Einleitung
Die Order, welche die Brücke der "Polarstern" im August 2010 erreichte, war eindeutig: Auf keinen Fall solle das deutsche Forschungsschiff in kanadische Hoheitsgewässer fahren, teilte das zuständige Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) mit. Statt auf den Lancaster Sound solle die "Polarstern" nun Kurs auf Grönland nehmen. Eigentlich hatten die Wissenschaftler an Bord herausfinden wollen, wie sich Nordamerika und Grönland vor rund 60 Millionen Jahren getrennt haben. Dazu wollten sie unter anderem Schallwellen ins Wasser senden und so Informationen zur Beschaffenheit des Untergrunds sammeln. Doch daraus wurde nichts. Ein innerkanadischer Rechtsstreit hatte die geplanten Arbeiten kurzfristig unmöglich gemacht. Geklagt hatte die Qikiqtani Inuit Association (QIA), eine Organisation, die sich im kanadischen Territorium Nunavut darum kümmert, die Rechte der traditionellen Arktis-Bewohner durchzusetzen. Die Inuit aus der Gegend um den Lancaster Sound hatten sich von der Zentralregierung in Ottawa übergangen gefühlt. Sie fürchteten, die Forschungen könnten die Tiere in ihren traditionellen Jagdgebieten stören - und damit einen Teil der Nahrungsgrundlage gefährden. Konkret ging es um Narwale, Belugas und Grönlandwale, aber auch Walrosse und Eisbären.
Der Streit um die "Polarstern"-Expedition zeigt exemplarisch, dass die Interessen der traditionellen Bewohner in der Arktis oft noch immer zu wenig beachtet werden. Spätestens seit eine Tauchbootexpedition 2007 eine russische Fahne am Nordpol absetzte, ist die Arktis in den Blickpunkt weltweiten Interesses gerückt. Die Anrainerstaaten bereiten große Gebietsforderungen bei den Vereinten Nationen (UN) vor, dabei geht es um Meeresboden, der bisher zum gemeinsamen Erbe der Menschheit gehörte.
Allerdings ist die Situation durchaus komplex. Das beginnt bereits mit dem Umstand, dass es den traditionellen Arktis-Bewohner gar nicht gibt. Insgesamt leben etwa vier Millionen Menschen in der Region. Etwa zehn Prozent werden zur indigenen Bevölkerung gezählt.
USA (Alaska): Inupiat, Yupik, Aleuten;
Grönland: Inuit;
Kanada: Inuit, Inupiat;
Skandinavien: Samen;
Russland: Samen, Yupik, Tschuktschen, Ewenken, Nentzen.
Die allermeisten indigenen Bewohner der Arktis sind in der einen oder anderen Form vom Klimawandel betroffen. Doch die verschiedenen Volksgruppen haben durchaus unterschiedliche Interessen, zum Beispiel was die Frage der Rohstoffausbeutung angeht. Während einige zusätzliche Schäden an der fragilen arktischen Umwelt fürchten, sehen andere eine Chance auf wirtschaftliche Unabhängigkeit und bessere soziale Bedingungen in ihren Siedlungen.
Probleme und Repräsentation
Als Bürger ihrer jeweiligen Staaten sind die traditionellen Bewohner der Arktis in den Parlamenten ihrer Heimatstaaten repräsentiert. Einige Arktis-Staaten betonen in ihren Strategiepapieren für den hohen Norden die wichtige Rolle der traditionellen Arktis-Bewohner. "Wir sind uns (...) unserer besonderen Verantwortung für die Rechte der Urvölker bewusst", heißt es etwa in der norwegischen Arktis-Strategie von 2007. Das Dokument verweist darauf, dass im Rahmen einer "ganzheitlichen Ressourcenverwaltung" die "natürlichen Erwerbsmöglichkeiten der Urvölker nicht beeinträchtigt werden" dürften. Und in der kanadischen Strategie von 2009 findet sich unter anderem folgende Formulierung: "Kanadas Norden, das sind vor allem die Menschen - die Inuit und andere indigene Bevölkerungen und die Nordländer, die den Norden zu ihrem Zuhause gemacht haben." Die Inuit seien lange vor der Ankunft der Europäer in der Arktis zu Hause gewesen und hätten dort eine einzigartige Kultur entwickelt. Im russischen Strategiepapier von 2008 finden indigene Bewohner der Arktis hingegen kaum Erwähnung, lediglich in der allgemein formulierten Zielvorgabe, deren Lebensqualität und Ausbildung verbessern zu wollen.
