Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Wandel der regionalen Ordnung und Aufstieg neuer Mächte in der Golfregion | Irak | bpb.de

Irak Editorial Der Irak als demokratischer "Musterstaat" in Nahost? Eine Zwischenbilanz Zwischen individueller Verarbeitung und gesamtgesellschaftlicher Versöhnung: Vergangenheitsbewältigung im Irak Von Frühling und Herbst der Pressefreiheit im neuen Irak - Essay Droht eine Zerstörung der ethnischen und religiösen Vielfalt im Irak? Kurdistan zwischen Autonomie und Selbstverantwortung Hat die arabische Welt den Irak vergessen? - Essay Wandel der regionalen Ordnung und Aufstieg neuer Mächte in der Golfregion

Wandel der regionalen Ordnung und Aufstieg neuer Mächte in der Golfregion

Loay Mudhoon

/ 15 Minuten zu lesen

Am Persischen Golf kristallisiert sich eine Konfrontation zwischen Iran und Saudi-Arabien heraus. Saudi-Arabien versucht, ein Vakuum zu füllen, welches der US-amerikanische Einflussverlust infolge des Debakels im Irak hinterlassen hat.

Einleitung

Die Veröffentlichung von US-Geheimdokumenten über den Irak-Krieg im Jahr 2003 durch die auf Enthüllungen spezialisierte Internetplattform "Wikileaks" hat die völkerrechtswidrige Militärintervention wieder schlagartig ins öffentliche Bewusstsein in Deutschland wie auch weltweit gerufen. Zuvor war es politisch und medial relativ ruhig geworden um den "Dritten Golfkrieg" und die blutigen Ereignisse im Zweistromland nach dem gewaltsamen Sturz des Regimes von Saddam Hussein. Dies ist insofern verwunderlich, als dieser von den USA angeführte Krieg die Weltöffentlichkeit, insbesondere die öffentlichen Meinungen in Europa und in fast allen islamischen Ländern, stärker polarisiert hat als jeder andere internationale Konflikt seit dem Vietnam-Krieg. Außerdem stürzte die Kontroverse über die Legitimität und Legalität des Irak-Kriegs im Frühjahr 2003 die transatlantischen Beziehungen in eine tiefe Krise, von der sie sich bis heute zu erholen versuchen.

Die von "Wikileaks" veröffentlichten Depeschen zwischen US-Botschaften und dem Außenministerium in Washington legen auch offen, wie sich aus der Warte der USA die Machtverhältnisse im Mittleren Osten nach dem Irak-Krieg 2003 veränderten. Sie zeichnen ein Bild, "nach dem die arabischen Herrscher nichts mehr fürchten als Teherans regional und international umstrittenes Atomprogramm - und zumindest manche von ihnen ein militärisches Vorgehen befürworten". Denn die nuklearen Fortschritte Irans sind für die Sicherheit der überwiegend sunnitischen arabischen Länder umso bedrohlicher, als es den Irak als Pufferstaat und als regionales Gegengewicht zum Iran nicht mehr gibt. Viele arabische Beobachter rechnen im Falle einer Eskalation im Atomstreit damit, dass der Iran seine Waffen auch gegen die arabischen Nachbarstaaten einsetzen würde, um seine dominierende Rolle zu betonen.

Im Folgenden soll primär der Frage nachgegangen werden, in welcher Weise die angloamerikanische Invasion des Irak und der Sturz seines Langzeit-Diktators die labile Macht- und Sicherheitsarchitektur in dieser geopolitisch wichtigen, weil rohstoffreichen Region veränderten. Das Augenmerk liegt hierbei auf der Analyse der Konfliktlinien, dem Wandel der regionalen Ordnung und den geopolitischen Implikationen dieses Krieges für die gesamte Region. Geopolitik bezieht sich in diesem Subsystem der Weltpolitik in erster Linie darauf, wie Regierungen die "Verteilung von Macht jenseits ihrer Grenzen rezipieren, um die Voraussetzungen für eine an den jeweiligen nationalen Interessen ausgerichtete Außenpolitik zu schaffen". Als Einstieg in das Thema bietet sich ein Rückblick auf die strategischen Rahmenbedingungen im Vorfeld des Irak-Krieges an.

