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Wo bleiben die Kinder? Der niedrigen Geburtenrate auf der Spur

Jürgen Dorbritz Norbert F. Schneider Jürgen Dorbritz Norbert F. Schneider /

/ 16 Minuten zu lesen

Seit den 1970er Jahren gehört Deutschland zu den Ländern mit dem weltweit niedrigsten Geburtenniveau. Dabei gibt es in den Fertilitätsmustern noch große Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland.

Einleitung

Deutschland ist ein Niedrig-Fertilitäts-Land. Seit Mitte der 1970er Jahre gehört es zu den Ländern mit dem weltweit niedrigsten Geburtenniveau. Zwar gibt es in Europa mehrere Länder, die zeitweise eine niedrigere Geburtenrate aufgewiesen haben, zum Beispiel Italien, aber deren Geburtenraten sind inzwischen wieder merklich angestiegen. In Deutschland dagegen ist das Geburtenniveau seit nunmehr fast vierzig Jahren stabil sehr niedrig. Die deutsche Fertilitätssituation ist in jüngster Zeit verstärkt in die Diskussion geraten.

Drei Aspekte spielen dabei im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs eine besondere Rolle: Das konstant niedrige Geburtenniveau hat das Altern der Bevölkerung maßgeblich forciert und eine Debatte über die Sicherheit der sozialen Sicherungssysteme unter den Bedingungen des voranschreitenden demografischen Wandels ausgelöst. Immer wieder geraten dabei die Kinderlosen ins Blickfeld, denen vorgeworfen wird, durch ihr Verhalten keinen Beitrag zur Zukunftssicherung unserer Gesellschaft zu leisten. Daneben sind unter dem Eindruck des Schrumpfens und Alterns der Bevölkerung verstärkt Fragen nach den Ursachen der spezifischen deutschen Fertilitätssituation sowie nach der politischen Beeinflussbarkeit des generativen Verhaltens aufgeworfen worden. Schließlich wird zunehmend die Bedeutung des Wandels der Familie für die niedrigen Geburtenraten thematisiert.

Während lange Zeit unterstellt wurde, dass wirtschaftliche und infrastrukturelle Faktoren einen besonderen Einfluss auf das Gebärverhalten haben, wird mittlerweile davon ausgegangen, dass auch soziale und kulturelle Faktoren eine wichtige Rolle spielen, indem sie das Denken und Handeln der Menschen beeinflussen und maßgeblich dazu beitragen, wie die Infrastruktur, etwa im Hinblick auf die öffentliche Kinderbetreuung, beschaffen ist.

Der niedrigen Geburtenrate auf der Spur zu sein, ist nicht nur wissenschaftlich von Interesse. Es geht auch darum, über die bessere Kenntnis des Geburtengeschehens Strategieoptionen zur zukünftigen Steuerung des demografischen Wandels zu entwickeln. Eine Veränderung des generativen Verhaltens ist einer der möglichen Wege, die weitere demografische Entwicklung zu beeinflussen und die Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung mittelfristig abzumildern.

Generatives Verhalten im internationalen Vergleich

In Europa bestehen gegenwärtig, gemessen an der zusammengefassten Geburtenziffer (total fertility rate, TFR), deutliche Fertilitätsunterschiede. Die Spanne reicht von 1,31 Kindern je Frau in Lettland bis 2,23 in Island. Deutschland rangiert mit einer für die Jahre 2005 bis 2010 gemittelten Geburtenziffer von 1,32 weltweit auf dem zehnten Platz der Länder mit der niedrigsten Geburtenziffer. Noch niedriger sind die Ziffern unter anderem in Südkorea (1,22), Japan (1,27), Weißrussland (1,28) und der Ukraine (1,31). Beim gegenwärtigen Geburtenniveau in Deutschland ist die Kindergeneration um ein Drittel kleiner als die Elterngeneration. Erstmals seit geraumer Zeit ist in Europa aber in einer ganzen Reihe von Ländern wieder ein Anstieg der zusammengefassten Geburtenziffern zu beobachten - Deutschland gehört jedoch nicht dazu.

