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Von Frühling und Herbst der Pressefreiheit im neuen Irak - Essay | Irak | bpb.de

Irak Editorial Der Irak als demokratischer "Musterstaat" in Nahost? Eine Zwischenbilanz Zwischen individueller Verarbeitung und gesamtgesellschaftlicher Versöhnung: Vergangenheitsbewältigung im Irak Von Frühling und Herbst der Pressefreiheit im neuen Irak - Essay Droht eine Zerstörung der ethnischen und religiösen Vielfalt im Irak? Kurdistan zwischen Autonomie und Selbstverantwortung Hat die arabische Welt den Irak vergessen? - Essay Wandel der regionalen Ordnung und Aufstieg neuer Mächte in der Golfregion

Von Frühling und Herbst der Pressefreiheit im neuen Irak - Essay

Birgit Svensson

/ 16 Minuten zu lesen

Mit Sorge werden die Diskussionen zur Verschärfung des Pressegesetzes verfolgt. Damit könnte die juristische Verfolgung von kritischen Journalisten weiter zunehmen. Noch fehlt das Verständnis für die Rolle der Medien bei der Meinungsbildung.

Einleitung

Mit der Pressefreiheit im Irak ist es wie mit dem halbvollen oder halbleeren Glas, wie mit Frühling und Herbst, die sich übergangslos und manchmal in rasendem Tempo abwechseln. Es ist wie mit allen anderen demokratischen Freiheiten, deren Worte die meisten der 25 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner des Zweistromlandes bis vor wenigen Jahren noch nicht einmal kannten. Auch heute noch, fast acht Jahre nach der Invasion amerikanischer Truppen und dem Sturz des Diktators, flüstern manche noch verängstigt um sich schauend, wenn sie nach ihrer Meinung gefragt werden. "Schhhh, nicht so laut", ermahnte kürzlich ein Mann seine Frau im Bagdader Schiitenviertel Sadr City, als sie nach der Bildung der neuen schiitisch dominierten Regierung gefragt wurde und über den alten und neuen Premier Nuri al Maliki herzog. "Sie werden dich einsperren!"

Der unter Saddam Hussein allgegenwärtige Geheimdienst hat tiefe Spuren hinterlassen. Das Misstrauen gegen die offen propagierte Meinungsfreiheit auf der Straße ist noch groß, obwohl in den vergangenen Monaten Demonstrationen zu gesellschaftspolitischen Themen zugenommen haben.

Demokratie: vom Zauberwort zum Schimpfwort?

Das Wort "demokratia" indes, mittlerweile in aller Munde, ist zum Modewort im Irak geworden. Gäbe es ein Wort des Jahres, wäre es garantiert "demokratia". Alles ist Demokratie oder auch nicht: die Preise auf den Gemüsemärkten, die undemokratisch hoch seien, die Benzinpreise auf deren Niedrigstand die Konsumenten ein demokratisches Anrecht hätten, Jobs, die es nicht gibt, die aber in einer Demokratie vorhanden sein sollten, Strom, der noch immer spärlich aus der Steckdose fließt und undemokratisch verteilt werde - das Regierungsviertel Grüne Zone erstrahlt nahezu im Dauerlicht, während der Rest Bagdads, die Rote Zone, oft nur mit Generatoren funktionieren kann. Demokratie, was gleich nach dem Einmarsch der "Koalition der Willigen" im Frühjahr 2003 zum Zauberwort geworden war, ist zwischendurch zum Schimpfwort verkommen, um sich momentan gerade auf ein realistisches Maß einzupegeln. Euphorie und Ernüchterung sind dabei, sich auszubalancieren, das Machbare zu erkennen.