"Vorkrieg" zum Irak-Krieg

Kaum ein arabischer Herrscher hat in den vergangenen 25 Jahren die sicherheitspolitische Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten mehr beeinflusst als der ehemalige irakische Staatspräsident Saddam Hussein und seine "hoch personalisierte Diktatur". Sei es der Krieg gegen den Nachbarn Iran in den Jahren von 1980 bis 1988 (während dessen das irakische Staatsoberhaupt noch auf die Sympathien und Unterstützung der westlichen Staatengemeinschaft zählen konnte), sei es sein wiederholt brutales Vorgehen gegen Teile der eigenen Bevölkerung und die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen oder sei es die gewaltsame Annexion Kuwaits im Jahr 1990 - Saddam Hussein mutierte zusehends zum internationalen outlaw, der sich weder an völkerrechtliche noch an grundlegende menschenrechtliche Minimalstandards und Verpflichtungen hielt.

Trotz dieser in ihrer Brutalität im Nahen und Mittleren Osten weitgehend beispiellosen Einpersonendiktatur zeigt ein kurzer Blick auf die machtpolitische Entwicklung in der Golfregion seit dem Rückzug der Briten zu Beginn der 1970er Jahre, dass die vom Irak ausgehenden Kriege nicht allein mit der Aggressivität der panarabischen Ideologie der Baath-Partei, die Regierungspartei Saddam Husseins, zu erklären sind. Das Verhalten des Baath-Regimes wurde auch durch äußere Faktoren mitbeeinflusst wie etwa das nach dem Sturz des iranischen Schah-Regimes im Jahr 1979 entstandene Machtvakuum im fragilen Sicherheitssystem der Golfregion, aus dem sich für Bagdad vermehrt Handlungsmöglichkeiten ergaben.

Innerarabisch verschaffte die Isolation Ägyptens als Folge des Camp-David-Abkommens im Jahr 1979 und des aus ihm resultierenden Separatfriedens mit Israel dem irakischen Regime ausreichenden politischen Raum, um die Rolle der arabischen Führungsmacht für sich zu reklamieren. Die regionale Vormachtstellung des Iraks wurde dadurch vergrößert, dass das inzwischen zur arabischen Wirtschaftsmacht aufgestiegene Saudi-Arabien auch nach dem Ende der ägyptischen Dominanz in der arabischen Welt darauf verzichtet hat, seine ökonomische Macht in politische Macht umzusetzen. Die saudi-arabische Machtelite hielt sich mit ostentativen gesamtarabischen Führungsansprüchen weitgehend zurück. Zu erklären war dieses Verhalten mit dem offensichtlichen Widerspruch in der saudischen (Innen-)Politik und den daraus resultierenden Glaubwürdigkeits- und Legitimationsdefiziten: Es verfolgte einerseits die materielle und ideelle Förderung einer dezidiert antiwestlichen Ideologie in Form des transnationalen Islamismus und andererseits eine prowestlich orientierte Außen- und Sicherheitspolitik.

Die Kombination der aus dem Ölexport erzielten Staatseinnahmen (Rentenökonomie) mit dem panarabisch-nationalistisch begründeten Modernisierungsprojekt der Baath-Ideologie hatte zu beachtlichen wirtschaftlichen Erfolgen geführt, so dass der Irak am Ende der 1970er Jahre zu einem industriellen Schwellenland und somit zu einer Art "arabisches Erfolgsmodell" avancierte. Dabei profilierte sich der Baath-Irak mit Hilfe seiner radikal-aggressiven, antiisraelischen Rhetorik als Hort des Antiimperialismus und als angeblicher Beschützer der "arabischen Nation" vor externen Feinden.

