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Demografischer Wandel Editorial Eine neue Kultur des Wandels - Essay Demografiepolitik - gestalten oder verwalten? Ökonomische Auswirkungen des demografischen Wandels Wo bleiben die Kinder? Der niedrigen Geburtenrate auf der Spur Demografischer Wandel und Migration als Megatrends Alterungsangst und Todesgefahr - der deutsche Demografie-Diskurs (1911-2011)

Demografischer Wandel und Migration als Megatrends

Hans Dietrich von Loeffelholz

/ 14 Minuten zu lesen

Die Bevölkerung in Deutschland wird sich bis 2060 auf 77 bis 62 Millionen Einwohner verringern. Um einen Fachkräftemangel zu vermeiden, müssten jährlich 27000 gut ausgebildete Menschen einwandern.

Einleitung

Demografische Veränderungen und länderübergreifende Wanderungsbewegungen werden heute nicht nur national, sondern auch international verstärkt von Politik und Wissenschaft thematisiert und vergleichend analysiert. Natürliche und räumliche Bevölkerungsbewegungen werden immer mehr als zwei Seiten einer Medaille begriffen, die aufs Engste mit gesellschaftlichen, insbesondere ökonomischen Faktoren verbunden sind und die politische Bedeutung von Ländern, Regionen und Kontinenten im globalisierten 21. Jahrhundert spürbar beeinflussen.

Wichtige Auslöser für räumliche Bevölkerungsbewegungen sind politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche push- und pull-Faktoren in den Herkunfts- und Zielländern. Darunter genießen jeweils das Rechtssystem, das Regierungshandeln, die Verfassung sowie der Arbeitsmarkt, die soziale Sicherung und die materielle wie die immaterielle Infrastruktur (etwa im Bildungs- oder Gesundheitsbereich) besondere Aufmerksamkeit. Davon werden wiederum das Geburtenverhalten, der Gesundheitszustand und die Lebenserwartung der Bevölkerung beeinflusst.

Mit Blick auf diesen Kontext wird die Migrationspolitik etwa seit Beginn des vergangenen Jahrzehnts zu einer demo-ökonomischen Handlungsoption akzentuiert - nicht nur hierzulande, sondern auch in vielen anderen hoch entwickelten Industrieländern. Im globalen Wettbewerb richtet die Migrationspolitik ihre Steuerungsakzente explizit wie implizit nicht nur nach ökonomischen Kriterien aus, sondern eben gerade auch im Hinblick darauf, inwieweit die Zuwanderung demografischen Anforderungen entsprechen kann. Deutlich kommt dies im Begriff managing migration zum Ausdruck, indem mit der Gewinnung von "the best and the brightest" nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch demografischen Aspekten Rechnung getragen wird.

Der Autor dankt Dipl.-Volkswirtin Barbara Heß, Dipl.-Demograf Martin Kohls, ROAR Elmar Kuhnigk, Dipl.-Volkswirt Waldemar Lukas sowie Maria Wagner für kritische Kommentare, weiterführende Anmerkungen und redaktionelle Hinweise.

Demografie und Migration

Migration auf der einen Seite und Demografie auf der anderen haben sich weltweit zu sogenannten Megatrends entwickelt, die zunehmend in das Blickfeld politischer Entscheidungsträger rücken. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) stellt regelmäßig die Bedeutung der Migration für die Entwicklung in den Industrieländern heraus. Die Global Commission on International Migration (GCIM) weist in ihrem Bericht von 2005 an die Vereinten Nationen (UN) darauf hin, dass weltweit etwa 190 Millionen Menschen über internationale Grenzen hinweg unterwegs seien, was einer Verdoppelung dieser internationalen Wanderungen innerhalb der vergangenen drei Jahrzehnte entspricht.

Stellt man diese Angaben in Relation zur Weltbevölkerung (6,9 Milliarden Menschen), so beträgt die globale Migrationsquote knapp drei Prozent; sie ist über längere Frist weitgehend stabil - allerdings mit erheblichen Strukturveränderungen, was die Richtung und auch die Ursachen für die jeweiligen Wanderungen nach dem Ende des "Kalten Kriegs" angeht: Migration erfolgt heute weniger in Ost-West-, als in Süd-Nord-Richtung und sowohl innerhalb der nördlichen wie der südlichen Halbkugel. Die nationale Migrationspolitik der Zielländer versucht heute stärker als in der Vergangenheit, die Migration zu begrenzen und nach den ökonomischen, insbesondere arbeitsmarktspezifischen Erfordernissen, aber auch nach den demografischen Bedarfen des jeweiligen Landes zu steuern.

