ein eigenständiges Repräsentationsziel verfolgt werden, das neben das der Verhältniswahl tritt oder diese ergänzt. Die Rede vom deutschen Wahlsystem als einem gemischten ist also tendenziell irreführend, insbesondere wenn auf die Erwähnung verzichtet wird, dass sich die Mischung lediglich auf die Auswahl der Mitglieder bezieht, und das Konzept der Verhältniswahl im Sinne des genus proximum ebenfalls nicht genannt wird.

Die hier vertretene Sichtweise des deutschen Wahlsystems als Verhältniswahlsystem entspricht auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Diese lässt von Anfang an keinen Zweifel an der Auffassung, dass es sich beim deutschen Wahlsystem aufgrund des in §6 Absatz 2 Satz 1 des Bundeswahlgesetzes (BWG) beschriebenen Verhältnisausgleichs um ein Verhältniswahlsystem handelt. Dabei hebt auch "die Auslese der Wahlkreiskandidaten nach dem Prinzip der relativen Mehrheit im Wahlkreis (...) den grundsätzlichen Charakter der Bundestagswahl als einer Verhältniswahl nicht auf".

Legitimationsfragen

Eine der wesentlichen Funktionen des Wahlsystems besteht in der Garantie der Legitimation des Wahlsiegers zur Ausübung politischer Macht. Eine Modifikation oder gar eine grundlegende Änderung des Wahlsystems muss daher unbedingt den Aspekt beachten, inwieweit durch solche Änderungen der Legitimationsaspekt berührt wird.

Der Aspekt der Legitimation politischer Macht kann unter zweierlei Gesichtspunkten betrachtet werden, dem empirischen und dem normativen. Die empirische Seite der Legitimation besteht vor allem in der Bereitschaft jener der Herrschaft Unterworfenen, die Legitimität der Herrschaft zu akzeptieren. Normative Legitimität hingegen besteht in der Einhaltung bestimmter Kriterien, der eine Regel genügen muss, um als legitim anerkannt zu werden. Die empirische und die normative Seite des Konzepts "Legitimität" dürfen aber nicht als sich gegenseitig ausschließend betrachtet werden. Normative Legitimität kann häufig die Grundlage empirischer Legitimität sein.

Die in letzter Zeit, zum Beispiel im Zusammenhang mit "Stuttgart 21" oder anderen Formen des Bürgerprotests, so gerne beschworene "Legitimation durch Verfahren" kann nicht die letzte Grundlage der Legitimation sein. Denn diese Verfahren müssten ihrerseits wieder durch Metaregeln bestimmt worden sein. Die reine positivistische Sichtweise der "Legitimation durch Verfahren" würde also zu einem infiniten Regress der Begründung der Legitimität führen. Daher muss sich die Begründung der Legitimität solcher Metaregeln direkt auf die Verfahren selbst beziehen. Dies geschieht üblicherweise durch die Überprüfung, inwieweit die Verfahren bestimmte Prinzipien verkörpern, deren Verwirklichung als die essentielle Funktion dieser Verfahren gesehen wird. Verstößt eine Institution gegen diese Prinzipien und damit gegen den "Geist der Institution", dann ist die darauf beruhende Macht als illegitim zu bezeichnen.