Irak-Krieg als "Akt imperialer Selbstbestätigung" der USA

Anfang des Jahres 1991 gelang es der US-geführten internationalen Koalition mit einem Mandat der Vereinten Nationen, die irakische Armee - sie galt immerhin als die sechstgrößte der Welt - bei minimalen eigenen Verlusten zu besiegen. Der Militärschlag gegen den Irak zielte lediglich auf die Befreiung Kuwaits und auf die Vernichtung von Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen. Ein Sturz des Diktators stand damals noch nicht auf der Tagesordnung der Vereinigten Staaten von Amerika.

Anders dagegen bei der Invasion im Jahr 2003, die explizit einen Regimewechsel zum Ziel hatte. Herfried Münkler nennt drei Hauptmotive der Vereinigten Staaten für den Sturz Saddam Husseins: "Die Angst vor einer gefährlichen Überdehnung der Kräfte infolge eines dauerhaften militärischen Engagements in der Golfregion; die nicht mehr akzeptable strategische Zwickmühle des asymmetrischen Friedens, aus deren Beendigung für Saddam Hussein kein Machtzuwachs und für die Amerikaner kein Gesichtsverlust resultieren darf; schließlich die Sorge um die politische und wirtschaftliche Stabilität der gesamten Golfregion, die eine mit möglichst geringem Kostenaufwand betriebene Installierung eines Prosperitätsregimes im Irak erforderlich macht." Teile der US-Regierung wie auch andere Unterstützer des Feldzugs äußerten die Hoffnung, dass durch die Installierung eines neuen, kooperationswilligen Regimes in Bagdad die vielzitierte notorische Entwicklungsblockade im Mittleren Osten, die sicherlich eine der wichtigsten Ursachen für die politische Instabilität der gesamten Region und deren Anfälligkeit für radikale Ideologien ist, aufgelöst werden könnte. Doch Kritiker der US-Transformationspläne bezweifelten deren Machbarkeit: Ihrer Meinung nach reduzierte "diese Sichtweise die Analyse der real existierenden Strukturen auf eine von der weltgesellschaftlichen Realität losgelöste imperiale Funktionsweise" und vernachlässigte somit die regionalen Gegebenheiten des Nahen und Mittleren Ostens.

Ein weiterer Grund für die Invasion im Irak, der offiziell, aber vor allem inoffiziell zu vernehmen war, war das Ziel der Bush-Regierung, die Erdöllieferungen für den Weltmarkt und damit die Energiesicherheit insbesondere der westlichen Industriestaaten zu sichern. Aus dieser Warte war der Irak für die USA in zweifacher Hinsicht von zentraler Bedeutung: Das Zweistromland wird als eine bedeutende Quelle für die globale Energiesicherheit in den kommenden 25 Jahren gehandelt, wobei es bei dieser Frage nicht nur um irakisches Öl, sondern auch um den langfristig gesicherten Zugang zu den Ölreserven der gesamten Region geht. Robert James Woolsey, ehemaliger Direktor des Auslandsnachrichtendienstes der USA CIA, brachte dieses strategische Ziel unmittelbar vor dem Beginn des Krieges gegen den Irak mit folgenden Worten auf den Punkt: Es gehe "nicht nur um Amerikas Abhängigkeit vom Öl, sondern um die der ganzen Welt. (...) Wir müssen dem Nahen Osten die Ölwaffe wegnehmen. () Wir fangen jetzt mit dem Irak an". In diesem Sinne rechtfertigte auch Richard Herzinger den Irak-Krieg als "Instrument der Selbstbehauptung der westlichen Demokratien" und "demokratischen Neokolonialismus".

Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass diese Argumente und Sichtweisen keine befriedigende Erklärung für die Kriegsentscheidung der Bush-Regierung liefern. So ist Stephan Bierling der Ansicht, dass weder der permanente Zugriff auf das irakische Öl noch der Schutz Israels (ein weiteres Ziel traditioneller US-Politik im Nahen Osten) noch neokonservative Neuordnungspläne der ausschlaggebende Grund für die Kriegsentscheidung waren. Er analysiert den Irak-Krieg vor dem Hintergrund des Schocks, den die US-amerikanische Gesellschaft durch die Anschläge am 11. September 2001 erlitt, und legt überzeugend dar, wie der enge Machtkreis um Präsident Bush nach diesen Anschlägen in einen Kreislauf von "Alarmismus, Selbsttäuschung und Allmachtsphantasien" abglitt. Die Terroranschläge markierten einen Paradigmenwechsel in der Perzeption und der Bewertung sicherheitsrelevanter Parameter und wurden von vielen Analysten als Anfang vom Ende des klassischen Krieges - dem Krieg zwischen zwei Staaten - wahrgenommen. Die ein Jahr später folgende Nationale Sicherheitsstrategie der USA lieferte schließlich die erforderliche institutionelle Legitimierung für den Präventivkrieg gegen den Irak. Die Erfahrung, auf eigenem Territorium verwundbar zu sein, führte bei amerikanischen Entscheidungseliten zu einem Bewusstseinsschock, weshalb der Irak-Krieg auch als "Akt imperialer Selbstbestätigung" interpretiert wird: Nach dem Trauma durch die Terroranschläge auf die Symbole amerikanischer Macht wollte die US-Regierung unter George W. Bush ein Exempel statuieren, indem man der gesamten Staatengemeinschaft und speziell der "Achse des Bösen" zeigte, dass die USA uneingeschränkt handlungsfähig seien und sich ihnen kein Staat ungestraft widersetzen könne. Sie waren zudem willens, auf Angriffe mit aller Härte zu reagieren. Der Irak rückte in den Fokus, weil er in dieser "Achse" offensichtlich das schwächste Glied war.

Mit anderen Worten: Die "wahren" Motive für diesen Interventionskrieg können nur durch die Verbindung zwischen einer in Sicherheitsbelangen sensibilisierten und daher auch gegenüber Manipulationen empfindlichen US-amerikanischen Öffentlichkeit auf der einen und der politisch-geostrategischen Ausrichtung relevanter Teile der US-Administration mit dem Ziel einer grundlegenden Veränderung der Machtkonstellation zur Herstellung regionaler Stabilität unter US-strategischer Hegemonie am Persischen Golf auf der anderen Seite hinreichend erklärt werden.

Geostrategische Revolution

Mehr als sieben Jahre nach der Invasion des Irak kann zwar von einem demokratischen Domino-Effekt im Nahen und Mittleren Ostens keine Rede sein. Denn offensichtlich sind die neokonservativen Pläne zur gewaltsamen Neuordnung gescheitert, da fast alle arabischen Regimes in den darauffolgenden Jahren ihre autoritäre Herrschaft eher konsolidieren konnten. Arabische Demokratie- und Menschenrechtsaktivisten beklagten zudem eine schwerwiegende Diskreditierung der demokratischen Ideen durch die unglaubwürdige Kriegsbegründung und deren immensen politischen und legitimatorischen Kosten.

Aus geopolitischer Sicht stellen der Irak-Krieg 2003 und seine mittelfristigen Auswirkungen auf die labilen Machtstrukturen im Nahen und Mittleren Osten allerdings eine geopolitische Revolution dar. Denn zum ersten Mal seit dem Ende der Kolonial- und Mandatszeit wurde "ein arabischer Staat durch eine externe Macht erobert und besetzt, wobei die umliegenden Staaten hierbei keine nennenswerte Rolle spielten". Unmittelbar nach dem Sturz Saddam Husseins kam es durch die unmittelbare Präsenz der US-Streitkräfte im Nachkriegsirak zu einer strukturellen Machtverschiebung. Dies hat dazu geführt, dass "keine der potenziellen regionalen Vormächte - Ägypten, Saudi-Arabien und selbst Israel - (...) in der Lage sein [werde], die Region zu dominieren oder eine Stellvertreterrolle für die USA zu übernehmen". Auf absehbare Zeit würde demzufolge kein Staat mehr die Rolle eines regionalen oder subregionalen Hegemons einnehmen können. Denn alle werden ihre Politik im Lichte der direkten Anwesenheit des neuen "Nachbarn" ausrichten müssen.