Wenn indes Mitte dieses Jahrhunderts nach den Projektionen der UN je nach den Varianten und demografischen Annahmen zwischen fast acht und mehr als elf Milliarden Menschen auf der Erde leben, werden bei unveränderter Migrationsquote zwischen 240 und 330 Millionen Personen nicht in ihrem Geburtsland leben. Inwieweit es sich dabei neben Arbeits-, Familien- oder Bildungsmigranten auch um Umwelt- oder Bürgerkriegsflüchtlinge handeln wird, inwieweit sie im Rahmen der jeweiligen rechtlichen Regelungen oder irregulär zuwandern und auf welche Länder, Regionen oder Kontinente sie sich verteilen werden, ist von den genannten push- und pull-Faktoren abhängig.

Während Wanderungen erst seit Ende des Ost-West-Konflikts in den 1990er Jahren (wieder) mehr ins öffentliche Bewusstsein traten, wurden demografische Entwicklungen und Implikationen, insbesondere niedrige Geburtenraten und Alterung der Bevölkerung in den Industrieländern, national wie international, schon seit Mitte der 1970er Jahre von der Wissenschaft als Megatrends erkannt, analysiert und in die politische Debatte eingebracht. In Deutschland legte eine entsprechende Enquêtekommission des Deutschen Bundestages zwischen 1994 und 2002 diesbezügliche Berichte vor.

Die Ergebnisse, die schon damals auf die längerfristig bevorstehende Schrumpfung und Alterung der hiesigen Bevölkerung hinwiesen, sind allerdings in Folge der Wiedervereinigung und der massiven Aussiedler- und Asylzuwanderungen zu dieser Zeit zunächst in den Hintergrund gedrängt worden. Politische Reaktionen auf nachhaltige demografische Veränderungen gab es erst Mitte des vergangenen Jahrzehnts durch Maßnahmen zur Verlängerung der Erwerbsphase. Diese folgt der steigenden Lebenserwartung, die mit einer seit über drei Jahrzehnten niedrigen Geburtenhäufigkeit einhergeht. Hält diese Entwicklung, wie allgemein erwartet wird, weiter an, wird die Zahl der Einwohner hierzulande nach den aktuellen Bevölkerungsvorausberechnungen von 82 Millionen am Ende des Jahres 2008 auf eine Spannbreite zwischen 62 und 77 Millionen im Jahr 2060 zurückgehen. Dieser Trend verläuft ebenso wie in anderen Ländern der Europäischen Union (EU) wie etwa in Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien, aber anders jedoch als in Frankreich, Großbritannien und in ganz Skandinavien, wo die jeweiligen Bevölkerungen zunehmen werden.

Nach den aktuellen Eurostat-Projektionen auf Basis der entscheidenden demografischen Variablen (Geburtenhäufigkeit, Lebenserwartung und (Netto-)Zuwanderung) - also ohne Berücksichtigung politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Anpassungsreaktionen - wird Deutschland im Jahr 2060 nicht mehr das Land mit der größten Bevölkerung in der (heutigen) EU-27 sein. Damit ist eine erhebliche und politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich höchst relevante Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung verbunden: Während heute 100 Personen im erwerbsfähigen Alter (20 bis 65 Jahre) 33 Ruheständler (Personen über 65 Jahre) gegenüberstehen, verdoppelt sich der Anteil der über 65-Jährigen bis 2060. Das Medianalter, das genau zwischen der jüngeren und der älteren Hälfte der Bevölkerung liegt, steigt bis 2050 von 43 Jahren (2008) auf 52 Jahre.

Zuwanderungen nach Deutschland

Vor diesem Hintergrund interessiert die dem Auf und Ab der Konjunktur seit Mitte der 1950er Jahre folgende und aus unterschiedlichen Anlässen (Flucht, Asyl, Arbeitsaufnahme, Familienzusammenführung oder Bildung) mehr oder weniger ausgeprägte Migration nach Deutschland. Diese erhöhte den Bestand an Ausländern in Deutschland von 506000 Personen im Jahr 1951 bis auf den Höchststand von fast 7,4 Millionen im Jahr 1997, was einem Bevölkerungsanteil von etwa neun Prozent entsprach. Bis 2009 gab die Zahl auf etwas mehr als 7,1 Millionen nach, der Bevölkerungsanteil fiel damit auf 8,7 Prozent.