Bei den Printmedien hat sich schnell die Spreu vom Weizen getrennt. Während nach dem Sturz des Saddam-Regimes Zeitungen wie Pilze aus dem Boden schossen, hatte sich gut zwei Jahre danach die Zahl der Publikationen im Irak schon erheblich reduziert. Vorher gab es lediglich vier Zeitungen, die alle streng unter der Kontrolle der regierenden Baath-Partei erschienen und am Ende keiner mehr lesen wollte, da sie ohnehin nur Propaganda verbreiteten. Dementsprechend groß war der Hunger nach Informationen nach der Wende. (Auch die Iraker benutzen inzwischen das Wort "Wende" für die Zeit nach Saddam Hussein, da es wertneutral ist.) Bis zu 180 Tages- und Wochenzeitungen wurden anfangs gezählt. Zwei Jahre später waren es noch 25. Unabhängig ist heute nur noch eine Handvoll.

Rechtsfreie Pressefreiheit?

Mit dem "freiesten Publikationsrecht der Welt", wie der Kulturminister der ersten Übergangsregierung Mufeed Jawad al Jaza'iri Ende 2004 die herrschende Gesetzlosigkeit auf dem Medienmarkt bezeichnete, konnte zunächst grenzenlos alles gedruckt und vertrieben werden, was finanziert werden konnte. Auch heute gibt es noch kein Mediengesetz, obwohl schon etliche Entwürfe seitens Journalistenverbänden oder -gewerkschaften vorgelegt und diskutiert wurden. Doch keine der bislang vier Regierungen hat sich je ernsthaft damit befasst. Die im Oktober 2005 durch ein Referendum mit Mehrheit angenommene neue Verfassung schreibt lediglich Meinungs- und Pressefreiheit vor, legt aber keinen Rahmen fest. Diesen sollten die Volksvertreter im Nachhinein bestimmen, was aber bis jetzt nicht geschehen ist.

Journalisten leben und arbeiten also nach wie vor im rechtsfreien Raum. Jeder, dem irgendetwas nicht passt, was publiziert wird, übt Druck und Zensur aus, ohne dass staatliche Stellen rechtswirksam eingreifen. So ist das Angebot des ehemaligen Gouverneurs der Provinz Nadjaf Assad Sultan Abu Gelal, der ermordeten Journalisten unbürokratisch Grabstätten auf dem unter Schiiten heißbegehrten Friedhof seiner Stadt anbot, eine makabre Folge dieser Situation. Oder das Angebot des Innenministers der vorigen Regierung, der nach der Ermordung des Vorsitzenden der Journalistengewerkschaft Shihab al Temimi im März 2008 schnelle Genehmigungen von Waffenscheinen für Journalisten versprach. Laut Reporter ohne Grenzen sind im Irak in den vergangenen sieben Jahren über 300 Journalisten ermordet worden, mehr als im Vietnam-Krieg. Die meisten der getöteten Medienvertreter sind Einheimische.

Morddrohungen und Anfeindungen

Deshalb ist die Mehrzahl der heute erscheinenden Tages- und Wochenzeitungen inzwischen Parteizeitungen oder von Politikern und religiösen Organisationen finanzierte Druckerzeugnisse. Sie verheißen Schutz für den Preis der verlorenen Unabhängigkeit. Ismael Zayer, Herausgeber und Chefredakteur von "Al Sabah al Jadeed", einer der wenigen noch unabhängigen Tageszeitungen, hat im vergangenen Halbjahr nur fünf kommentierende Leitartikel geschrieben. Er ist es leid, Morddrohungen, Drohbriefe oder sonstige Anfeindungen zu bekommen, weil jemandem seine Meinung nicht gefällt.