Saudi-Arabien:

Angesichts dieser Machtverschiebungen schien es, als habe vor allem das seit dem 11. September 2001 ohnehin innenpolitisch instabile Saudi-Arabien seinen subregionalen Hegemonialstatus endgültig eingebüßt, den es während der 1970er und 1980er Jahre innehatte. Anzeichen dafür waren unter anderem darin zu sehen, dass sich die kleineren Staaten des Golfkooperationsrates wie der Jemen, die bis dato keine signifikante außen- und sicherheitspolitische Eigenständigkeit entwickelt hatten, zunehmend von Saudi-Arabien emanzipierten und eigene Kooperationsformen (beispielsweise mit den USA) vereinbarten. Doch auch Saudi-Arabien hat sich unter König Abdullah ibn Abd al-Aziz Al Saud in den vergangenen fünf Jahren von den USA merklich distanziert und eine aktivere Außen- und Regionalpolitik betrieben, da das Land sich gezwungen sah, die regionalen Gegner des Irans hinter sich zu bringen. Es wurde zur arabischen Führungsmacht wider Willen, denn nach außenpolitischer Verantwortung haben sich die Machteliten im Herzland des Islam nicht gerade bemüht. Zu groß waren die eingangs beschriebenen Legitimitätskonflikte und innenpolitischen Herausforderungen für die saudische Königsfamilie.

Im Gegensatz dazu hat

Ägypten

, die ehemalige "natürliche Führungsmacht" der arabischen Welt, durch die Invasion der USA im Irak massiv an regionalem Prestige und Einfluss verloren. Heute spielt Kairo im Rahmen eines möglichen Aufbaus eines Sicherheitssystems am Persischen Golf oder einer Gesamtlösung für die nahöstliche Krisenregion keine nennenswerte Rolle. Auf das ressourcenarme, führungsschwache Land am Nil, dessen wirtschaftliche und politische Entwicklung seit drei Jahrzehnten stagniert, hört heute in der arabischen Welt fast niemand mehr. Vielmehr bemühen sich saudi-arabische Gesandte und Diplomaten um Ordnung und Krisenmanagement im Nahen und Mittleren Osten.

Hegemoniale Konfrontation am Golf

"Im Nahen und Mittleren Osten geht ein Schreckgespenst um, das Schreckgespenst des Pan-Schiismus." So in etwa ließen sich die artikulierten Befürchtungen der überwiegend sunnitisch geprägten arabischen Staaten angesichts der Veränderungen in den regionalen Machtgleichungen paraphrasieren. Die als solche empfundene Allgegenwärtigkeit eines plötzlich auch politisch mobilisierten beziehungsweise mobilisierbaren schiitischen Islam in der Region - die durchaus auch von einigen westlichen Beobachtern wahrgenommen wird und in ihrer extremsten Form wohl Ausdruck findet in Prognosen wie etwa der, dass das 21. Jahrhundert als "das Jahrhundert der Schia" in die Geschichte eingehen werde - wird zurückgeführt auf die vermeintliche Fernsteuerung der Schiiten der Region durch die Islamische Republik Iran. Die regionale Stellung der weltweit einzigen schiitischen Theokratie wurde durch den Krieg gestärkt, da mit dem Sturz Saddam Husseins einer ihrer wichtigsten Gegner fiel. Die regionalen Auswirkungen des iranischen Einflusses zeigen sich vor allem im Libanon, wo die von Teheran unterstütze Hisbollah den stärksten Machtfaktor darstellt. Auch auf den Nahost-Konflikt versucht Iran, mittels seiner finanziellen Hilfen für die Hamas direkten Einfluss zu nehmen.