Zusätzlich zu diesen Personen mit einem ausländischen Pass leben in Deutschland 8,4 Millionen Deutsche mit Migrationshintergrund, also zusammen fast 16 Millionen mit einem solchen Hintergrund, was etwa einem Fünftel der Gesamtbevölkerung entspricht. Dieser Bevölkerungsanteil wird zukünftig noch zunehmen. Die Gesellschaft wird also nicht nur älter und zahlenmäßig kleiner, sondern immer "bunter", auch wenn in Zukunft die tatsächliche Migration auf Dauer vergleichsweise niedrig bleibt.

Die Niveau- und Strukturveränderungen gelten naturgemäß auch in Bezug auf die Erwerbstätigen und Arbeitslosen sowie die sogenannte Stille Reserve, also für das zivile Erwerbspersonenpotenzial. Kann indes Deutschland in Zukunft entgegen den in den veröffentlichten Vorausberechnungen bzw. Abschätzungen und Projektionen vorgenommenen Wanderungsannahmen wie seit 2004 nur wenige Migrantinnen und Migranten auf Dauer gewinnen, sinkt die Bevölkerungszahl und das Erwerbspersonenpotential in Richtung der unteren Bandbreite der Schätzungen. In welchem Ausmaß diese Einwohnerinnen und Einwohner tatsächlich als effektives Arbeitsangebot zur Verfügung stehen und erwerbstätig sind, ist dann von einer Vielzahl von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen sowie allfälligen Anpassungsmechanismen abhängig.

Jedenfalls bedeutet eine geringe (Netto-)Zuwanderung nach Deutschland, dass zum Ausgleich der demografisch bedingt weiter abnehmenden Zahl der jüngeren Personen bei zunehmender Zahl der älteren die Anforderungen an alle Altersgruppen steigen, soll der individuelle Lebensstandard aufrechterhalten werden. Der dazu erforderliche Einsatz und die damit verbundenen privaten und öffentlichen Investitionen müssten auf allen Ebenen massiv gesteigert werden. Dies gilt umso mehr, wenn Deutschland mit einer Netto-Abwanderung konfrontiert ist.

Zusätzliche Anstrengungen erscheinen umso dringlicher, als die EU-Osterweiterung im Mai 2004 kaum zu zusätzlicher Zuwanderung nach Deutschland geführt hat. Auch die am 1. Mai 2011 auslaufenden Übergangsbestimmungen zur Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für die damals der EU beigetretenen ost- und südosteuropäischen Mitgliedstaaten lässt kaum einen "Ansturm" bzw. eine Konzentration der Migrationsbewegungen auf Deutschland erwarten.

In einer aktuellen Publikation thematisiert die Bundesagentur für Arbeit (BA) die Perspektive 2025 und nennt zehn Handlungsfelder, um eine nachhaltige und sichere Versorgung der deutschen Wirtschaft mit Fachkräften zu erreichen. Neben den neun internen Optionen, wie zum Beispiel Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren und steuerrechtlichen Anpassungen, wird eine Steuerung der Zuwanderung zur Gewinnung von 400000 bis 800000 Fachkräften aus dem Nicht-EU-Ausland ("Drittstaaten") in den nächsten 15 Jahren, also jahresdurchschnittlich 27000 bis 54000 Personen, gefordert. 2009 sind allerdings nur 17000 Fachkräfte gekommen. Zur Steigerung könnte Deutschland nach dem Vorbild klassischer Einwanderungsländer ein Punktesystem einführen, das sich - als transparentes Modell - am ausländischen Fachkräfteangebot orientiert, demografischen Anforderungen wie das in Kanada praktizierte entspricht und als Signal des Willkommens verstanden werden könnte. Im Jahreswirtschaftbericht 2011 betont die Bunderegierung, dass der Zugang von ausländischen Hochqualifizierten und Fachkräften zum deutschen Arbeitsmarkt systematisch an den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktes ausgerichtet und nach zusammenhängenden, klaren, transparenten und gewichteten Kriterien wie Bedarf, Qualifizierung und Integrationsfähigkeit gestaltet werden muss.

