Einleitung
Anschläge gegen irakische Christen, gegen Siedlungen und Einrichtungen der Yeziden in den Regionen Sinjar und Shaykhan (Provinz Ninawa) sowie gegen Angehörige der kleineren religiösen Minderheiten (vor allem Schabak und Mandäer) haben in den vergangenen drei Jahren zugenommen. Wie bei den Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten spielt auch hier Al Qaida eine wichtige Rolle. Bislang scheiterte sie beim Versuch, einen landesweiten konfessionellen und ethnischen Bürgerkrieg anzuzetteln, weshalb immer mehr die militärisch wehrlosen nichtmuslimischen Minderheiten oder heterodoxen islamischen Gruppen ins Visier geraten.
Al Qaida geht es um die Schaffung und Aufrechterhaltung von Unruhe und Chaos im Land, die Vorführung der Unfähigkeit von irakischen Sicherheitskräften, für Sicherheit zu sorgen, und die Vertreibung der nichtmuslimischen Minderheiten aus dem Irak. In diesem Kontext sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass die überwiegenden Anschläge gegen islamische Einrichtungen gerichtet und die meisten Opfer der Gewalt Muslime sind.
Auf den ersten Blick eher paradox wirkt die Tatsache, dass die Eskalation der Gewalt gegen religiöse und ethnische Minderheiten in einer Zeit stattfindet, in welcher Ethnizität und Konfessionalismus in der irakischen Politik immer mehr relativiert werden. Ethnisch-konfessionelle Grenzziehungen verlieren als Bezugspunkte an Bedeutung, und eine politische Differenzierung innerhalb der einzelnen ethnischen und konfessionellen Gruppen tritt deutlicher zutage. Innerhalb der drei größten Bevölkerungsgruppen (Schiiten, Sunniten und Kurden) spalteten sich die politischen Blöcke und machten Raum für mehr politischen Pluralismus.
Ethnische und religiöse Heterogenität
Zweifelsohne haben die Minderheiten im Irak nach dem Sturz des Baath-Systems zum ersten Mal seit der Gründung des Staates im Jahr 1921 politische Anerkennung erfahren. Die politischen Freiheiten, die Hervorhebung ihrer besonderen Identität und die Partizipation im politischen System sind sichtbare Elemente des Systemwechsels im Irak. Doch schon bei der Frage, um welche ethnischen und religiösen Gruppen es sich hierbei handelt, wird es schwierig, da die Gruppenidentitäten noch nicht definiert beziehungsweise nach wie vor im Aushandeln begriffen sind. Abgesehen von den Arabern, Kurden und Turkmenen scheint es, dass die Frage nach der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit die verschiedenen Minderheiten eher spaltet als vereint.
Im allgemeinen Sprachgebrauch sind mit Minderheiten die Yeziden, die Christen und die heterodoxen islamischen Gruppen (Schabak, Kakaiya und Mandäer) gemeint. Es liegen zwar keine präzisen Angaben über die Größe der ethnisch-religiösen Gruppen vor - da in der Vergangenheit bei den Volkszählungen im Irak ethnische und konfessionelle Kriterien nicht berücksichtigt wurden; das Baath-Regime versuchte in den 1970er Jahren gewaltsam, eine sprachliche und kulturelle Arabisierung durchzusetzen. Aber man kann davon ausgehen, dass die Anzahl der Schabak, Kakaiya und Mandäer jeweils unter 100.000 liegt. Die Zahl der yezidischen Bürgerinnen und Bürger lag vor der großen Auswanderungswelle in den 1990er Jahren bei etwa 700.000. Die Christen waren die größte nichtmuslimische Gruppe, und ihre Zahl dürfte vor der großen Auswanderungswelle in den 1990er Jahren faste eine Million betragen haben.
Was das soziale Leben betraf, unterschied sich der Irak kaum von anderen Staaten in der Region: Die soziale Kommunikation fand vor allem innerhalb der eigenen ethnischen oder religiösen Bezugsgruppe statt. Doch ist es in der 90-jährigen Geschichte des modernen Irak nie zu Konflikten zwischen den religiösen Minderheiten gekommen - was auch damit zusammenhängt, dass gerade kleinere Minderheiten sich nicht allein auf ihre religiöse und/oder ethnische Identität festlegen wollen. Ein Beispiel sind die Yeziden: Unter ihnen konkurrieren die Anhänger der kurdischen Identität mit den Protagonisten einer genuin yezidisch-nationalistischen Identität. Bei den Christen wiederum konkurrieren die Anhänger eines assyrischen Nationalismus mit dem Klerus, der einen Machtverlust befürchtet, wenn sich bei den Christen die Nationsidee durchsetzen sollte.