Neben der Geburtenziffer bestehen einige weitere bedeutsame Unterschiede im generativen Verhalten in Europa: Bei den Anteilen nichtehelich Lebendgeborener reicht die Spannweite nach Angaben von Eurostat in Europa von 6,6 Prozent in Griechenland bis 64,4 Prozent in Island. Deutschland weist mit 30,2 Prozent ein mittleres Niveau auf. Dabei bestehen nach Angaben des Statistischen Bundesamts ausgeprägte Unterschiede zwischen Ost und West. Während in Westdeutschland 24,6 Prozent aller Kinder im Jahr 2009 außerehelich geboren wurden, waren es in Ostdeutschland 59,9 Prozent. Zwischen dem Geburtenniveau und den Anteilen nichtehelich Lebendgeborener lässt sich ein statistischer Zusammenhang nachweisen: In der Tendenz erreicht die zusammengefasste Geburtenziffer in den Ländern ein höheres Niveau, in denen die Anteile nichtehelicher Geburten hoch sind. Die Entkoppelung von Ehe und Elternschaft ist ein Merkmal der Deinstitutionalisierung der Ehe. Angenommen wird, dass die soziale Institution Ehe mit den sie stützenden vielfältigen Rechten und Pflichten an Attraktivität verloren und sich für einen wachsenden Teil der Menschen in Europa eher zum Hindernis für die Verwirklichung individueller Lebensentwürfe entwickelt hat. In Ländern wie etwa den südeuropäischen, in denen nichteheliche Elternschaft weiterhin stigmatisiert ist, wirkt dieser Zusammenhang negativ auf das Geburtengeschehen.

Das Durchschnittsalter der Frauen bei der Geburt von Kindern ist in Deutschland und in Europa seit den 1970er Jahren stark angestiegen und steigt derzeit noch weiter. 2009 hatten bulgarische Kinder die jüngsten Mütter, sie waren im Durchschnitt 26,6 Jahre, und die schweizerischen Kinder die ältesten (31,1 Jahre). Während in den vormals sozialistischen Ländern die Kinder immer noch vergleichsweise früh zur Welt kommen, sind laut Eurostat die Mütter in West- und Südeuropa bei der Geburt ihrer Kinder etwa 30 Jahre alt, in Deutschland 30,2 Jahre.

Deutschland, insbesondere Westdeutschland, gilt als die Region mit der höchsten Kinderlosigkeit in Europa. Jede vierte Frau, die 1968 in der Bundesrepublik geboren wurde, ist kinderlos geblieben. In Ostdeutschland sind es nur 12,7 Prozent. Mit Westdeutschland vergleichbare Werte finden sich nur noch in der Schweiz und in Österreich. Der Anstieg dauerhafter Kinderlosigkeit ist jedoch ein europaweiter Trend. Sie wird in den weiteren Betrachtungen erhöhte Aufmerksamkeit erfahren.

Rückgang der Fertilität seit Ende des 19. Jahrhunderts

Die heutige Fertilitätssituation ist ohne die Kenntnis ihrer historischen Entwicklung nicht zu verstehen. Für die Langzeitanalyse der Geburtenentwicklung stehen zwei Kennziffern zur Verfügung - die zusammengefasste Geburtenziffer in den Kalenderjahren und die endgültige Kinderzahl der Frauen nach Geburtsjahrgängen. Nur die Betrachtung beider Ziffern ermöglicht belastbare Einschätzungen.

Ein erstes Bild über den langfristig verlaufenden Fertilitätstrend bietet die Entwicklung der zusammengefassten Geburtenziffer im Zeitraum 1871 bis 2009 (Abbildung 1). Auffällig auf den ersten Blick sind drei Sachverhalte: Erstens sinkt der Wert der zusammengefassten Geburtenziffer langfristig ab, von nahezu 5 auf unter 1,4 Kinder je Frau. Zweitens setzt sich der rückläufige Trend über eine Vielzahl von Schwankungen durch (siehe Beschriftungen in Abbildung 1 in der PDF-Version); diese sind ausgelöst durch besondere historische Ereignisse und vor allem durch das Ausbleiben, aber auch durch das "Vorziehen" und "Nachholen" von Geburten erklärbar. Schließlich sind zwei Phasen eines jeweils nachhaltigen Geburtenrückgangs erkennbar, eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eine zweite zwischen 1965 und 1974.