Der Gewinnung qualifizierter Zuwanderungen und um sich auf den globalen Wettbewerb um junge Migrantinnen und Migranten einzulassen, dient die managed migration zur Anwerbung hoch und gut qualifizierter Arbeitskräfte einschließlich vielversprechender Unternehmer und Selbständiger aus dem Ausland. Dies sind wichtige Stichworte der nationalen und internationalen Debatte über moderne Migrationsregime. In Europa bzw. der EU versuchen die Staaten zunehmend, die Migration in ihre Länder jeweils nach ihren ökonomischen Bedarfen, insbesondere nach dem zukünftigen Bedarf ihrer demografisch tendenziell schrumpfenden Arbeitsmärkte zu beeinflussen; das beginnt schon mit der Gewinnung von ausländischen Studentinnen und Studenten sowie Auszubildenden und reicht über die Adressierung (hoch-)qualifizierter Arbeitskräfte, Hochqualifizierter und Rückkehrer aus dem Ausland bis zur Reduzierung von Abwanderungen.

Steuerung der Migration

Hierzulande begann eine derartige Migrationspolitik, die freilich anders als in der Vergangenheit mit Blick auf die sich verändernde sektorale Produktionsstruktur der Wirtschaft mehr auf kognitive als auf physische Fähigkeiten setzt (brain statt brawn), mit der Green-Card-Initiative der Bundesregierung im März 2000. Mit der Anwerbung von ausländischen IT- und Kommunikationsexperten wurde ein Prozess in Gang gesetzt, der 2004 zur Inkraftsetzung des Zuwanderungsgesetzes führte. Dieses begrenzt und steuert per Aufenthaltsgesetz seit Anfang 2005 unter Aufrechterhaltung des seit 1973 geltenden Anwerbestopps für ausländische Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten die Arbeitsmigration nach Deutschland insbesondere nach seinen jeweiligen wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen. Wegen der aktuellen und noch anstehenden Erweiterungen der EU um die ost- und südosteuropäischen Beitrittsländer bzw. -kandidaten kann sich diese Steuerung naturgemäß nur noch auf Migrationen aus immer weiter entfernt liegenden Staaten und Regionen in Europa, Asien und Afrika beziehen.

Mit dem sogenannten Richtlinienumsetzungsgesetz, das Ende August 2007 in Kraft trat, wurde neben der Erleichterung des Zuzugs von Selbständigen eine Vereinfachung des Zulassungsverfahrens für Forscher aus Drittstaaten eingeführt. Fast gleichzeitig wurden Erleichterungen beim Zuzug von Bewerbern aus den neuen EU-Mitgliedstaaten mit Ingenieurberufen in den Fachrichtungen Maschinen-, Fahrzeugbau und Elektrotechnik sowie beim Zugang ausländischer Absolventen deutscher Hochschulen zum Arbeitsmarkt beschlossen (durch Verzicht auf individuelle Vorrangprüfung ). Im Sommer 2008 wurde von der Bundesregierung ein Aktionsprogramm unter dem Titel "Beitrag der Arbeitsmigration zur Sicherung der Fachkräftebasis in Deutschland" vorgelegt. Es sieht eine Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Hochqualifizierte vor, damit absehbare Engpässe am Arbeitsmarkt möglichst verhindert werden und angesichts der oben skizzierten demografischen Schrumpfung des Erwerbspersonenpotenzials schon jetzt Vorsorge getroffen werden kann. Die gesetzlichen Grundlagen dafür wurden mit dem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz ab Beginn des Jahres 2009 gelegt.

Knapp ein halbes Jahr nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes wurde im Juni 2009 die EU-Richtlinie über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung verkündet. Diese legt gemeinsame Mindeststandards für die Aufnahme von drittstaatsangehörigen Fachkräften in den Mitgliedstaaten fest, die eine sogenannte Blue Card erhalten (nach der Farbe der Europafahne). Um in den Besitz einer solchen zu kommen, muss der Antragsteller einen Arbeitsvertrag und einen Arbeitsplatz in der EU nachweisen und über eine qualifizierte Berufsausbildung verfügen. Die Höhe des Gehalts muss dem 1,5-Fachen des Brutto-Durchschnittsgehalts im Aufnahmestaat entsprechen. Für Berufssparten, in denen ein besonderer Bedarf an Arbeitskräften besteht, kann diese Schwelle auf das 1,2-Fache des Brutto-Durchschnittsgehalts gesenkt werden.