Immer wieder beklagen Bewohner der Arktis, dass sich die Politiker in den weit im Süden liegenden Hauptstädten nicht genügend mit ihren Problemen befassen. Viele Gemeinden mit indigener Bevölkerung haben mit massiven sozialen Problemen zu kämpfen, verursacht etwa durch schlechte Ausbildung, unzureichende Sozialsysteme und einen schlechten durchschnittlichen Gesundheitszustand. Zum Beispiel liegt die Tuberkuloserate der kanadischen Inuit beim 90-Fachen des Landesdurchschnitts.
Angesichts all dieser Herausforderungen ist es wichtig, dass die indigenen Bevölkerungsgruppen ihren Interessen Gehör verschaffen können. Neben der nationalen können sie das auch auf der internationalen Ebene tun - und zwar im 1996 gegründeten Arktischen Rat. Dieses zwischenstaatliche Forum verfügt allerdings weder über ein ständiges Sekretariat noch über Exekutivorgane. Bisher hat der Rat nur Empfehlungen ausgesprochen und keine bindenden Beschlüsse getroffen. Explizit ausgeschlossen sind alle Fragen militärischer Sicherheit.
Doch auch wenn die Einbeziehung der traditionellen Bewohner in die Arbeit des wichtigsten zwischenstaatlichen Forums der Arktis im Grundsatz zu loben ist, könnte sich deren Interessenvertretung zukünftig schwieriger gestalten. Denn neben dem Arktischen Rat hat sich in den vergangenen Jahren ein weiteres Forum entwickelt, in dem sich die USA, Kanada, Dänemark/Grönland, Norwegen und Russland treffen - ohne indigene Vertreter. Bei den Gesprächen der arktischen Küstenstaaten ist der Rahmen weniger formalisiert, thematische Einschränkungen gibt es nicht. Die sogenannten Arctic Five (A-5) haben sich mittlerweile zwei Mal getroffen. Im Mai 2008 verabschiedeten sie im grönländischen Ilulissat eine - rechtlich nicht bindende - Erklärung, in der sie sich verpflichten, mögliche Gebietsstreitigkeiten mit den existierenden völkerrechtlichen Instrumenten friedlich zu lösen.
Bereits als Reaktion auf das erste Treffen der A-5 verabschiedeten indigene Gruppen im April 2009 eine "Zirkumpolare Inuit-Deklaration zur Souveränität in der Arktis". Einerseits kann man dieses Papier angesichts des massiv gestiegenen internationalen Interesses an der Arktis durchaus als Kampfansage verstehen. Die Inuit, so die Botschaft, wollen sich nicht mit einer Rolle am Katzentisch zufrieden geben. Andererseits und vor allem ist das - nicht rechtsverbindliche - Dokument aber ein Kooperationsangebot an die Staaten im hohen Norden.
"Die Arktis ist unser Zuhause", heißt es in der Deklaration, die auch darauf verweist, dass die indigenen Völker des Gebiets frei über ihren politischen Status entscheiden können. Man werde sich weiter um "Kompromisssuche und Harmonie" sowohl zwischen den Staaten der Arktis als auch im Verhältnis zu den jeweiligen Regierungen bemühen. Die Regierungen der A-5 werden explizit dafür kritisiert, dass sie die Inuit nicht in ihre Gespräche eingebunden haben. Das Fazit fällt klar aus: "Die Inuit und die arktischen Staaten müssen (...) eng und konstruktiv zusammenarbeiten, um die Zukunft der Arktis zu zeichnen."
Doch bisher haben die Arctic Five die indigenen Vertreter zu ihren Treffen eben nicht eingeladen. Abzuwarten bleibt, ob sich durch das neue Gesprächsformat eine Schwächung des Arktischen Rates ergibt. Wäre dies der Fall, dann wäre die internationale Interessenvertretung der traditionellen Arktis-Bewohner stark eingeschränkt.