Das Beispiel "Al Mada" steht hier stellvertretend für das Schicksal vieler ambitionierter Medienträume im irakischen Frühling der Pressefreiheit. Nur zwanzig Tage nachdem die Saddam-Statue auf Bagdads Firdous-Platz vom Sockel gestoßen wurde, saßen Zuhair al Jezairy und sieben weitere "Sechziger", wie er seine Mitstreiter nennt, mit dem Herausgeber Fakhri Karim zusammen und beschlossen, "Al Mada", was soviel heißt wie Ausdehnung oder Horizont, ins Leben zu rufen. Als ehemalige Mitglieder der kommunistischen Partei erlebten sie alle 1963 einen Wendepunkt in ihrem Leben, als die sozialistisch-nationalistische Baath-Partei einen Staatsstreich verübte und fortan das Parteienmonopol im Irak beanspruchte. "Anfangs haben wir noch gehofft, den Weg zum Totalitarismus aufhalten zu können", erinnert sich der 64-Jährige an seine ideologischen Kampfzeiten.

Doch anstatt die Gesellschaft zu verändern, hätten sie sich geändert. Als sie dies bemerkten, seien einige aus dem Irak ausgereist, andere gingen in den Untergrund. Einige hätten aber auch mitgemacht. "Al Mada"-Herausgeber Fakhri Karim baute in Dubai einen Verlag auf. Die ersten Ausgaben der Zeitung im Juni 2003 wurden noch am Golf gedruckt. Mit etwa 10.000 Exemplaren Druckauflage war sie von Anfang an eine der kleinsten Tageszeitung im neuen Irak. Klein, aber fein, die Ambitionen hoch, die intellektuelle Mittelschicht als Zielgruppe. Die allgemeine Aufbruchstimmung steckte auch die Redaktion von "Al Mada" an. Endlich konnte alles uneingeschränkt publiziert und recherchiert werden nach so vielen Jahren Diktatur und Zensur.

Ende Januar 2004 stellte die Zeitung die "247 Freunde Saddams" vor, die Ölkupons des Ex-Diktators erhalten haben sollen. Der Öl-für-Lebensmittel-Skandal nahm seinen Lauf. Die Nachforschungen der Kommission, die zur Aufklärung der Bestechungen während des UN-Embargos eingesetzt wurde, basierten auf den Listen von "Al Mada". "Die sind uns zugespielt worden", sagt der damalige Chefredakteur Zuhair al Jezairy zu der umstrittenen Veröffentlichung. "Wir wussten, dass wir uns damit Gegner schaffen. Und das in aller Welt."

Denn auf den Korruptionslisten standen nicht nur Firmen, die irgendwie mit Öl zu tun haben und daher gebraucht werden, sondern auch Privatpersonen wie etwa der Sohn des ehemaligen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser, ein ehemaliger französischer Innenminister oder der Präsident Indonesiens. Das Redaktionsgebäude wurde aus Sicherheitsgründen von der Druckerei getrennt: "Fast täglich bekamen wir Drohungen", sagt al Jezairy. Als die Zeitung dann die Namen von Terroristen und Aufständischen veröffentlichte, hatte sie sich auch die Stammesfürsten zu Feinden gemacht. Zwei der Reporter wurden ermordet.

Inzwischen hat Chefredakteur al Jezairy mit finanzieller Unterstützung der Vereinten Nationen die unabhängige Nachrichtenagentur Aswat al-Iraq aufgebaut, die mit Nina (National Iraqi News Agency) und der kurdischen AKNews konkurriert. Herausgeber Karim ist im sicheren kurdischen Norden in Suleimanija untergeschlüpft und wird von Staatspräsident Jalal Talabani finanziell unterstützt.

"Al Mada" ist brav geworden, hat die Auflage halbiert und fast täglich das Konterfei des Präsidenten auf der Titelseite. "Als ich einen kritischen Artikel über die dubiosen und von Bagdad nicht anerkannten Öl-Verträge der kurdischen Regionalregierung im Nordirak schrieb, bekam der Herausgeber einen bösen Anruf von einem Vertrauten des Präsidenten", erzählt der Autor. "Ich verlor meinen Job und Al Mada zog nach Kurdistan." Und ein anderer "Al Mada"-Ehemaliger sagte: "In Bagdad wird die Pressefreiheit mit Kugeln attackiert, in Kurdistan mit dem Geldbeutel."