Alles eben Gesagte lässt sich unmittelbar auf das Wahlsystem anwenden, als dem Verfahren, mit dem die legitimen Repräsentanten des Souveräns, also des Volks, gewählt werden. Diese Delegierten repräsentieren die Bevölkerung auf eine Weise, die einem bestimmten Repräsentationsverständnis entspricht. Das Verfahren muss daher in der Lage sein, eine Zusammensetzung des Parlaments hervorzubringen, das den Prinzipien dieses Repräsentationsverständnisses entspricht. Die Überhangmandate aber sind in keiner Weise damit zu begründen, dass mit ihnen ein irgendwie gearteter Repräsentationszweck erfüllt wird, sie sind lediglich ein unintendierter Nebeneffekt des Ineinanderwirkens bestimmter spezifischer Regeln, die jeweils für sich genommen tatsächlich bestimmte Repräsentationsziele verfolgen. Diese Regeln sind im Wesentlichen die beiden, dass mit der Erststimme in relativer Mehrheitswahl der Wahlkreiskandidat bestimmt wird und die Zweitstimme über die Gesamtverteilung der Sitze im Parlament entscheidet. Wenn aber die Bestimmung der Wahlkreissieger zu einer Verletzung der zweiten Regel der proportionalen Sitzverteilung führt, dann ist diese Abweichung vom Repräsentationsziel in keiner Weise gewollt und vollkommen willkürlich. Da die Überhangmandate als Abweichung von Regeln und nicht als deren Verwirklichung auftreten, können sie demzufolge auch nicht als Überhangmandate gerechtfertigt werden.

Das größte legitimationstheoretische Problem dürfte entstehen, wenn durch die Überhangmandate neue Mehrheiten im Parlament zustande kommen beziehungsweise andere zerstört werden. Zu einer solchen Mehrheitsumkehrung aufgrund von Überhangmandaten ist es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bisher noch nicht gekommen, aber zumindest bei zwei Bundestagswahlen, 1994 und 2002, hätte es dazu kommen können, wenn die Ergebnisse nur ein wenig anders ausgefallen wären. Auch 2009 besaßen die Überhangmandate aufgrund ihrer großen Zahl zumindest das Potenzial, im Zweifelsfall einen Rückstand von bis zu vier Prozent an Stimmen noch in eine Mehrheit in Sitzen umzukehren. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, welchen Legitimationsproblemen sich eine solche Regierung derzeit ausgesetzt sehen würde, insbesondere wenn man an das katastrophale Erscheinungsbild der aktuellen Regierung in ihrem ersten Jahr denkt. Gerade eine Bundesregierung, die Entscheidungen mit teilweise dramatischen Konsequenzen für die Betroffenen zu treffen hat, ist in besonderem Maße auf die Unbestrittenheit ihrer Legitimation angewiesen. Dass eine solche Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse auch nicht förderlich sein dürfte, die um sich greifende "Politikverdrossenheit" einzudämmen, liegt auf der Hand.

Unter legitimationstheoretischen Gesichtspunkten ist es ebenfalls problematisch, ernsthaft über die bewusste Einführung von mehrheitsbildenden Elementen nachzudenken, beispielsweise in der Form von Grabenwahlsystemen, bei denen der eine Teil der Sitze aufgrund der relativen Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen und der andere Teil mit Hilfe des Proporzes verteilt würde. Üblicherweise wird hier eine Teilung von 50:50 vorgeschlagen, doch gibt es auch weitergehende Vorschläge, die den Anteil der Direktmandate auf bis zu fünf Sechstel heben wollen. Der entscheidende Unterschied zum jetzigen System besteht beim Grabenwahlsystem darin, dass es keinen Verhältnisausgleich gibt, da die beiden Segmente unverbunden nebeneinander stehen. Dies würde also für alle kleineren Parteien eine Reduzierung ihrer Sitze auf die Hälfte oder gar ein Sechstel des Kontingents bedeuten; nach der derzeitigen Umfragenlage wäre der Verlust für die SPD ähnlich dramatisch. Sieger wäre die Union, die unter der Fünfsechstelregelung relativ bequem eine Einparteienregierung zustande brächte, was ja auch offensichtlich das politisch gewollte Resultat des Vorschlags darstellt.