Verfassungsrechtliche Stellung
Seitdem die irakische Verfassung im Jahr 2005 nach einem Referendum in Kraft trat, gibt es Debatten über die in ihr festgeschriebenen Rechte für ethnische und religiöse Gemeinschaften. So unterstreichen einige Artikel explizit die Rolle des Islams innerhalb des Gemeinwesens, was von nichtmuslimischen Gemeinschaften als Diskriminierung empfunden wird. Bereits im zweiten Artikel wird konstatiert, dass der Islam die Staatsreligion des Irak und eine Hauptquelle der Gesetzgebung ist. Kein Gesetz dürfe verabschiedet werden, das mit den Grundsätzen des Islam im Widerspruch steht. Dieser Artikel wird wiederum dadurch relativiert, dass kein Gesetz im Widerspruch mit den Prinzipien der Demokratie (Artikel 2 Absatz B) und mit den in der Verfassung erwähnten Grundrechten stehen darf.
Für Religionsgemeinschaften werden in der Verfassung (Artikel 42) drei Garantien gegeben: die Freiheit der Religionsausübung, die Sicherheit der religiösen Einrichtungen und der Schutz der religiösen Stiftungen. Außerdem wird in Artikel 3 festgehalten, dass der Irak ein multinationales und multireligiöses Land ist, und die Angehörigen der verschiedenen ethnischen Gruppen ihre Muttersprachen als Schul- und Ausbildungssprache benutzen dürfen (Artikel 4). Neben den beiden Hauptsprachen Arabisch und Kurdisch werden Turkmenisch und Syrisch zu offiziellen Sprachen in den Gebieten mit turkmenischer beziehungsweise assyrischer Mehrheit erklärt. In Artikel 10 werden auch die schiitischen heiligen Schreine (atabat) und andere religiöse Stätten (maqamat) unter den Schutz der Verfassung gestellt. Angehörige der nichtmuslimischen Minderheiten wie Christen oder Yeziden bemängeln aber, dass ihre religiösen Einrichtungen, die oft zum Ziel terroristischer Anschläge werden, expressis verbis nicht erwähnt werden.
Das wohl weitreichendste Recht ist in Artikel 125 garantiert: die Errichtung von Selbstverwaltungsgebieten für Turkmenen, Assyrer und Chaldäer, wenn sie in bestimmten Regionen die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen.
Turkmenen
Es gibt keine gesicherten Angaben über die Anzahl der Turkmenen. Einige Schätzungen gehen von fünf Prozent der irakischen Bevölkerung aus. Die Irak Türkmen Cephesi (Irakische Turkmenische Front) geht bei ihren Berechnungen für das Jahr 1994 von 1.750.000 Turkmenen aus.
Die turkmenischen Parteien verlangen die Anerkennung ihrer ethnischen Selbstständigkeit und das Recht auf Selbstverwaltung. Beides ist eng verknüpft mit der Frage nach der Zukunft der umstrittenen Provinzen Kirkuk und Mossul, da die größten turkmenischen Siedlungsgebiete entweder in der Provinz Kirkuk (auf die vor allem die Kurden Anspruch erheben) oder in der multiethnischen Provinz Mossul (hier bilden zwar Araber die Mehrheit, aber auch bedeutende Gruppen von Kurden, Christen und Schabak sind hier beheimatet) liegen. Dass die Forderung turkmenischer Nationalisten, dass Kirkuk aus historischen Gründen von den Turkmenen verwaltet werden sollte, erfüllt wird, scheint wenig realistisch. Nicht nur weil die Kurden dies ablehnen, sondern auch, weil die arabische Mehrheit des Irak lediglich dazu bereit ist, den Kurden eine Art Autonomie zuzugestehen.
Diese machtpolitisch schwierige Position spaltete auch die politischen Parteien der Turkmenen in zwei Lager: Ein Teil hat sich für die Zusammenarbeit mit den Kurden im Rahmen der regionalen Autonomieverwaltung in Erbil entschieden. Ein anderer versucht den Einfluss der Kurden im post-baathistischen Irak einzudämmen. Trotz der Spannungen ist bislang aus den kurdisch-turkmenischen Auseinandersetzungen kein gewaltförmiger Konflikt entstanden.