Fehlendes Verständnis für die Rolle der Medien

Doch nicht immer werden Loyalität und Wohlgesonnenheit in Irak-Kurdistan mit dem Portemonnaie erkauft, obwohl in den drei kurdischen Provinzen im Nordosten vieles anders läuft als im Rest des Landes. Durch die gute Sicherheitslage und den enormen Wirtschaftsboom, den die Region seit dem Sturz Saddams verzeichnet, ist sie zum Vorzeigeprojekt aufgestiegen. Westliche Investitionen, auch deutsche, fließen immer häufiger. Ausländische Firmenvertreter erhoffen sich, von Erbil oder Suleimanija aus den gesamten irakischen Markt bedienen zu können, werden aber zunehmend enttäuscht. Korruption und Vetternwirtschaft seien zuweilen drastischer als im Rest Iraks, beklagen diejenigen, die auch in Bagdad und Basra tätig sind. Die während des UN-Embargos verhängte Flugverbotszone über den kurdischen Provinzen hatte nicht nur den Schutz der Bevölkerung vor dem Diktator in Bagdad bewirkt, sondern auch eine fast komplette Isolation vom Rest der Welt.

So konnten sich die beiden Kurdenführer Talabani und Barzani, ihre Clans und die daraus resultierenden Parteien PUK (Patriotische Union Kurdistans) und DPK (Demokratische Partei Kurdistans) weitgehend ungehemmt bis in die unteren Schichten der Bevölkerung einnisten, alles dominieren und unter sich aufteilen. Das wirkt sich auch in der heutigen Situation noch aus, auch wenn vorübergehend eine Oppositionsbewegung namens Goran Veränderung, wie der Name übersetzt heißt, versprach.

Doch der Frühling des politischen Pluralismus in Kurdistan ist ebenso zum Herbst geworden wie die damit einhergehende Pressefreiheit. Goran ist derzeit tief zerstritten und steht vor der Spaltung. Das für die kurdische Region bestehende Pressegesetz soll verschärft werden. In einem im November vergangenen Jahres veröffentlichten Bericht der Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) über die Situation der Medien in Kurdistan heißt es: "Die überwiegende Mehrheit der Medien ist nicht unabhängig und fungiert als Sprachrohr politischer Gruppierungen, eine Zunahme von Gewalt gegen Journalisten in dem Gebiet ist festzustellen."

Verschärfung der Pressegesetze

Besorgt verfolgt ROG außerdem die derzeitige politische Diskussion, Pressegesetze zu verschärfen. Damit könnte die juristische Verfolgung von kritischen Journalisten zunehmen. Schließlich gebe es weder bei Politikern noch bei vielen Journalisten ein ausgeprägtes Verständnis für die zentrale Rolle der Medien bei der unabhängigen Meinungsbildung. Die Kritik von Reporter ohne Grenzen wiegt schwer, zumal sich die politischen Verantwortlichen der kurdischen Regionalregierung gerne damit brüsten, in ihrem Demokratisierungsprozess am weitesten fortgeschritten zu sein und oftmals den Anspruch erheben, als Vorbild für die Gesamtentwicklung des Landes zu dienen.

Wie oft Ahmed Mira schon Drohanrufe bekommen hat, kann er gar nicht mehr nachvollziehen. Zwei Mal zu Geldstrafen verurteilt und insgesamt drei Monate Gefängnis sind das Resultat seiner journalistischen Arbeit für das unabhängige Nachrichtenmagazin Lvin - Bewegung -, dessen politischer Redakteur er ist und das vierzehntägig in Suleimanija erscheint. Berichte über Korruption oder Persönliches über die Kurdenführer werden mit allen Mitteln bekämpft. Mira schrieb über den bedenklichen Gesundheitszustand des Präsidenten und musste dafür 13 Tage ins Gefängnis. Sein Reporterkollege Soran Mama Hama deckte die Verwicklung kurdischer Polizisten in einen Prostitutionsring auf und wurde vor seinem Haus erschossen. Auch "Hawlati", die mit 50.000 Exemplaren größte unabhängige Zeitschrift Kurdistans, die wöchentlich erscheint, musste bereits 35 Strafverfahren über sich ergehen lassen, die alle wegen ihrer Berichte über Korruptionsfälle angestrengt wurden.