Ein solch schwerwiegender Eingriff in das Wahlsystem muss jedoch als illegitim betrachtet werden. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber grundsätzlich einen großen Spielraum eingeräumt, innerhalb dessen er sich für ein Mehrheits- oder ein Verhältniswahlsystem entscheiden könne. Aber bezüglich der Legitimation gilt es auch eine kulturelle Pfadabhängigkeit zu beachten. Das jetzt existierende Parteiensystem ist das gewachsene Ergebnis eines evolutionären Prozesses des Wettbewerbs der Parteien um Wählerstimmen, den sie mit Programmen und Kandidaten ausfechten. Wenn die großen Volksparteien in den vergangenen 30 Jahren einen beträchtlichen Teil ihrer Wählerinnen und Wähler an die kleinen Mitbewerber verloren haben, so deshalb, weil sich die souveränen Bürger entschieden haben, dass ihnen das programmatische Angebot der Volksparteien nicht mehr in jedem Fall genügt. Eine Wahlsystemreform, die bestimmten Parteien durch Gesetzesbeschluss die Sitzanteile garantieren und zurückgeben würde, die sie zuvor durch die souveränen Entscheidungen der Bürger verloren haben, gäbe auf diese Weise eine verhängnisvolle Auffassung von der ansonsten so gern beschworenen Mündigkeit des Wählers zum Ausdruck. Wenn sich das Parteiensystem aufgrund souveräner Einzelentscheidungen der Bürger gewandelt hat, so ist dieses neu entstandene Parteiensystem Ausdruck des politischen Willens des Bürgers und darf nicht einfach durch Gesetze "korrigiert" werden.

Wenn also Regierungsbildungen im neuen Fünfparteiensystem schwieriger werden sollten (wofür es bisher noch keine eindeutigen empirischen Belege gibt, denn die so oft prophezeite "Unregierbarkeit" ist noch nicht eingetroffen), dann ist dies eben die Konsequenz eines Ergebnisses, das sich als Aggregation der individuellen Willensbildungen der Bürgerinnen und Bürger so eingestellt hat und dementsprechend zu akzeptieren ist. Eine solche "Reform", bei der Parteien, deren Wähleranteil mehr als ein Drittel beträgt, einen Sitzanteil zwischen fünf und zehn Prozent zugewiesen bekämen, würde von deren Anhängerschaft mit Recht als Diebstahl ihrer Wählerstimme und sicherlich nicht als legitim betrachtet. Diese Wähler würden wohl auch kaum das Argument gelten lassen, dass sie sich ihr volles Stimmgewicht ja dadurch erhalten könnten, dass sie eine große Partei wählen. Das Wahlsystem darf die Zuweisung von Stimmgewichten nicht von den politischen Präferenzen der Wähler abhängig machen, sondern muss sich diesen gegenüber neutral verhalten. Und kleine Parteien sind vorhersehbar kleine Parteien, die keine Aussicht auf den Gewinn von Direktmandaten haben, und nicht kleine Parteien, die theoretisch auch große sein könnten. In der politischen Praxis erübrigt sich die eben geführte Diskussion allerdings alleine schon dadurch, dass es keine politischen Mehrheiten für die Einführung eines Mehrheitswahlsystems oder Grabenwahlsystems geben dürfte.

Überlegungen zur anstehenden Wahlreform

Bezüglich der aktuellen Diskussion zur Wahlrechtsreform lassen sich als Quintessenz der bisher angestellten Überlegungen die folgenden Aussagen formulieren.

  • Das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland hat sich in 60 Jahren bewährt und sollte daher so weitgehend wie möglich beibehalten bleiben.

  • Das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland ist ein Verhältniswahlsystem und kein Mischwahlsystem.

  • Ein Systemwechsel des Wahlsystems zu einem Mehrheitswahlsystem oder einem Grabenwahlsystem wäre politisch kaum durchsetzbar und würde vermutlich auch bei einem überwältigenden Teil der Bürger keine Akzeptanz finden.