Christliche Minderheiten
Die christlichen Minderheiten des Irak wurden, nachdem die Anzettelung eines sunnitisch-schiitischen Bürgerkrieges vorerst gescheitert zu sein scheint, zum Hauptziel Al Qaidas. Assyrer, Chaldäer und Syrer sind ohne Unterbrechung seit dem Altertum in Mesopotamien angesiedelt. Diese historische Kontinuität und die feste Verankerung im Christentum sind Hauptelemente ihrer Identität.
Die Verunsicherung der irakischen Christen setzte allerdings schon während des irakisch-iranischen Krieges (1980-1988) ein. Es zeichnete sich ab, dass eine wenig tolerante Interpretation des politischen Islam zu einem Faktor in der irakischen Politik werden würde. Die Baath-Regierung, die als säkular galt, übernahm während des Krieges gegen Iran sukzessive religiös-islamische Inhalte in seinen politischen Diskurs.
Die zweite Welle der Auswanderung fand in den 1990er Jahren statt. Hintergrund war die Zunahme der Gewalt und der Konflikte in vielen Staaten des Vorderen Orients, worunter auch die Lebensqualität und die Lebenschancen im Irak (welche durch die internationalen Sanktionen ohnehin begrenzt waren) litten. Hinzu kam, dass das eher säkulare Regime Saddam Husseins im Zuge der Niederlage im Zweiten Golfkrieg und des folgenden Legitimitätsverlustes immer stärker auf islamische und islamistische Diskurse und religiöse Symboliken zurückgriff. Derselbe Saddam Hussein, der unmittelbar nach dem Ausbruch des Krieges gegen den Iran im Jahr 1980 das "religiös-politische Phänomen" ausmerzen wollte,
Bei den im Irak lebenden Christen handelt es sich in der Mehrheit um Chaldäer, Assyrer und Syrer, die verschiedene Dialekte der aramäischen Sprache sprechen. Hinzu kommen Armenier, die vor und während des Ersten Weltkrieges nach Mesopotamien geflüchtet waren. Zwar entwickelte sich infolge des Ersten Weltkrieges auch unter den Assyrern und Syrern eine nationale Idee im Sinne einer ethnischen Identität, sie blieb aber auf ihre säkularen Eliten beschränkt. Der Klerus der orthodoxen, katholischen und anderer Kirchen Westasiens, wo diese Völkerschaften angesiedelt sind, erteilte der ethnischen Identität eine deutliche Absage.
In der irakischen Verfassung von 2005 ist von der chaldäisch-assyrischen Gemeinschaft die Rede. Die christlichen Mitglieder des Verfassungskonvents hatten diese Formulierung vorgeschlagen. In der Realität lehnen vor allem die Chaldäer die Darstellung der beiden Gruppen als eine gemeinsame ethnische Gruppe ab. Stattdessen sprechen auch sie seit dem Sturz des Saddam-Regimes vermehrt von einer "chaldäischen Nation".
Diese Unstimmigkeiten und der fehlende Konsens innerhalb der christlichen Gemeinden haben signifikante politische Auswirkungen, vor allem dahingehend, dass sich die Christen im Irak nicht über Maßnahmen, die ihre Sicherheit gewährleisten könnten, einigen können.
Bis Ende des Jahres 2010 waren Schätzungen zufolge 25 Kirchen und Kloster Ziele von Anschlägen, bei denen etwa 900 Christen umkamen.
Stattdessen kursiert ein anderer Plan, der vom Assyrisch-Chaldäisch-Syrischen Rat
Eine andere Variante der christlichen Selbstverwaltung wird von Christen in der Diaspora propagiert. Sie sieht die Ausgliederung der christlichen Gebiete aus der kurdischen Region und ihre Fusionierung mit den christlichen Gebieten Mossuls vor. Diese Option allerdings wird von den Arabern, Turkmenen und Kurden abgelehnt.
Für viele Christen scheint deshalb die Flucht aus dem Irak die einzige Lösung zu sein. Diesen Weg wählten bislang bereits etwa 300.000 bis 500.000 von ihnen. Weder die politischen Parteien der Assyrer und Chaldäer noch irakisch-christliche Kirchen oder Vertreter der Zentralregierung favorisieren zwar die Auswanderung, können sie aber wegen der sich häufenden Anschläge nicht verhindern.
Mandäer
Die Mandäer (Sabäer), die vorwiegend im Südirak, Bagdad, Basra, Nasiriya und Samarra beheimatet sind, sind eine eigenständige ethno-religiöse und sprachliche Minderheit. Während der Diktatur unter Saddam Hussein wurden auch sie Opfer einer aggressiven Arabisierung. Sie sprechen teilweise noch ihre Muttersprache, modernes Mandäisch. Ihre Liturgiesprache ist das sogenannte klassische Mandäisch, das in einem eigenen mandäisch-aramäischen Alphabet geschrieben wird. Die Mandäer praktizieren bis heute eine sehr alte, der überlieferten Tradition nach aus dem syro-palästinensischen Raum stammende vorislamische Religion.