Proteste gegen staatliche Willkür

Doch was im vergangenen Jahr im Frühjahr geschah, löste erstmalig eine Protestwelle in Sachen Pressefreiheit aus: Vor der Salahaddin-Universität in Erbil wurde ein Student der englischen Literatur entführt und wenige Tage später mit Handschellen und mehreren Kugeln im Körper tot in der Nähe von Mossul aufgefunden. Sardasht Othman war 23 Jahre alt und schrieb für die monatlich erscheinende Zeitung "Ashtiname" Geschichten über Korruption. Er hatte einen eigenen Blog und veröffentlichte auch Artikel bei der online erscheinenden "Kurdistan Post". Zum ersten Mal in der neueren Geschichte Kurdistans versammelten sich etwa 300 Studentinnen und Studenten vor dem Universitätsgebäude und protestierten gegen die Willkür der regionalstaatlichen Stellen, die sie für den Tod ihres Kommilitonen verantwortlich machten.

Othmans Ermordung konnte nicht ohne Wissen der Verantwortlichen geschehen sein, so die Argumentation der Protestierer. Beim Verlassen der kurdischen Gebiete gibt es strenge Auto- und Identitätskontrollen. Um nach Mossul zu gelangen, muss man mehrere Kontrollposten passieren. "Die Ermordung von Sardasht ist die Ermordung unserer Demokratie", hieß es auf Transparenten, die einen Schreibstift und eine Pistole als Symbole zeigten. Die kurdische Regionalregierung versprach daraufhin eine gründliche Untersuchung des Vorfalls. Man werde die Verantwortlichen vor Gericht stellen, hieß es in einer öffentlichen Erklärung.

Der Untersuchungsbericht, der im September 2010 vorgestellt wurde, gab dann erneut Anlass zu Protesten. Mit nur 430 Worten war er äußerst knapp gehalten und beschuldigte den getöteten Journalisten der Mitgliedschaft in der Terrororganisation Ansar al-Islam. Sein Mörder sei ebenfalls Mitglied gewesen und habe Othman ermordet, weil er eine ihm aufgetragene Arbeit nicht erledigt hätte. "Alle in Kurdistan halten die Ergebnisse dieser unabhängigen Untersuchungskommission für höchst fragwürdig", fasst Thomas von der Osten-Sacken die Reaktionen zusammen. Der Chef der deutsch-irakischen Nichtregierungsorganisation "Wadi" engagiert sich seit vielen Jahren für die Opfer der Anfal-Operation Ende der 1980er Jahre.

Mehr demokratische Machtkontrolle in Bagdad

So gesehen kann dem journalistischen Anspruch von Pluralismus in Bagdad mehr Genüge getan werden als in Erbil. Hier gibt es eine Opposition, deren Rolle zwar noch nicht klar definiert ist und die sich sprunghaft wandelt, aber immerhin vorhanden ist. Selbst in der jetzt nach monatelangem zähen Ringen gebildeten neuen Regierung der Einheit, die alle Kräfte und Gruppen Iraks mit einbindet, kristallisiert sich allmählich heraus, wer künftig auf wen aufpassen wird.