Mit der "Blauen Karte EU" wird ab Mitte 2011 eine weitere Option zur Verfügung stehen. Es bleibt abzuwarten, wann zusätzliche "sektorale" Richtlinien zur Steuerung zukünftiger Zuwanderungen im Unternehmensbereich vom Europäischen Rat beschlossen und in die nationalen Gesetzeswerke umgesetzt werden. Jedenfalls sind 2009 zusätzlich zu den genannten 17000 Fachkräften rund 12000 Hochschulabsolventen und Akademiker oder leitende Angestellte, gut 4400 Mitarbeiter internationaler Unternehmen, 140 Forscher und 169 Hochqualifizierte nach Deutschland zur Arbeitsaufnahme eingereist. Zusammengenommen sind dies etwa so viele Personen wie unter den deutschen Staatsbürgern in diesem Jahr aus Deutschland im Saldo weggezogen sind.

Schlussfolgerungen

Die Megatrends der Alterung, Schrumpfung und zunehmenden Diversität der Bevölkerung nicht nur hierzulande, sondern europaweit auf der einen Seite und der absolut zunehmenden Zahl der internationalen Migrantinnen und Migranten auf der anderen Seite, werden sich verstärken. Dies beinhaltet in der durch die anhaltende Globalisierung "flachen Welt" mehr Chancen, Alternativen und Optionen für den Einzelnen und für die Politik, aber auch mehr Wettbewerb und Risiken.

Die Steuerungsansätze sind in Deutschland bzw. Europa deutlich auf die Gewinnung von mehr (hoch-)qualifizierten und ambitionierten Zuwanderinnen und Zuwanderern gerichtet. Dies kann aber nur erreicht werden, wenn eine umfassende Anerkennungs- und Willkommenskultur für diese auch in den klassischen Einwanderungsländern aus wirtschaftlichen und demografischen Gründen begehrten Fachleute mit ihren Familien etabliert wird. Dies gilt umso mehr, als die Angesprochenen hochmobil sind und ihr Zuzug keine endgültige Einwanderung bedeuten muss, sondern Teil ihrer europa- bzw. weltweiten Mobilität und ihrer temporären Karriereplanung darstellen kann.

Die genannte Bedingung erscheint notwendig, aber nicht hinreichend. Hinzu kommen muss für eine ganzheitliche Migrations- und Integrationspolitik, dass auch der jeweilige Ehegatte bzw. Lebenspartner die sozioökonomischen Möglichkeiten des Zuwanderungslandes ausschöpfen kann und nicht auf bürokratische und gesellschaftliche Hindernisse bei der Realisierung des Lebensentwurfs stößt, und schließlich dass eine umfassende Informationskampagne gestartet wird. Damit sollten die Zuwanderinnen und Zuwanderer schon vor und nach ihrer Einreise zusammen mit ihren Familien stärker beraten und informiert werden. Dazu wäre eine bundesweite, zentrale Informations- und Anlaufstelle auf Dauer einzurichten, die sie durch das föderal geprägte Geflecht von Zuständigkeiten, Ansprechpartnern und für sie relevanten Institutionen lotsen kann.

Mit der Erfüllung dieser Voraussetzungen können Migration und Integration nicht nur demografischen Anforderungen in Deutschland und in der EU entsprechen. Sie können auch die zunehmenden sozioökonomischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Megatrends abfedern helfen. Bei dieser Aufgabe sind freilich gerade auch andere Politikbereiche gefordert, wie die Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Finanz- und Familienpolitik. In ihrer konsistenten Praxis liegt aber auch die Chance der Beeinflussung der Megatrends nach den eigenen Präferenzen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. German Marshall Fund of the United States, Bellagio Dialogue on Migration, Washington, DC 2007, S. 5, wo unter dem Stichwort der gesteuerten Migration als "Human Capital Mercantilism" auf die Gefahr einer Verschärfung von Entwicklungsunterschieden zwischen den Entwicklungs- und den Industrieländern hingewiesen wird. Zur Quantifizierung der "Nebeneffekte" Wachstum und Verjüngung der Bevölkerung durch Migration vgl. Martin Kohls, Migration und der Einfluss auf die Bevölkerungsstruktur, in: Sozialwissenschaften und Berufspraxis, (2008) 2, S. 237-249.

