Einleitung
Obwohl die Interpretation des "demografischen Wandels" im 20. Jahrhundert auch in vielen anderen (vornehmlich westeuropäischen) Ländern nicht immer nach rationalen Gesichtspunkten erfolgte, so war sie doch vor allem in Deutschland durch eine geradezu außergewöhnliche Dramatisierung gekennzeichnet. Die Reflexion über die möglichen Folgen jenes demografischen Veränderungsprozesses war stets überschattet von anti-malthusianischen Gefahrenszenarios und apokalyptischen Untergangsängsten. Viele Wissenschaftler, Politiker und sonstige Personen des öffentlichen Lebens machten die sinkenden Geburtenraten für die von ihnen publizistisch inszenierte "nationale Tragödie" verantwortlich und verwiesen dabei immer wieder auf die dreifache Gefahr der vermeintlichen Überalterung, Schrumpfung und letztlich gar Selbstauslöschung des deutschen Volkes. Aus diesem Grunde wurde die "demografische Transition" als ein gänzlich abnormes und nachgerade pathologisches Phänomen (also eine "Volks-Krankheit" im buchstäblichen Sinne) aufgefasst, welches es dringend zu korrigieren gelte.
Der demografische Diskurs durchlief in Deutschland vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine unheilvolle Entwicklung, die von Anfang an durch diskriminierende, segregierende und nicht zuletzt auch eliminatorische Überlegungen und Praktiken geprägt war. Seine zweifelsohne radikalste Ausprägung erreichte er innerhalb der pro- und antinatalistischen sowie genozidalen Bevölkerungspolitiken des "Dritten Reiches". Dabei markierte die angewandte Demografie während der NS-Zeit zwar den verhängnisvollen Höhepunkt, aber keineswegs das Ende der politischen Instrumentalisierung bevölkerungsstatistischer Expertisen, deren Prophezeiungen als hochgradig beängstigend erachtet wurden. Letzteres lag im Zuge einer disziplinären Selbstinstrumentalisierung zum Teil durchaus in deren Intention, um sich auf diese Weise möglichst großen Einfluss zu verschaffen.
Wie im Folgenden auf der Grundlage zeitgenössischer Quellen erörtert wird, offenbart der demografische Diskurs in Deutschland über die politischen Systemumbrüche der Jahre 1918, 1933, 1945/1949 und 1989/1990 hinweg eine gewisse Kontinuität. Daran zeigt sich, dass die "demografische Alterung" nicht nur eines der zentralen Themen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts war, sondern dass darüber hinaus im Falle Deutschlands auch von einer besonderen "demografischen Kultur" mit einem ebenso besonderen "demografischen Gefahrensinn" gesprochen werden kann, der letztlich bis heute wirkt.
"Deutschland in Gefahr" - der Diskurs zwischen 1911 und 1945
1911 ist gewissermaßen das Stichjahr für die Diskussion über die demografische Alterung in Deutschland. Es war der Gynäkologe Max Hirsch, der in jenem Jahr einen Aufsatz unter dem Titel "Der Geburtenrückgang - Etwas über seine Ursachen und die gesetzgeberischen Maßnahmen zu seiner Bekämpfung" veröffentlichte.
Den Diskurs prägten vor allem Mediziner und Rassenhygieniker, aber auch Nationalökonomen wie etwa Julius Wolf, der eines der wegweisenden Standardwerke zum Geburtenrückgang verfasste.
In seiner zu Beginn des Ersten Weltkrieges erschienenen Schrift "Ursachen und Bekämpfung des Geburtenrückgangs im Deutschen Reich" stellte der Hygieniker und Bakteriologe Max von Gruber den stetig sinkenden "Kinderertrag" - verschuldet durch eine in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung vorherrschende "Unterfrüchtigkeit" - an den Pranger.
An vorderster Front, was die bevölkerungswissenschaftliche Exploration und politische Agitation betraf, kämpfte der Bevölkerungsstatistiker Friedrich Burgdörfer.
Nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten 1933 stiegen demografische Themen in den Rang eines zentralen, gesamtgesellschaftlichen Politikums auf. Fortan wurden verschiedene bevölkerungspolitische Maßnahmen umgesetzt, die allesamt das Ziel verfolgten, die demografische Quantität und Qualität des deutschen "Volkskörpers" unter rassenhygienischen bzw. eugenischen Gesichtspunkten zu regulieren - mit verheerenden Konsequenzen für die davon Betroffenen. Dazu zählten auch ältere Menschen, die im Sinne der NS-Ideologie als Vorboten des befürchteten "Volks- und Rassetodes"
Der alte Menschheitstraum von "ewiger Jugend"
"Deutschland ohne Deutsche" - der Diskurs zwischen 1945/1949 und 1989/1990
Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der NS-Diktatur kam der Alterungsdiskurs erst inmitten des bundesdeutschen "Wirtschaftswunders" wieder in Gang. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Gründung eines Bundesministeriums für Familienfragen im Herbst 1953. Bundeskanzler Konrad Adenauer rechtfertigte dieses institutionelle Novum damit, dass "die wachsende Überalterung des deutschen Volkes"
Die inzwischen schon traditionsreiche Debatte um das Für und Wider bzw. um die Wirkmächtigkeit oder auch Wirkungslosigkeit bevölkerungspolitischer (namentlich: pronatalistischer) Maßnahmen war während Wuermelings Amtszeit aufs Neue entflammt. Als einer der ersten jener sowohl stilistisch als auch inhaltlich neonazistisch angehauchten Nachkriegspublizisten wagte sich ein gewisser Dr. Findeisen aus der Deckung: 1957 beschäftigte er sich in seinem Buch "Europa stirbt und merkt es nicht" mit der von ihm ausgemachten Gefahr des Alterungs- und Schrumpfungsprozesses der europäischen Völker - vornehmlich des deutschen Volkes. "Durch die Übervermehrung der fremdrassigen Völker wird der weiße Mensch langsam aber sicher verdrängt", so Findeisens Befürchtung. Als Gegenmaßnahme, um die "biologische Überrundung der weißen Menschen" und die "Alterskrise der europäischen Völker" zu verhindern, forderte er eine umfassende Bevlkerungspolitik.
Trotz des sogenannten Pillenknicks in der Geburtenstatistik ab Mitte der 1960er Jahre lässt sich erst wieder seit den 1980er Jahren sowohl ein größeres mediales Interesse als auch eine verstärkte Tendenz zur rhetorischen Radikalisierung in Bezug auf den (bundes-)deutschen Alterungsdiskurs konstatieren.
Ähnlich dramatisierend stellte sich der ebenfalls 1988 erschienene Sammelband "Sterben wir aus?" dar. Darin sprach sich unter anderem der Astronomie-Professor Theodor Schmidt-Kaler in einer Untersuchung der "Psychosomatik des sterbenden Volkes" vehement für "die Erhaltung des eigenen Volks- und Menschentums" aus, um den deutschen "Volksbestand" zu sichern, die "Geburtenkrise" und das "selbstverordnete demographische Absterben" zu überwinden sowie eine "Bevölkerungs-Implosion" zu verhindern. Anderenfalls müsse man allen Ernstes "das berechenbare Ende des deutschen Volkes auf dem Boden dieser Bundesrepublik" in Betracht ziehen.
Gemeinsames Charakteristikum dieser vorwiegend populärwissenschaftlichen Publikationen ist die Tatsache, dass "demographische Trends als argumentativer Kern gesellschaftlicher Krisenszenarien" benutzt wurden - und noch immer werden.
"Deutschland gegen Methusalem" - der Diskurs seit 1989/1990
Aufgrund der demografischen Veränderungen im Zuge der deutschen Wiedervereinigung richtete der Deutschen Bundestag eine Enquête-Kommission ein, die sich ausführlich mit diesem Thema auseinandersetzte.
Ohne diesen semantischen Fortschritt wäre es um die Jahrtausendwende wohl nicht zur Herausbildung eines gänzlich neuen Diskursstranges gekommen, der nun erstmals nicht nur einseitig die Gefahren und Nachteile thematisiert, sondern ergänzend dazu auch die potenziellen Chancen und Vorzüge der demografischen Alterung mit in Betracht zieht.