Das größte Manko des bestehenden Wahlsystems sind die Überhangmandate und nicht das negative Stimmgewicht. Die Überhangmandate selbst entbehren jeglicher Legitimation und stellen daher ein potenzielles Legitimationsrisiko einer Regierung dar, falls sich diese auf die Überhangmandate stützen müsste. Die vordringliche Aufgabe einer Wahlreform besteht daher in einer Beseitigung oder Neutralisierung der Überhangmandate. Die kommende Wahlreform sollte sich daher nicht auf die Beseitigung des Effekts des negativen Stimmgewichts beschränken, sondern die Reform als Gelegenheit nutzen, auch das schwerer wiegende Problem der Überhangmandate zu lösen. Da das negative Stimmgewicht nur in Zusammenhang mit Überhangmandaten auftritt, genügt es außerdem, diese zu beseitigen, um das Problem des negativen Stimmgewichts sozusagen nebenbei mit zu erledigen.

Akzeptiert man diese Aussagen, dann bleiben im Wesentlichen vier Lösungen übrig:

  • die Verrechnung entstehender Überhangmandate mit Listenmandaten derselben Partei in anderen Bundesländern;

  • die Neutralisierung der Überhangmandate durch Ausgleichsmandate;

  • die Verringerung des Anteils der Direktmandate an allen Mandaten;

  • oder die Einführung von Mehrmannwahlkreisen.

Jede dieser Lösungen hat bestimmte Nachteile. Die Verrechnung mit Listenmandaten in anderen Bundesländern verstärkt die Disproportionalität zwischen den Ländern und müsste durch einen Zwang zur Listenverbindung durchgesetzt werden. Außerdem böte sie keine Lösung für allein stehende Landeslisten wie die der CSU, da hier keine anderen Listen bestehen, mit denen Überhangmandate, die in Bayern entstehen, verrechnet werden könnten.

Ausgleichsmandate sind grundsätzlich die naheliegende Lösung und sind daher in den Wahlgesetzen der Bundesländer vorgesehen, um das Problem der Überhangmandate zu lösen. Ausgleichsmandate könnten jedoch zu einer enormen Aufblähung des Bundestags führen. Dies gilt besonders, wenn man einen doppelten Ausgleich, also zwischen den Parteien und zwischen den Ländern, anstrebt. Aber selbst wenn man sich auf einen Ausgleich zwischen den Parteien beschränken würde, könnte diese Lösung insbesondere durch Überhangmandate der CSU in Bayern zu einem dramatischen Anstieg der Sitze führen. Fünf Überhangmandate der CSU in Bayern bei einem Zweitstimmenanteil von etwa 35 Prozent könnten zu ungefähr 100 zusätzlichen Sitzen führen.

Um Überhangmandate gar nicht erst entstehen zu lassen, könnte man auch den Anteil der Direktmandate von derzeit 50 Prozent auf etwa ein Drittel senken, das heißt die Anzahl der Wahlkreise müsste von jetzt 299 auf 220 oder weniger gesenkt werden. Dies würde eine vollkommene Neustrukturierung des Wahlkreiszuschnitts erforderlich machen, der Anteil der in einem Wahlkreis lebenden Bürger würde auf das fast Eineinhalbfache ansteigen, wodurch der Aufwand der Wahlkreisvertretung für die Abgeordneten deutlich zunehmen würde.

Ähnliche Probleme würde die Einführung von Zwei- beziehungsweise Mehrmannwahlkreisen bedeuten. Wenn man statt 299 Einerwahlkreisen 150 oder 160 Zweimannwahlkreise einrichten würde, von denen jeweils die zwei Kandidaten mit den beiden höchsten Erststimmenergebnissen als direkt gewählt in das Parlament einziehen würden, würden vermutlich keine Überhangmandate mehr entstehen. Aber auch hier wäre ein dramatischer Neuzuschnitt der Wahlkreise vonnöten, die bisher geltende Orientierung an bestehenden Verwaltungseinheiten müsste aufgegeben werden.