Der Angst vor einer iranischen Vorherrschaft in der Region verlieh der jordanische König Abdullah Ausdruck, als er vor der Entstehung eines "schiitischen Halbmonds" warnte, der sich vom Iran über den Irak bis in den Libanon erstrecke. Im September 2005 sagte der saudische Außenminister Prinz Saud al-Faisal, der Iran habe die Früchte der amerikanischen Invasion in Form von Macht und Einfluss geerntet, obwohl er nach wie vor der größte Feind der USA in der Region sei. Und im April 2006 erklärte der ägyptische Präsident Husni Mubarak, dass die "Loyalität der Schiiten in den arabischen Staaten" beim Iran läge, statt bei ihren Heimatstaaten. Diese Aussagen sind exemplarisch für die Sichtweise weiterer Nachbarstaaten. Vor allem prägen sie die Sicherheitsperzeption der heutigen Machteliten in Saudi-Arabien und anderen kleinen Golfmonarchien, die auf die Sicherheitsgarantien der USA angewiesen sind.

Politische Rolle der Schiiten im Irak

Die Zweifel an der Loyalität der Schiiten im eigenen Land sind nicht neu. Sie erhalten jedoch ihre enorme Brisanz zunächst durch die veränderten Machtverhältnisse innerhalb des Iraks: Die Schiiten, die mit etwa 65 Prozent die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, erhielten nach dem Sturz des Saddam-Regimes erstmals auch ein politisches Gewicht, das den Mehrheitsverhältnissen Rechnung trägt. Der iranische Einfluss zeigt sich etwa daran, dass viele Führer der großen schiitischen Parteien im Nachkriegsirak mehrere Jahre im iranischen Exil verbrachten, darunter auch der heutige irakische Premierminister Nuri al Maliki. Sogar vor einer Unterstützung des radikalen schiitischen Predigers Muqtada as Sadr, der sich zeitweise durch seine aggressive antiiranische Rhetorik auszeichnete, schreckt die iranische Führung nicht zurück. Auch an der Verhinderung einer neuen, von Iyad Allawi, dem Sieger der Parlamentswahlen im März 2010, geführten irakischen Regierung war Teheran maßgeblich beteiligt. Ali Larijani, der Präsident des iranischen Parlaments, hat sich persönlich eingeschaltet, um die verfeindeten schiitischen Parteien von al Maliki und as Sadr zur Zusammenarbeit zu bewegen. Das dürfte daran liegen, dass "Allawi eine dezidiert säkular-nationalistische Politik vertritt und (...) große Teile der sunnitischen Bevölkerungsminderheit sowie die umliegenden arabischen Länder hinter sich [weiß]. Der Einfluss Irans würde unter seiner Regierung schwinden".

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Iran tatsächlich mittels seines Einflusses auf schiitische Parteien schon heute ein Bestandteil der politischen Eliten im Nachkriegsirak ist. Und obschon Großajatollah Ali al Sistani, einer der größten schiitischen geistlichen Autoritäten im Irak, auf der Unabhängigkeit der irakischen Schiiten beharrt, ist der Einfluss Irans im Nachkriegsirak, insbesondere im Südirak, allgegenwärtig. Dies ist strategisch insofern außerordentlich wichtig, als es die amerikanischen Droh- und Handlungsoptionen gegen den Iran zur Eindämmung seiner atomaren Ambitionen in der militärisch-operativen Anwendungspraxis stark limitieren dürfte.