Anpassungsfähigkeit auf harter Probe
Die indigenen Bewohner haben über lange Zeit ihre Anpassungsfähigkeit an verschiedenste Lebensumstände bewiesen. Gleichzeitig sind aber auch traditionelles Wissen, Sozialstrukturen, Ernährungsgewohnheiten, Sprachen - kurzum beinah die gesamte Lebensweise - durch externe Einflüsse wie den "westlichen" Lebensstil bedroht und geschädigt worden. Die arktischen Gemeinschaften sind außerdem in besonderer Weise von der Integrität und dem Funktionieren ihrer Umwelt abhängig - zum Beispiel, um erfolgreich Meeressäuger jagen zu können. Früher wussten erfahrene Jäger, welche Wege auf dem Eis sie einschlagen mussten. Sie konnten förmlich spüren, wie sich das Wetter verändern würde und wie die Schollen unter ihren Füßen beschaffen waren. Dieses traditionelle Wissen wird durch den Klimawandel gefährdet und teilweise zerstört.
Die Temperaturen in der Arktis steigen überproportional, das Wetter wird unberechenbarer. Die Konzentration der drei wichtigsten Treibhausgase Kohlendioxid (CO2), Methan (CH4) und Lachgas (N2O) in der Atmosphäre steigt immer weiter an und liegt so hoch wie nie seit Beginn der Industrialisierung im Jahr 1750. Deswegen klettern auch die weltweiten Durchschnittstemperaturen; das Jahr 2010 zählt nach Auswertung vorläufiger Daten global zumindest zu den drei wärmsten Jahren seit Beginn der Aufzeichnungen 1850.
Die Eisbedeckung des Arktischen Ozeans schwindet, das Wasser erwärmt sich. Die sommerliche Eisausdehnung im hohen Norden ist schon seit Jahren weit unter den langjährigen Mittelwerten. Nach dem Minusrekord im Jahr 2007 (4,13 Millionen Quadratkilometer) lagen die Werte der Folgejahre kaum darüber. Im Jahr 2010 betrug die minimale Eisausdehnung etwa 4,6 Millionen Quadratkilometer.
Unter Forschern ist umstritten, ob es für das arktische Meereis einen sogenannten Kipppunkt gibt. Sollte dies zutreffen, dann wäre der Eispanzer beim Unterschreiten einer bestimmten Ausdehnung nicht mehr zu retten und würde komplett abschmelzen.
Permafrostböden tauen auf, stellenweise entstehen Probleme durch verstärkte Küstenerosion. Durch die steigenden Temperaturen in der Arktis tauen zum Teil auch bisher dauerhaft gefrorene Böden an Land und in flachen Schelfmeeren. Darin sind große Mengen gefrorener Pflanzenreste enthalten. Bei deren Zersetzung durch Mikroben entsteht das Treibhausgas Methan, das nun freigesetzt wird. Für die sibirischen Schelfmeere sind solche Prozesse belegt.
Aus Teilen der Arktis gibt es auch Berichte über verstärkte Küstenerosion, die mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht wird.
Grönländer hoffen auf Vorteile
Bei allen negativen Folgen erlaubt die Erderwärmung freilich auch eine einfachere Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in der Arktis. Genannt werden hier häufig Erdöl und Erdgas. Nach einer Schätzung des Geologischen Dienstes der USA (USGS) befinden sich 22 Prozent der unentdeckten, aber technisch erreichbaren Öl- und Gasvorkommen der Welt nördlich des Polarkreises.
Der Weg dahin dürfte freilich alles andere als einfach sein. Der schottische Ölkonzern Cairn Energy hatte im Sommer 2010 Probebohrungen in der Baffin Bay vor Westgrönland gestartet. Im Oktober 2010 erklärte Cairn dann, man habe in den bisherigen Bohrungen nicht genug Öl und Gas für eine kommerzielle Förderung finden können. Nun überlege man, ob man die millionenschwere Test-Kampagne fortsetzen wolle.