  2. Vgl. Philip Martin/Hans Dietrich von Loeffelholz/Thomas Straubhaar, Managing Migration for Economic Growth. Germany and the United States in Comparative Perspective, AIGCS Policy Report, (2002) 1.

  3. Vgl. ausführlicher Hans Dietrich von Loeffelholz, Migration und demographischer Wandel aus ökonomischer Perspektive, in: Stefan Luft/Peter Schimany (Hrsg.), Integration von Zuwanderern. Erfahrungen, Konzepte, Perspektiven, Bielefeld 2010, S. 211-242; mit Betonung auf die ostdeutschen Länder und im konjunkturellen Kontext: ders., Demografischer Wandel und Migration - Erfahrungen, Perspektiven und Optionen zu ihrer Steuerung, in: Ullrich Heilemann (Hrsg.), Demografischer Wandel in Deutschland. Befunde und Reaktionen, Volkswirtschaftliche Schriften 559, Berlin 2010, S. 93-127.

  4. Vgl. OECD, International Migration Outlook: SOPEMI 2009, Paris 2009.

  5. Vgl. Global Commission on International Migration (GCIM), Migration in einer interdependenten Welt: Neue Handlungsprinzipien, Nürnberg 2005.

  6. Nicht berücksichtigt sind dabei die landesinternen Migrantinnen und Migranten, die zum Beispiel von Nord- nach Süd-China als Arbeitskräfte zuwandern oder in östlicher Richtung in die Megastädte an der Ostküste ziehen.

  7. Vgl. auch Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hrsg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn-München 2007. Die mit den internationalen Wanderungen verbundenen Rücküberweisungen, durch welche die Migranten Gelder, die sie im Zielland verdient haben, der im Herkunftsland verbliebenen Familie zukommen lassen, spielen für Entwicklungsländer als staatliche Devisen- und vor allem als private Einkommensquelle eine deutlich größere Rolle als Zuwendungen im Rahmen der Entwicklungshilfe. Die Summe der globalen Rücküberweisungen - nach einer Schätzung der Weltbank im Jahr 2007 in Höhe von 240 Milliarden US-Dollar - entspricht dem Dreifachen der offiziellen Entwicklungshilfe der OECD-Länder. Seit 1990 haben sich die weltweiten Rücküberweisungen verdreifacht, in die Entwicklungsländer sogar mehr als verfünffacht. Die über informelle Kanäle außerhalb des Bankensystems transferierten Gelder schätzt die Weltbank als noch höher ein.

  8. Vgl. United Nations, World Population Prospects. 2008 Revision, New York 2009.

  9. Zur Abschätzung des Süd-Nord-Migrationspotenzials vgl. Susanne Schmid unter Mitarbeit von Kevin Borchers, Vor den Toren Europas? Das Potenzial der Migration aus Afrika, BAMF-Forschungsbericht 7, Nürnberg 2010.

  10. Vgl. Thomas J. Espenshade/William J. Serow, The Economic Consequences of Slowing Population Growth, New York u.a. 1978.

  11. Vgl. Deutscher Bundestag, Enquêtekommission "Demographischer Wandel - Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik", Zwischenbericht vom 14.6.1994 (Drucksache 12/7876) und Endbericht vom 28.3.2002 (Drucksache 14/8800).

  12. Die seit 1992 umgesetzten Rentenreformen erfolgten auch schon unter dem Eindruck der sich verschiebenden Relationen zwischen aktiver und inaktiver Generation.

  13. Vgl. Peter Schimany, Migration und demographischer Wandel. BAMF-Forschungsbericht 5, Nürnberg 2007.

  14. Vgl. zu den Optionen und Anpassungserfordernissen: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Die Auswirkungen der demographischen Alterung in der EU bewältigen (Bericht über die demographische Alterung 2009), KOM(2009) 180 endgültig, Brüssel 29.4.2009.

  15. Vgl. Eurostat, Europe in figures. Eurostat yearbook 2010, Luxembourg 2010, S. 163. Demnach wird Frankreich 72 Millionen und Großbritannien sogar 77 Millionen Einwohner aufweisen.

  16. Vgl. P. Schimany (Anm. 13), S. 134.

  17. Im Einzelnen vgl. H.D. von Loeffelholz (Anm. 3) S. 120ff.

  18. Vgl. Bundesministerium des Innern und BAMF, Migrationsbericht 2009, Nürnberg 2011, S. 227. Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich nach Angaben der OECD etwa im Mittelfeld. Vgl. OECD, Society at a Glance. OECD Social Indicators, Paris 2009, S. 67. Nach Angaben des Ausländerzentralregisters lebten in 2009 in Deutschland knapp 6,7 Millionen Ausländer, was einem Anteil von 8,2 Prozent entspricht.

