Einleitung
Die Veröffentlichung von US-Geheimdokumenten über den Irak-Krieg im Jahr 2003 durch die auf Enthüllungen spezialisierte Internetplattform "Wikileaks" hat die völkerrechtswidrige Militärintervention wieder schlagartig ins öffentliche Bewusstsein in Deutschland wie auch weltweit gerufen. Zuvor war es politisch und medial relativ ruhig geworden um den "Dritten Golfkrieg" und die blutigen Ereignisse im Zweistromland nach dem gewaltsamen Sturz des Regimes von Saddam Hussein. Dies ist insofern verwunderlich, als dieser von den USA angeführte Krieg die Weltöffentlichkeit, insbesondere die öffentlichen Meinungen in Europa und in fast allen islamischen Ländern, stärker polarisiert hat als jeder andere internationale Konflikt seit dem Vietnam-Krieg. Außerdem stürzte die Kontroverse über die Legitimität und Legalität des Irak-Kriegs im Frühjahr 2003 die transatlantischen Beziehungen in eine tiefe Krise, von der sie sich bis heute zu erholen versuchen.
Die von "Wikileaks" veröffentlichten Depeschen zwischen US-Botschaften und dem Außenministerium in Washington legen auch offen, wie sich aus der Warte der USA die Machtverhältnisse im Mittleren Osten nach dem Irak-Krieg 2003 veränderten. Sie zeichnen ein Bild, "nach dem die arabischen Herrscher nichts mehr fürchten als Teherans regional und international umstrittenes Atomprogramm - und zumindest manche von ihnen ein militärisches Vorgehen befürworten".
Im Folgenden soll primär der Frage nachgegangen werden, in welcher Weise die angloamerikanische Invasion des Irak und der Sturz seines Langzeit-Diktators die labile Macht- und Sicherheitsarchitektur in dieser geopolitisch wichtigen, weil rohstoffreichen Region veränderten. Das Augenmerk liegt hierbei auf der Analyse der Konfliktlinien, dem Wandel der regionalen Ordnung und den geopolitischen Implikationen dieses Krieges für die gesamte Region. Geopolitik bezieht sich in diesem Subsystem der Weltpolitik in erster Linie darauf, wie Regierungen die "Verteilung von Macht jenseits ihrer Grenzen rezipieren, um die Voraussetzungen für eine an den jeweiligen nationalen Interessen ausgerichtete Außenpolitik zu schaffen".
"Vorkrieg" zum Irak-Krieg
Kaum ein arabischer Herrscher hat in den vergangenen 25 Jahren die sicherheitspolitische Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten mehr beeinflusst als der ehemalige irakische Staatspräsident Saddam Hussein und seine "hoch personalisierte Diktatur".
Trotz dieser in ihrer Brutalität im Nahen und Mittleren Osten weitgehend beispiellosen Einpersonendiktatur zeigt ein kurzer Blick auf die machtpolitische Entwicklung in der Golfregion seit dem Rückzug der Briten zu Beginn der 1970er Jahre,
Innerarabisch verschaffte die Isolation Ägyptens als Folge des Camp-David-Abkommens im Jahr 1979 und des aus ihm resultierenden Separatfriedens mit Israel dem irakischen Regime ausreichenden politischen Raum, um die Rolle der arabischen Führungsmacht für sich zu reklamieren. Die regionale Vormachtstellung des Iraks wurde dadurch vergrößert, dass das inzwischen zur arabischen Wirtschaftsmacht aufgestiegene Saudi-Arabien auch nach dem Ende der ägyptischen Dominanz in der arabischen Welt darauf verzichtet hat, seine ökonomische Macht in politische Macht umzusetzen. Die saudi-arabische Machtelite hielt sich mit ostentativen gesamtarabischen Führungsansprüchen weitgehend zurück. Zu erklären war dieses Verhalten mit dem offensichtlichen Widerspruch in der saudischen (Innen-)Politik und den daraus resultierenden Glaubwürdigkeits- und Legitimationsdefiziten: Es verfolgte einerseits die materielle und ideelle Förderung einer dezidiert antiwestlichen Ideologie in Form des transnationalen Islamismus und andererseits eine prowestlich orientierte Außen- und Sicherheitspolitik.