Ausblick: Konfrontation zwischen Saudi-Arabien und dem Iran

Die hegemoniale Konfrontation in der Golfregion zwischen Iran und Saudi-Arabien als Folge des Irak-Kriegs 2003 markiert den Anfang eines "Kalten Kriegs" im Nahen und Mittleren Osten. Im Mittelpunkt steht die Tatsache, dass Saudi-Arabien ein Vakuum füllen müsste, das der amerikanische Einflussverlust infolge des Debakels im Irak hinterlassen hat. Doch Riad steht dem Aufstieg des Iran zu einer führenden Regionalmacht weitgehend hilflos gegenüber. Die anderen führungsschwachen arabischen Staaten greifen notgedrungen auf die wieder erstarkte Türkei zurück, in der Hoffnung, den iranischen Einfluss, den Teheran über seine Stellvertreter und "trojanischen Pferde" wie die Hamas und die Hisbollah aufgebaut hat, einzudämmen. Aus globalstrategischer Sicht lässt sich sagen: "Der Irakkrieg ist für die USA nicht zu dem von vielen prognostizierten Fiasko geworden, aber er bürdete Amerika hohe politische Kosten auf." Am schwersten wiegt, dass die Bush-Regierung die moralische Kreditwürdigkeit und den politischen Führungsanspruch der USA aufs Spiel setzte - und ihre strategische Hegemonie im Mittleren Osten zugunsten regionaler Akteure verlor.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Tomas Avenarius/Paul-Anton Krüger, Wikileaks-Dokumente: Araber drängten zu Militärschlag gegen Iran, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.11.2010, S. 6.

  2. Vgl. Tarek Dlimi, Strategische Paradoxien im neuen Irak?, in: Al Hayat vom 29.12.2010.

  3. Peter J. Taylor, Geopolitische Weltordnungen, in: Welttrends, (1994) 4, S. 29. Vgl. ausführlicher zur Relevanzsteigerung des Vorderen Orients nach dem Irak-Krieg Volker Perthes, Die neue Zentralität des Nahen und Mittleren Ostens. Konsequenzen für Wissenschaft und Politik, in: Internationale Politik, (2004) 7, S. 49-52.

  4. Eine aktuelle und fundierte Analyse des Irak-Krieges liefert Stephan Bierling in seinem kürzlich erschienenen Buch: Geschichte des Irakkriegs. Der Sturz Saddams und Amerikas Albtraum im Mittleren Osten, München 2010.

  5. Volker Perthes, Geheime Gärten. Die neue arabische Welt, Bonn 2005, S. 331. Vgl. zur Terror- und Schreckensherrschaft des Saddam-Regimes Samir al-Khalil, Republik of Fear. The Politics of Modern Iraq, Berkeley-Los Angeles 1990.

  6. Damals entschieden sich die USA dazu, selbst in die von den Briten aufgegebene Rolle des Stabilitäts- und Sicherheitsgaranten in dieser geostrategisch zentralen Region zu schlüpfen. Ihnen ging es in erster Linie darum, zu verhindern, dass andere Mächte wie etwa die Sowjetunion diese einflussreiche Rolle übernahmen. Vgl. Jamal Swidi, Das Sicherheitsdilemma am Golf, Abu Dhabi 1998, S. 465ff.

  7. Vgl. J.E. Peterson, Saudia Arabia and the Illusion of Security, Oxford 2002; Alex Alexiev, Ölmilliarden für den Dschihad, in: Internationale Politik, (2004) 2, S. 21-30.

  8. Herfried Münkler, Der neue Golfkrieg, Reinbek 2003, S. 124.

  9. Vgl. Wolfgang Günther Lerch, Neuordnung oder Selbstveränderung? Aus Anlass der Irak-Krise: Die Frage nach Wandel im Islam ist schon recht alt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 6.8.2003, S. 10. Vgl. zum Verhältnis zwischen Geopolitik und den Wesensmerkmalen der islamisch geprägten Länder Dan Diner, Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin 2005, insb. Kapitel 2.

  10. Vgl. Mohssen Massarrat, Die Imperative des Imperiums, in: Der Freitag vom 21.3.2003.

  11. Zit. nach: Ernst Woit, Geostrategische und ideologische Aspekte der EU-Integration Europas, 2005, online: www.ag-friedensforschung.de/themen/Weltordnung/
    woit.html (31.1.2011).