Als der junge Schiitenführer Muqtada as Sadr im Januar 2011 aus dem Iran in den Irak zurückkehrte und in Nadjaf seine erste Rede nach drei Jahren selbst gewähltem Exil hielt, kündigte er an, dass er und seine Anhänger ganz genau darauf achten werden, ob Nuri al Maliki seine Versprechen einhalte, die er bei seiner erneuten Ernennung zum Ministerpräsidenten gegeben habe. Nach anfänglichem Zögern und offensichtlich gutem Zureden der Iraner war as Sadr schließlich bereit, seine Stimmen - 40 Abgeordnete im Parlament - dann für al Maliki und nicht für Iyad Allawi als Premier zu geben. Letzterer hatte zwar knapp die Wahlen gewonnen, konnte aber nicht die notwendigen Mehrheiten für die Wahl zum Regierungschef sicherstellen. Nun soll Allawi eine Kontrollfunktion als Vorsitzender eines noch zu ernennenden Sicherheitsrates erhalten, eine Art inneroppositionelles Gremium.

Wie auch immer sich die neue Machtkonstellation auswirkt, schon in der letzten Amtszeit al Malikis wurde eine bestimmte demokratische Machtkontrolle sichtbar. Das Verständnis des Parlaments ist ein völlig anderes als noch zu Beginn des Demokratisierungsprozesses, als die Abgeordneten sich als Marionetten ihrer jeweiligen "Führer" darstellten. Immer häufiger werden jetzt Minister "gegrillt" und müssen Rechenschaft ablegen. In Kooperation mit den Zeitungen der Oppositionsparteien - besonders der sunnitisch dominierten "Al Mashraq" - wurden über 2000 Korruptionsverfahren angestrengt, wenngleich nur zehn Prozent zu Verurteilungen führten. Die Vorwürfe gegen einige Minister waren so schwerwiegend, dass deren Rücktritt erfolgte oder sie in Abwesenheit verurteilt wurden, falls sie noch rechtzeitig außer Landes fliehen konnten.

Allerdings ist die Kampagne gegen die grassierende Korruption auf halber Strecke stecken geblieben, als der mit dem Ministerpräsidenten befreundete Handelsminister mit mehreren Millionen Dollar in der Tasche am Flughafen in Bagdad erwischt wurde, als er das Geld außer Landes bringen wollte. Maliki hatte bei seinem Amtsantritt 2006 angekündigt, er wolle die Bekämpfung der Korruption als zweites Hauptziel nach der Verbesserung der Sicherheitslage anpeilen. Zuvor hatte Transparency International den Irak als eines der korruptesten Länder weltweit gelistet.

Trotz aller Fortschritte und Rückschritte Iraks auf dem Weg zur Demokratie darf nicht vergessen werden, dass sich das Land noch immer in einem Transformationsprozess befindet. Es findet ein Regimewechsel statt. Die alten Eliten sind teilweise ermordet oder außer Landes getrieben worden. Eine neue hat sich noch nicht herausgebildet. Vergleiche mit westlichen Demokratien sind daher unzulässig. So ist auch die Pressefreiheit ein für die Iraker völlig neues Phänomen und stellt als solches für die wenigsten einen Wert dar.

Mit der Meinungsfreiheit ist es schon anders. Das geflügelte Wort, fünf Iraker haben zehn Meinungen und die vertreten sie jetzt lautstark, reflektiert die Veränderung. Trotzdem herrscht bei vielen irakischen Journalisten nach wie vor die Haltung, dass es nur eine Wahrheit gibt, oftmals die ihre. Auf Bitten westlicher Korrespondenten an ihre irakischen Mitarbeiter, mehr als eine Meinung zu einem bestimmten Thema einzuholen, erntet man zuweilen ein betretenes Nachdenken und die Frage "Warum?".

Mehr Pluralismus durch das Radio

Diese Haltung ändert sich nur langsam, am ehesten im Radio. Das ohnehin schnellste und unkomplizierteste Medium hat eine rasante Verbreitung erfahren. Rund 80 Radiostationen gibt es derzeit allein in Bagdad und den umliegenden Provinzen. Gezählt hat sie niemand so genau. Viele von ihnen sind unabhängig und privat. Der technische und finanzielle Aufwand zum Betreiben eines Rundfunksenders ist gering, der Standort flexibel. Manchmal sind auf einer Frequenz zwei oder gar drei Sender zu hören: morgens, mittags, abends - unterschiedlich.