Da die Mandäer von vielen Muslimen nicht als eine monotheistische Religion anerkannt werden, genießen sie keinen besonderen Schutz. Sie werden zwar in der irakischen Verfassung als Bestandteil des irakischen Volkes betrachtet, aber dies verhindert nicht die Übergriffe und die gegen sie gerichteten Anschläge. Selbst Nachrichten über die Anschläge auf sie erreichen kaum die irakische, regionale oder internationale Öffentlichkeit. Dass ihre Siedlungsgebiete in verschiedenen irakischen Provinzen liegen, erschwert es zusätzlich, sie vor Übergriffen und Terror zu schützen.
Die seit Tausenden von Jahren in Mesopotamien beheimateten Mandäer werden wahrscheinlich die erste nichtmuslimische Gruppe des Irak sein, die en bloc das Land verlassen wird und damit die erste Gemeinschaft, die ihre Heimat für immer verliert. Über die Hälfte wanderte bereits aus, weshalb dort gegenwärtig nur noch etwa 13.000 Mandäer leben.
Yeziden
Die Yeziden
Die Yeziden lebten bis ins 19. Jahrhundert in fast allen Siedlungsgebieten der Kurden. Die Übergriffe der Osmanen und der muslimischen Kurden im 19. Jahrhundert dezimierte ihre Zahl dramatisch. Heute leben die etwa 700.000 Yeziden vor allem in den nordirakischen Provinzen Duhok und Mossul. Sie sind kurdischsprachig. Obwohl der Ursprung dieser Religion noch nicht eindeutig geklärt ist, liegen ihre Wurzeln in der vorislamischen Zeit. Zu ihren Elementen gehören altiranische, manichäische, synchretistische und orientalisch-christliche Merkmale. Bedingt durch die islamische Umwelt gibt es auch Spuren dieser, aber die Gemeinschaft der Yeziden kann wegen der deutlichen rituellen, ethischen und sozialen Eigenheiten kaum als eine heterodoxe islamische Gruppe betrachtet werden.
Von nichtmuslimischen kurdischen Nationalisten, neuerdings auch in den Reihen der Yeziden selbst, wird die Yezidengemeinschaft essentiell dem Kurdentum zugeordnet.
Diesen Stimmen steht eine kleine Gruppe von Politikern gegenüber, die eine eigene yezidische Identität propagieren und sich für die Gründung einer autonomen yezidischen Region Ezidikhan
Schabak
Auch die Schabak
Religiös stehen sie den kurdischen Gemeinschaften nahe, die als "extreme Schiiten" betrachtet werden. Laut ihrer Vorstellung bildet Ali, der vierte Kalif und Schwiegersohn des Propheten Muhammed, mit Allah und Muhammed die Trinität, wobei Ali die Manifestation der Gottheit verkörpere.
Zerstörung der ethnischen und religiösen Vielfalt
Im Jahr 2010 forderten die terroristischen Anschläge im Irak täglich etwa 50 Opfer, darunter eine steigende Anzahl von Angehörigen der nichtmuslimischen Gemeinschaften und der heterodoxen islamischen Gruppen.
Im Irak bot der Regimewechsel von 2003 trotz vieler negativer Begleiterscheinungen eine Chance, die Grundlagen für die Vielfalt verfassungsrechtlich und in der Praxis zu verankern. Die Verfassung von 2005 ist trotz ihrer Mängel eine gute Basis für das Zusammenleben der Völker des Irak. Politisch stellen sich vor allem die Unstimmigkeiten mit Blick auf ein föderales System als größte Herausforderung heraus. Einige Stimmen unterstellen, dass der Föderalismus Konflikte schaffe, weil er auf ethnischen und konfessionellen Kriterien basiere. Daher ist auch fünf Jahre nach der Verabschiedung der Verfassung die kurdische Region die einzige föderative Region geblieben.
Die gegenwärtigen Probleme und Konflikte, vor allem im Zusammenhang mit den Anschlägen auf nichtmuslimische Gemeinschaften können nicht allein durch Änderungen des gesetzlichen Rahmens gelöst werden. Das Problem liegt eher in der mangelnden Anwendung des Rechts und der Unfähigkeit der irakischen Sicherheitsorgane, geltende Gesetze durchzusetzen und der Bevölkerung den notwendigen Schutz zu gewähren.