Keine dieser Lösungen ist ideal, aber jede ist der Beibehaltung der Überhangmandate und des damit verbundenen demokratietheoretischen Risikos einer nicht legitimierten Mehrheit und Regierung vorzuziehen. Keine dieser Maßnahmen wird sich durchsetzen lassen, ohne bestimmten Interessen zu schaden, jede dieser Maßnahmen wird bei ihrer Durchführung mit entsprechenden Protesten rechnen müssen. Wer aber jetzt diese Auseinandersetzung scheut, wird sich früher oder später mit dem Problem konfrontiert sehen, seinen Bürgerinnen und Bürgern erklären zu müssen, warum eine Opposition, die mehr Stimmen als die Regierungsseite erhalten hat, dennoch nur eine Minderheit im Parlament darstellt und nicht die Trophäe der Regierung zugewiesen bekommen hat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Genau genommen handelt es sich um ein Sechsparteiensystem, da ja CDU und CSU getrennt gezählt werden müssen. Da diese jedoch in keinem Bundesland gegeneinander antreten, handelt es sich unter dem Aspekt des Parteienwettbewerbs um ein Fünfparteiensystem.

  2. Vgl. Joachim Behnke, Von Überhangmandaten und Gesetzeslücken, in: APuZ, (2003) 52, S. 21-28.

  3. Vgl. BVerfGE 121, 266.

  4. Der Effekt wurde erstmals beschrieben in: Hans Meyer, Der Überhang und anderes Unterhaltsames aus Anlaß der Bundestagswahl 1994, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 77 (1994), S. 312-362.

  5. Wichard Woyke, Stichwort: Wahlen, Opladen 1996, S. 38.

  6. Vgl. stellvertretend Philip Manow, Disproportionalität und ihre Folgen. Die Mehrheitswahlkomponente des deutschen Wahlsystems, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 20 (2010), S. 149-178; Franz-Urban Pappi/Michael Herrmann, Überhangmandate ohne negatives Stimmgewicht: Machbarkeit, Wirkungen, Beurteilung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), 41 (2010) 2, S. 260-278.

  7. Vgl. Matthew Soberg Shugart/Martin P. Wattenberg (eds.), Mixed-Member Electoral Systems. The Best of Both Worlds?, Oxford 2001.

  8. Vgl. Dieter Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, Opladen 2009, S. 140ff.

  9. Ebd., S. 144.

  10. Vgl. BVerfGE 1, 208, 246; Hans-Jörg Bücking, Der Streit um Grundmandatsklausel und Überhangmandate, in: Eckhard Jesse/Konrad Löw (Hrsg.), Wahlen in Deutschland, Berlin 1998, S. 184.

  11. BVerfGE 34, 130, 139.

  12. Vgl. Wilfried Hinsch, Legitimacy and Justice. An Conceptual and Functional Clarification, in: Jörg Kühnelt (ed.), Political Legitimization without Morality?, Berlin 2008, S. 39-52.

  13. Vgl. Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, Cambridge, Mass. 1977.

  14. Reinhard Zintl, Kollektive Entscheidungsprozesse und die Funktionalität legitimer Macht, in: Martin Held/Gisela Kubon-Gilke/Richard Sturm (Hrsg.), Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik, Marburg 2008, S. 122.

  15. Vgl. Gerd Strohmeier, Ein Plädoyer für die "gemäßigte Mehrheitswahl", optimale Lösung für Deutschland, Vorbild für Österreich und andere Demokratien, in: ZParl, 38 (2007) 3, S. 578-590.

  16. Vgl. für eine Übersicht Joachim Behnke, Das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland. Logik, Technik und Praxis der Verhältniswahl, Baden-Baden 2007, Kap. 19.

Dr. rer. pol. M.A., geb. 1962; Professor am Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Zeppelin-University, Am Seemooser Horn 20, 88045 Friedrichshafen. E-Mail Link: joachim.behnke@zeppelin-university.de