Beliebt sind neben den Nachrichtensendungen und dem von den Amerikanern ins Leben gerufenen Popmusiksender "Bagdad FM" vor allem Sendungen mit Hörerbeteiligung. Anfangs hatten die Moderatoren oft Schwierigkeiten, sich mit den unterschiedlichen Meinungen auseinanderzusetzen. Mittlerweile begreifen vor allem junge Journalisten den dadurch erzeugten Pluralismus jedoch durchaus als Errungenschaft. Nicht selten hört man gerade in Bagdad von jungen Irakern, dass sie stolz seien, so weit in Richtung Demokratie gekommen zu sein, angesichts der despotischen, diktatorischen Regime ringsherum.

Mehr Vielfalt - mehr Orientierungslosigkeit

Doch die noch ungewohnte Vielfalt bringt auch eine gewisse Orientierungslosigkeit, die sich auch in den Medien widerspiegelt. Vor allem Fernsehsender ändern ständig ihre Perspektiven. So hat die von der Bundesregierung finanzierte irakische Internetplattform "Niquash", die anfangs auch als Radiosender das Wahljahr 2005, in dem zwei Parlamentswahlen und das Verfassungsreferendum stattfanden, kritisch begleitete, im Mai 2008 eine Untersuchung der Fernsehberichterstattung über die Militäroperation der irakischen Regierung gegen die Schiitenmiliz Mahdi-Armee ausgewertet. Sie kam zu dem Schluss, dass vor allem die beiden sunnitischen Oppositionssender "Al-Sharqiya" und "Al-Rafidain" ein verwirrendes Bild von der Operation zeichneten und eigentlich keine klare Linie in der Berichterstattung erkennen ließen. Während ansonsten alle Handlungen der schiitischen Regierung kritisiert und verbal attackiert werden, bot nun die Tatsache, dass Schiiten gegen Schiiten in Basra operierten, ein schier unlösbares Argumentationsproblem.

Nicht viel besser erging es dem Regierungssender "Al Iraqiya", der sich ebenfalls schwer tat, die Situation differenziert darzustellen. Er vermied es bis zum Schluss, den jedem Iraker bekannten Namen der Miliz und deren Chef, Muqtada as Sadr, zu nennen, gegen welche die irakische Armee vorging. Stattdessen war von "Aufständischen" die Rede - dem Terminus, der all die Jahre zuvor für die sunnitischen Widerständler benutzt wurde.

Auch der Ausgang der blutigen Gefechte wurde verklärt. Während andere Sender und hier vor allem die arabischen Nachrichtensender "Al Arabija" und "Al Jazeera", aber auch der von den USA finanzierte Kanal "Al Hurra Iraq" ziemlich genau über Opferzahlen und die anfängliche Schlappe der irakischen Armee informierten, sang "Al Iraqiya" bis zuletzt das Loblied auf Maliki und den von ihm befohlenen Einsatz in Basra und ließ die Zuschauer im Glauben, dass die Armee ohne größeren Widerstand in die Stadt einmarschiert sei. Tatsächlich wendete sich das Blatt aber erst, als US- und britische Truppen den Irakern zu Hilfe kamen.

Journalismus am Scheideweg

Nach acht Jahren "Übungsphase" in Sachen Demokratie steht der Journalismus im Irak derzeit am Scheideweg. Der für Ende des Jahres geplante Abzug aller amerikanischen Truppen birgt auch für die Journalisten im Land eine neue Herausforderung. Das bereits gesunkene Medieninteresse am Irak in den westlichen Ländern wird weiter abnehmen, ausländische Korrespondenten werden abgezogen oder ihre Anzahl zumindest reduziert. Dadurch wird der geistige Austausch, aber auch die Weitergabe erfragter handwerklicher Tipps erschwert.