  19. Das sind nach der amtlichen Definition alle seit 1949 auf das heutige Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer sowie alle in Deutschland als Deutsche Geborene mit mindestens einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil.

  20. Derzeit leben zwischen 3,8 und 4,2 Millionen Muslime in Deutschland, was einem Bevölkerungsanteil von rund fünf Prozent entspricht. Dieser Anteil wird nach den neuesten Abschätzungen des Pew Forum on Religion & Public Life bis 2030 auf sieben Prozent bzw. 5,5 Millionen Personen anwachsen. Vgl. Sonja Haug/Stephanie Müssig/Anja Stichs, Muslimisches Leben in Deutschland. BAMF-Forschungsbericht 6, Nürnberg 2009, S. 53ff; Pew Forum on Religion & Public Life, The Future of the Global Muslim Population, Washington, DC Januar 2011. Zur europa- und weltweiten Entwicklung vgl. auch Islam and demography: A waxing crescent, in: The Economist vom 27.1.2011, S. 54.

  21. Vgl. Johann Fuchs, Demografische Effekte auf das Erwerbspersonenpotenzial. Vortrag auf der "Fachkräftekonferenz" im Rahmen der Reihe "Wissenschaft trifft Praxis", Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Nürnberg, 29./30.4.2008; Johann Fuchs/Gerd Zika, Arbeitsmarktbilanz bis 2025: Demografie gibt die Richtung vor, IAB-Kurzbericht, (2010) 2.

  22. Vgl. Axel Börsch-Supan/Christina B. Wilke, Zur mittel- und langfristigen Entwicklung der Erwerbstätigkeit in Deutschland, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, (2009) 1, S. 25-48. Siehe auch den Beitrag von Axel Börsch-Supan in diesem Heft.

  23. Vgl. Timo Baas/Herbert Brücker, Wirkungen der Zuwanderungen aus den neuen mittel- und osteuropäischen EU-Staaten auf Arbeitsmarkt und Gesamtwirtschaft. Expertise im Auftrag des Gesprächskreises Migration und Integration der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2010. Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist in seinem Jahresgutachten 2010/2011 (Tz 489 bis 498) mehrheitlich der Ansicht, dass sich die Auswirkungen der Freizügigkeit auf den Arbeitsmarkt in Grenzen halten werden.

  24. Vgl. BA, Perspektive 2025: Fachkräfte für Deutschland, Nürnberg 2011, S. 36.

  25. Die Antwort auf die Finanzierung der zusätzlich erforderlichen privaten und öffentlichen Investitionen bzw. der steuerpolitischen Einnahmenverzichte zur Erreichung der Zielsetzungen bleibt die BA allerdings schuldig.

  26. Vgl. BA (Anm. 24).

  27. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Technologie, Jahreswirtschaftsbericht 2011. Deutschland im Aufschwung - den Wohlstand von morgen sichern, Berlin 2011, S. 17.

  28. Individuelle Vorrangprüfung: Verfahren, in dem ermittelt wird, ob bei der Besetzung eines bestimmten Arbeitsplatzes mit einem (ausländischen) Bewerber ein bevorrechtigter (deutscher oder EU-) Bewerber benachteiligt würde.

  29. Richtlinie 2009/50/EG des Europäischen Rates vom 25.5.2009.

  30. Vgl. Thomas Friedman, The World is Flat. The Globalized World in the Twenty-First Century, London 2006.

  31. Vgl. Hans Dietrich von Loeffelholz, Die europäische Dimension: Brain Gain durch Blue Card?, in: Litwina Meyer (Hrsg.), Brain Gain für alle? Migration als Entwicklung - Praktische und politische Handlungserfordernisse, Loccumer Protokolle 03/08, Rehburg-Loccum 2009.

Dr. rer. pol., geb. 1947; Leiter der wirtschaftswissenschaftlichen Migrations- und Integrationsforschung im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Nürnberg; Lehrbeauftragter der Ludwig-Maximilians-Universität München; BAMF, Frankenstraße 210, 90461 Nürnberg. E-Mail Link: dr.hans-dietrich.loeffelholz@bamf.bund.de