Die Kombination der aus dem Ölexport erzielten Staatseinnahmen (Rentenökonomie) mit dem panarabisch-nationalistisch begründeten Modernisierungsprojekt der Baath-Ideologie hatte zu beachtlichen wirtschaftlichen Erfolgen geführt, so dass der Irak am Ende der 1970er Jahre zu einem industriellen Schwellenland und somit zu einer Art "arabisches Erfolgsmodell" avancierte. Dabei profilierte sich der Baath-Irak mit Hilfe seiner radikal-aggressiven, antiisraelischen Rhetorik als Hort des Antiimperialismus und als angeblicher Beschützer der "arabischen Nation" vor externen Feinden.
Irak-Krieg als "Akt imperialer Selbstbestätigung" der USA
Anfang des Jahres 1991 gelang es der US-geführten internationalen Koalition mit einem Mandat der Vereinten Nationen, die irakische Armee - sie galt immerhin als die sechstgrößte der Welt - bei minimalen eigenen Verlusten zu besiegen. Der Militärschlag gegen den Irak zielte lediglich auf die Befreiung Kuwaits und auf die Vernichtung von Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen. Ein Sturz des Diktators stand damals noch nicht auf der Tagesordnung der Vereinigten Staaten von Amerika.
Anders dagegen bei der Invasion im Jahr 2003, die explizit einen Regimewechsel zum Ziel hatte. Herfried Münkler nennt drei Hauptmotive der Vereinigten Staaten für den Sturz Saddam Husseins: "Die Angst vor einer gefährlichen Überdehnung der Kräfte infolge eines dauerhaften militärischen Engagements in der Golfregion; die nicht mehr akzeptable strategische Zwickmühle des asymmetrischen Friedens, aus deren Beendigung für Saddam Hussein kein Machtzuwachs und für die Amerikaner kein Gesichtsverlust resultieren darf; schließlich die Sorge um die politische und wirtschaftliche Stabilität der gesamten Golfregion, die eine mit möglichst geringem Kostenaufwand betriebene Installierung eines Prosperitätsregimes im Irak erforderlich macht."
Ein weiterer Grund für die Invasion im Irak, der offiziell, aber vor allem inoffiziell zu vernehmen war, war das Ziel der Bush-Regierung, die Erdöllieferungen für den Weltmarkt und damit die Energiesicherheit insbesondere der westlichen Industriestaaten zu sichern. Aus dieser Warte war der Irak für die USA in zweifacher Hinsicht von zentraler Bedeutung: Das Zweistromland wird als eine bedeutende Quelle für die globale Energiesicherheit in den kommenden 25 Jahren gehandelt, wobei es bei dieser Frage nicht nur um irakisches Öl, sondern auch um den langfristig gesicherten Zugang zu den Ölreserven der gesamten Region geht. Robert James Woolsey, ehemaliger Direktor des Auslandsnachrichtendienstes der USA CIA, brachte dieses strategische Ziel unmittelbar vor dem Beginn des Krieges gegen den Irak mit folgenden Worten auf den Punkt: Es gehe "nicht nur um Amerikas Abhängigkeit vom Öl, sondern um die der ganzen Welt. (...) Wir müssen dem Nahen Osten die Ölwaffe wegnehmen. () Wir fangen jetzt mit dem Irak an".
Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass diese Argumente und Sichtweisen keine befriedigende Erklärung für die Kriegsentscheidung der Bush-Regierung liefern. So ist Stephan Bierling der Ansicht, dass weder der permanente Zugriff auf das irakische Öl noch der Schutz Israels (ein weiteres Ziel traditioneller US-Politik im Nahen Osten) noch neokonservative Neuordnungspläne der ausschlaggebende Grund für die Kriegsentscheidung waren. Er analysiert den Irak-Krieg vor dem Hintergrund des Schocks, den die US-amerikanische Gesellschaft durch die Anschläge am 11. September 2001 erlitt, und legt überzeugend dar, wie der enge Machtkreis um Präsident Bush nach diesen Anschlägen in einen Kreislauf von "Alarmismus, Selbsttäuschung und Allmachtsphantasien" abglitt.
Mit anderen Worten: Die "wahren" Motive für diesen Interventionskrieg können nur durch die Verbindung zwischen einer in Sicherheitsbelangen sensibilisierten und daher auch gegenüber Manipulationen empfindlichen US-amerikanischen Öffentlichkeit auf der einen und der politisch-geostrategischen Ausrichtung relevanter Teile der US-Administration mit dem Ziel einer grundlegenden Veränderung der Machtkonstellation zur Herstellung regionaler Stabilität unter US-strategischer Hegemonie am Persischen Golf auf der anderen Seite hinreichend erklärt werden.