  12. Ebd.

  13. S. Bierling (Anm. 4), S. 7.

  14. Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA kann als new defining moment amerikanischer Weltpolitik im 21. Jahrhundert angesehen werden, da sie "einen wegweisenden Charakter für die amerikanische Politik in allen internationalen Feldern" hatte. Vgl. Joachim Krause/Jan Irlenkaeuser/Benjamin Schreer, Wohin gehen die USA? Die neue nationale Sicherheitsstrategie der Bush-Administration, in: APuZ, (2002) 48, S. 40-46.

  15. S. Bierling (Anm. 4), S. 100.

  16. Volker Perthes, Bewegung im Mittleren Osten. Internationale Politik und regionale Dynamiken nach dem Irak-Krieg, SWP-Studie, Berlin 2004, S. 7.

  17. Ebd.

  18. Vgl. Salameh Nematt, Amerika als neuer Nachbar im Nahen Osten, in: Al Hayat vom 22.11.2006.

  19. Vgl. V. Perthes (Anm. 16).

  20. Vgl. Guido Steinberg, Die innenpolitische Lage Saudi-Arabiens nach dem 11. September 2001, DOI-FOCUS, Februar 2003. Vgl. für ein differenziertes Bild vom puristischen Geist des Wahhabismus und dessen "Sendungsbewusstsein", das sich im heutigen Erziehungssystem Saudi-Arabiens artikuliert, Michaela Prokop, Education in Saudia-Arabia - The Challenge of Reforming the System and Adapting the Message, in: Orient, (2002) 4; Abdella Eleanor Doumato, Manning the Barricades: Islam According to Saudia Arabia's School Textes, in: Middle East Journal, 57 (2003) 2.

  21. Vgl. Loay Mudhoon, Saudi-Arabiens Rolle im regionalen Kontext, in: Orient, (2008) 2, S. 26-32.

  22. Vgl. Heinz Halm, Die Schiiten, München 2005, S. 121.

  23. Katajun Amirpur, Das Jahrhundert der Schia, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2005) 3, S. 263-266.

  24. Zouheir Kseibati, Die imperialen Träume Irans, in: Al Hayat vom 24.9.2006, S. 8.

  25. Zit. nach: Waldemar Hummer, Ein Sieger, mit dem keiner rechnete. Paradoxerweise ist der größte Gewinner des Irak-Kriegs der Iran, in: Internationale Politik, (2006) 3, S. 26.

  26. Ebd., 26.

  27. Vgl. Vali Nasr, When The Shiites Rise, in: Foreign Affairs, (2006) 4.

  28. Vgl. Birgit Svensson, Der Iran kennt keine Grenzen, in: Sonntagszeitung vom 31.10.2010, S. 15.

  29. Ebd.

  30. Vgl. Guido Steinberg, Saudi-Arabiens Außenpolitik unter König Abdallah: Wachsende Herausforderungen, begrenzte Handlungsspielräume, in: Qantara.de vom 21.6.2010, online: http://de.qantara.de/webcom/show_article.
    php/_c-468/_nr-1373/i.html (20.1.2011).

  31. Vgl. Rainer Hermann, Iranisches Großmachtgehabe am Golf, in: FAZ vom 20.5.2010, S. 5.

  32. Stephan Bierling, Das Vermächtnis des Irakkriegs, in: Neue Züricher Zeitung vom 16.12.2010, online: www.nzz.ch/nachrichten/startseite/das_
    vermaechtnis_des_irakkriegs_1.8696561.
    html# (18.1.2011).

M.A., geb. 1972; Politik- und Islamwissenschaftler, Lehrbeauftragter an der Universität Köln, Redakteur bei der "Deutschen Welle" und Redaktionsleiter von "Qantara.de". E-Mail Link: loay.mudhoon@dw-world.de
Externer Link: No Titel