Der britische Ökonom Nicholas Strange war einer der ersten Autoren, die sich gegen die "Methusalem-Hysterie" wandten, indem er erklärte, "warum wir mit dem Altern unserer Bevölkerung gut leben können" und weshalb man - so der Titel seines 2006 erschienenen Buches - "keine Angst vor Methusalem" zu haben brauche.
Schirrmacher plädierte für eine gleichsam gerontokratische Verschwörung der Alten gegenüber den Jungen, um sich im Zuge des heraufziehenden Generationenkonflikts behaupten zu können. Demgegenüber hob Strange darauf ab, dass die demografische Alterung nicht notwendigerweise katastrophale Folgen haben müsse, zumal angesichts des erwartbaren Produktivitätsfortschritts sowie des ausreichenden Reservoirs an Arbeitskräften der wirtschaftliche Wohlstand auch in Zukunft nicht gefährdet sei.
In geradezu paradigmatischer Weise repräsentieren diese beiden Autoren mit ihren Büchern das für den deutschen Alterungsdiskurs des frühen 21. Jahrhunderts charakteristische Hin- und Herschwanken zwischen zwei Extrempositionen: resignative Schicksalsergebenheit einerseits und tatkräftiger Gestaltungswille andererseits. Ungeachtet dieser Ambivalenz bleibt festzuhalten, dass der diskursive Schwerpunkt nach wie vor eindeutig auf den "Gefahren" des demografischen Wandels liegt - vorrangig im Bereich der staatlichen Wohlfahrtspolitik. Die letztgenannte Sichtweise offenbarte sich auch 2003 in einer Rede des damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering: "Wir Sozialdemokraten haben in der Vergangenheit die drohende Überalterung unserer Gesellschaft verschlafen. Jetzt sind wir aufgewacht. Unsere Antwort heißt: Agenda 2010! Die Demografie macht den Umbau unserer Sozialsysteme zwingend notwendig."
Aus dem deutschen Demografie-Diskurs gar nicht mehr wegzudenken ist zudem die allgemein geläufige, schon in der Weimarer Republik durch Burgdörfer in Umlauf gebrachte grafische Illustration des demografischen Wandels in Gestalt einer urnenförmigen (sh. Abbildung 2 in der PDF-Version) oder auf dem Kopf stehenden Alterspyramide.
Schlussbetrachtung
Aus gutem Grund vertritt die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim die These, dass "die aktuelle Dramatisierung des Geburtenrückgangs wesentlich ein Medienereignis" sei, bei dem aufgrund der täglichen "Konkurrenz um Aufmerksamkeit, Schlagzeilen, Verkaufszahlen" altbekannte Fakten als brandneue Sensationsmeldungen verkauft werden sollen. Zurecht weist sie auch darauf hin, dass sich geschichtskundige Zeitgenossen durchaus darüber im Klaren seien, dass es "ähnliche Debatten (...) auch schon früher gegeben" habe.
Folglich hält sich der tatsächliche Neuigkeitswert der meisten medienwirksam gestalteten demografischen Prognosen und Prophezeiungen in Grenzen. Immerhin kann das Unbehagen gegenüber demografischen Veränderungsprozessen vor allem in Deutschland auf eine ebenso lange wie wechselvolle Tradition zurückblicken. Und deshalb steht auch zu vermuten, dass der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin, der mit seinem bevölkerungspolitisch argumentierenden Buch "Deutschland schafft sich ab" 2010 binnen weniger Tage einen vieldiskutierten Bestseller landete, welcher 2011 sogar zum auflagenstärksten Sachbuch nach 1945 avancierte, nicht der letzte Erbwalter dieser bedenklichen "nationalen Tradition" bleiben wird.
Somit wird auch künftig die gefährliche Nähe von Demografie und Demagogie - gerade im Zeitalter der (massen)medialen Demokratie - sicherlich allenthalben zu beobachten sein. Die schier unerschütterliche Persistenz jenes "apokalyptischen Bevölkerungsdiskurses" ist in gewisser Weise "ein ewigwährender Untergang".