Im Gegensatz zu den Inuit Grönlands haben deren kanadische Nachbarn nur wenig Interesse an der Ausbeutung möglicher Rohstoffvorkommen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Territorium Nunavut nach den aktuellen kanadischen Gesetzen von den Einnahmen kaum etwas behalten dürfte. Wer um diesen Umstand weiß, für den wird auch der eingangs geschilderte Zwischenfall mit dem Forschungsschiff "Polarstern" etwas besser verständlich. Einige Inuit-Vertreter hatten nämlich kritisiert, die Messarbeiten seien nichts weiter als eine Vorarbeit für die Förderung von Öl und Gas. Das AWI hat das durchaus glaubhaft dementiert. In jedem Fall hätten die Inuit von Nunavut aber wenig Interesse an der Ausbeutung möglicher Ölvorkommen - weil sie angesichts mangelnder Einnahmen nicht bereit sind, mögliche Beeinträchtigungen ihrer Umwelt und ihrer Nahrungsgrundlagen in Kauf zu nehmen.
Indigene Interessen besser achten
Es ist wenig sinnvoll, die traditionellen Arktis-Bewohner als "Gewinner" oder "Verlierer" der Veränderungen in der Arktis zu porträtieren. Für viele Menschen ändern sich die Lebensumstände rapide. Neben großen Risiken, zum Beispiel für traditionelle Jäger, gibt es durchaus auch Chancen, zum Beispiel durch das verstärkte Interesse an Rohstoffen aus der Arktis. Diese Entwicklung könnte auch zu sozialen Verbesserungen führen, vorausgesetzt, die Einnahmen aus der Gewinnung von Bodenschätzen werden zielgerichtet für die Stärkung und Entwicklung der traditionellen Gemeinschaften eingesetzt. Wichtig sind vor allem Ausbildung und Gesundheitsförderung, damit der "Fluch der Rohstoffe" (resource curse)
Für die weitere politische Entwicklung ist es außerdem wichtig, dass die Indigenen noch besser als bisher in die politischen Prozesse eingebunden werden. Die arktischen Küstenstaaten sollten dazu eine weitere Schwächung des Arktischen Rates verhindern. Außerdem sollten sie Vertreter der indigenen Gruppen bei den Treffen der A-5 mit einbinden. Die "Zirkumpolare Inuit-Deklaration zur Souveränität in der Arktis" ist ein Zeichen dafür, dass die indigene Bevölkerung ihre Interessen in Zukunft offensiver als bisher vertreten wird. Dafür wird sie auch immer wieder den Rechtsweg beschreiten. Im Jahr 2005 klagten Vertreter der traditionellen Arktis-Bewohner zum Beispiel vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte. Der Vorwurf: Mit ihrer Weigerung, die Produktion von Treibhausgasen zu senken, zerstörten die USA den arktischen Lebensraum. Der Antrag wurde abgewiesen, allerdings wurden Inuit-Vertreter immerhin zu einer öffentlichen Debatte eingeladen.
Juristischen Streit gibt es auch um das 2009 von der Europäischen Union verabschiedete Einfuhrverbot für Robbenprodukte. Obwohl die EU-Regeln Ausnahmen für indigene Jäger vorsehen, kritisieren traditionelle Arktis-Bewohner die entsprechende Verordnung scharf. Diese habe, so argumentieren sie, den Markt für Robbenprodukte schwer getroffen, deswegen seien auch die Sonderregelungen nicht ausreichend. Der Europäische Gerichtshof entschied Ende 2010, dass das Einfuhrverbot weiter in Kraft bleiben kann. Doch das juristische Tauziehen darum wird anhalten.
Der Rechtsstreit um die Forschungsarbeiten der "Polarstern" im Sommer 2010 zeigt exemplarisch, dass es den indigenen Gruppen der Arktis vor allem um die Beibehaltung ihrer traditionellen Lebensweise geht: Einen Tag nach der Gerichtsentscheidung erlegten die Jäger der Ortschaft Pond Inlet einen Grönlandwal im Lancaster Sound. Anschließend erklärten sie, dass sie so noch einmal die Wichtigkeit der Tiere für die Ernährung der Gemeinschaft hätten beweisen wollen.