Geostrategische Revolution
Mehr als sieben Jahre nach der Invasion des Irak kann zwar von einem demokratischen Domino-Effekt im Nahen und Mittleren Ostens keine Rede sein. Denn offensichtlich sind die neokonservativen Pläne zur gewaltsamen Neuordnung gescheitert, da fast alle arabischen Regimes in den darauffolgenden Jahren ihre autoritäre Herrschaft eher konsolidieren konnten. Arabische Demokratie- und Menschenrechtsaktivisten beklagten zudem eine schwerwiegende Diskreditierung der demokratischen Ideen durch die unglaubwürdige Kriegsbegründung und deren immensen politischen und legitimatorischen Kosten.
Aus geopolitischer Sicht stellen der Irak-Krieg 2003 und seine mittelfristigen Auswirkungen auf die labilen Machtstrukturen im Nahen und Mittleren Osten allerdings eine geopolitische Revolution dar. Denn zum ersten Mal seit dem Ende der Kolonial- und Mandatszeit wurde "ein arabischer Staat durch eine externe Macht erobert und besetzt, wobei die umliegenden Staaten hierbei keine nennenswerte Rolle spielten".
Saudi-Arabien:
Angesichts dieser Machtverschiebungen schien es, als habe vor allem das seit dem 11. September 2001 ohnehin innenpolitisch instabile Saudi-Arabien
Im Gegensatz dazu hat
Ägypten
, die ehemalige "natürliche Führungsmacht" der arabischen Welt, durch die Invasion der USA im Irak massiv an regionalem Prestige und Einfluss verloren. Heute spielt Kairo im Rahmen eines möglichen Aufbaus eines Sicherheitssystems am Persischen Golf oder einer Gesamtlösung für die nahöstliche Krisenregion keine nennenswerte Rolle. Auf das ressourcenarme, führungsschwache Land am Nil, dessen wirtschaftliche und politische Entwicklung seit drei Jahrzehnten stagniert, hört heute in der arabischen Welt fast niemand mehr. Vielmehr bemühen sich saudi-arabische Gesandte und Diplomaten um Ordnung und Krisenmanagement im Nahen und Mittleren Osten.
Hegemoniale Konfrontation am Golf
"Im Nahen und Mittleren Osten geht ein Schreckgespenst um, das Schreckgespenst des Pan-Schiismus." So in etwa ließen sich die artikulierten Befürchtungen der überwiegend sunnitisch geprägten arabischen Staaten angesichts der Veränderungen in den regionalen Machtgleichungen paraphrasieren. Die als solche empfundene Allgegenwärtigkeit eines plötzlich auch politisch mobilisierten beziehungsweise mobilisierbaren
Der Angst vor einer iranischen Vorherrschaft in der Region verlieh der jordanische König Abdullah Ausdruck, als er vor der Entstehung eines "schiitischen Halbmonds"
Politische Rolle der Schiiten im Irak
Die Zweifel an der Loyalität der Schiiten im eigenen Land sind nicht neu. Sie erhalten jedoch ihre enorme Brisanz zunächst durch die veränderten Machtverhältnisse innerhalb des Iraks: Die Schiiten, die mit etwa 65 Prozent die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, erhielten nach dem Sturz des Saddam-Regimes erstmals auch ein politisches Gewicht, das den Mehrheitsverhältnissen Rechnung trägt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Iran tatsächlich mittels seines Einflusses auf schiitische Parteien schon heute ein Bestandteil der politischen Eliten im Nachkriegsirak ist. Und obschon Großajatollah Ali al Sistani, einer der größten schiitischen geistlichen Autoritäten im Irak, auf der Unabhängigkeit der irakischen Schiiten beharrt, ist der Einfluss Irans im Nachkriegsirak, insbesondere im Südirak, allgegenwärtig. Dies ist strategisch insofern außerordentlich wichtig, als es die amerikanischen Droh- und Handlungsoptionen gegen den Iran zur Eindämmung seiner atomaren Ambitionen in der militärisch-operativen Anwendungspraxis stark limitieren dürfte.
Ausblick: Konfrontation zwischen Saudi-Arabien und dem Iran
Die hegemoniale Konfrontation in der Golfregion zwischen Iran und Saudi-Arabien als Folge des Irak-Kriegs 2003 markiert den Anfang eines "Kalten Kriegs" im Nahen und Mittleren Osten. Im Mittelpunkt steht die Tatsache, dass Saudi-Arabien ein Vakuum füllen müsste, das der amerikanische Einflussverlust infolge des Debakels im Irak hinterlassen hat. Doch Riad steht dem Aufstieg des Iran zu einer führenden Regionalmacht weitgehend hilflos gegenüber.