Hinzu kommt, dass die verbesserte Sicherheitslage in Bagdad und auch in den umliegenden Provinzen die Menschen nicht mehr ans Haus fesselt, wie in den zurückliegenden Terrorjahren, als Fernsehen und Radio oft die einzigen Fenster zur Außenwelt darstellten. Auch Wahlkämpfe sind großteils über die Medien abgewickelt worden. Veranstaltungen oder Straßendiskussionen waren für die ständig bedrohten Kandidaten undenkbar. Daher wurden Unsummen für Werbespots oder ganzseitige Anzeigen in den Zeitungen ausgegeben. Wer kein Geld hatte, die Medien mit seiner Botschaft zu "füttern", hatte keine Chance, gewählt zu werden.

Spezialisierung und Differenzierung

Es ist also unschwer vorauszusagen, dass in der veränderten Situation abermals eine Selektion stattfinden wird, wenn auch nicht so dramatisch wie nach dem Sturz der Diktatur. Jetzt geht es eher um die Qualität des künftigen Journalismus im Irak. Während die Medien in den vergangenen Jahren vornehmlich auf Sicherheitsberichterstattung konzentriert waren, gilt es jetzt, sich neue Felder zu erschließen. Das Dilemma, in dem die Journalisten dabei stecken, wird zurzeit auch in den meisten deutschen Medien sichtbar, die nach wie vor fast ausschließlich über Bombenanschläge und Terror berichten. Themen wie Iraks Weg zur Demokratie oder der Aufbau der Zivilgesellschaft, die Situation des Gesundheitswesens oder des Bildungssektors werden kaum angesprochen. Auch das Leben im Alltag findet so gut wie keinen Ausdruck in der deutschen Medienlandschaft.

Das liegt zum einen daran, dass es nur zwei deutschsprachige Korrespondenten gibt, die regelmäßig aus dem Irak berichten und dort ansässig sind, aber auch an den irakischen Kollegen, die für deutsche oder andere ausländische Medien vor Ort arbeiten. Da die Sicherheitslage in den vergangenen Jahren alles andere überschattete, war die Konzentration darauf nur natürlich. Schulungen und Workshops waren entsprechend ausgerichtet. Themenfelder wie Wirtschaft, Gesellschaft und Lifestyle wurden weitgehend ausgeblendet. Dies gilt für die Berichterstattung in den ausländischen wie in den inländischen Medien. Nur der Sport und hier vor allem Fußball hatte in den irakischen Medien immer einen festen Platz.

Es wird also künftig eine Spezialisierung und Differenzierung bei den Journalisten im Irak einsetzen, Experten für bestimmte Themenbereiche müssen sich herausbilden. Journalisten, die bislang über alles berichteten, werden sich auf bestimmte Themenfelder konzentrieren. Dafür brauchen sie Rat und Training. Der Austausch mit anderen, auch ausländischen Kollegen sei hier existenziell nach so vielen Jahren in einer geschlossenen Gesellschaft mit Krieg und Embargo. "Bitte geht ihr jetzt nicht auch weg", hört man irakische Journalisten derzeit vermehrt sagen.

In die Debatte um ein Pressegesetz ist in den vergangenen Wochen Bewegung geraten. Parlamentspräsident Usama al Nijaifi gab bekannt, dass die Verabschiedung ganz oben auf der Agenda der Volksvertretung in Bagdad stünde. Der Gesetzesentwurf wurde vom irakischen Journalistenverband erarbeitet. Bei einem Treffen mit dessen Vorsitzenden sagte al Nijaifi, er selbst werde sich nach Kräften dafür einsetzen, dass der Entwurf zügig verabschiedet werde. "Sie können es praktisch als verabschiedet betrachten."

Geb. 1956; freie Journalistin, arbeitet seit 2003 im Irak, zunächst für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", ab 2006 für "Die Welt", das österreichische Nachrichtenmagazin "Profil", die Zürcher "Sonntagszeitung", das "Deutschlandradio" und die "Deutsche Welle". E-Mail Link: svensson@weltreporter.net