Der erste Geburtenrückgang ist Bestandteil eines generellen demografischen Übergangs, in dem zuerst die Sterbeziffern und nachfolgend die Geburtenziffern zurückgegangen sind. Der Sterblichkeitsrückgang ist hauptsächlich aus dem Wirken äußerer Faktoren im Zuge der Industrialisierung zu erklären. Maßgeblich dazu beigetragen haben der medizinische Fortschritt und die verbesserten Ernährungsmöglichkeiten. Der Fertilitätsrückgang ist dagegen viel stärker das Ergebnis veränderter individueller Handlungsweisen. Er war einerseits der intensivierten Geburtenkontrolle geschuldet und andererseits vor allem Ergebnis der veränderten Rolle des Kindes in Familie und Gesellschaft. Kinder verloren Ende des 19. Jahrhunderts ihre Bedeutung als Arbeitskraft und Altersstütze der Eltern. Statt viele Kinder zu haben, investierten Eltern verstärkt Zeit, Geld und Emotionen in wenige Kinder. Deren zukünftiger Lebensverlauf entschied sich über Erziehung und Ausbildung. Es setzte sich die Auffassung durch, dass die Eltern ihre Rolle zum Wohl des Kindes mit weniger Kindern viel besser erfüllen könnten.

Der zweite Geburtenrückgang (Europe's second demographic transition) schloss sich zumindest in Westdeutschland an das Nachkriegsgeburtenhoch an. Die zusammengefasste Geburtenziffer sank in kurzer Zeit sehr stark und erreichte 1975 in der Bundesrepublik mit einem Wert von 1,45 ein Niveau, das seither nur noch geringfügig unterschritten wurde. Dieser zweite Geburtenrückgang war, nach Johan Surkyn und Ron Lesthaeghe, neben der Verbreitung von zuverlässigen und leicht zugänglichen Verhütungsmitteln, vor allem durch den Prozess der Individualisierung hervorgerufen, also durch die Erweiterung individueller Handlungsspielräume in Verbindung mit einer größeren Autonomie und Selbstbestimmtheit, aber auch mit mehr Eigenverantwortung und Ungewissheit.

Abbildung 2 (sh. PDF-Version) zeigt den Geburtenrückgang in der Darstellung nach den endgültigen Kinderzahlen der Geburtsjahrgänge 1865 bis 1968. Der Fertilitätsrückgang weist eine ähnliche Dimension wie bei den zusammengefassten Geburtenziffern auf. Die Frauen des Geburtsjahrgangs 1865 bekamen durchschnittlich noch 4,7 Kinder, bei den Frauen des Jahrgangs 1965 waren es noch 1,55. Letztmalig im Geburtsjahrgang 1880 war die Zahl der geborenen Kinder so groß wie die Zahl ihrer Eltern (Bestandserhaltungsniveau). Die endgültigen Kinderzahlen zeigen nicht mehr den stark schwankenden Verlauf wie die zusammengefassten Geburtenziffern. Die Ursache liegt darin, dass besondere wirtschaftliche oder politische Ereignisse das Timing von Geburten in bestimmten Kalenderjahren unmittelbar beeinflussen, daraus aber keine entsprechenden Effekte auf die im Lebenslauf endgültig realisierte Kinderzahl resultieren. So wurden in den ersten beiden Jahren nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern nur sehr wenige Kinder geboren und die TFR sackte stark ab. In der längerfristigen Lebenslaufbetrachtung wird heute erkennbar, dass diese damals ausgebliebenen Geburten später zu einem erheblichen Teil nachgeholt wurden und sich die endgültig realisierte Kinderzahl jener Kohorten nur geringfügig von der ihrer Vorgängerinnen unterscheidet.

Letztlich erfährt man über die Betrachtung der beiden Fertilitätsmaße nur Durchschnittswerte, die Auskunft über die Höhe des Fertilitätsniveaus geben. Weitere Einsichten in die Fertilitätsmuster sind notwendig und können erreicht werden, indem die Verteilung der Frauen nach der Zahl der geborenen Kinder in differenzierten Fertilitätsanalysen betrachtet wird.

Unterschiedliche Fertilitätsmuster

West-Ost-Differenzierungen.

Eines der prägenden Merkmale der deutschen Fertilitätssituation sind die nach wie vor bestehenden Unterschiede in den Fertilitätsmustern zwischen West- und Ostdeutschland. Anhand der Daten des Mikrozensus 2008 kann gezeigt werden, wie sich die durchschnittlichen Kinderzahlen und die Anteile der Frauen nach der Zahl der geborenen Kinder in den Geburtsjahrgangsgruppen von 1933/1938 bis 1964/1978 verändert haben. Der Geburtenrückgang hat sich in beiden Großregionen Deutschlands auf zwei Wegen vollzogen. Zunächst haben sich bei den älteren Geburtsjahrgängen die Anteile der Frauen reduziert, die drei bzw. vier oder mehr Kinder geboren haben (sh. Tabelle 1 in der PDF-Version). Bei den jüngeren Jahrgängen sind die Trends dann auseinandergedriftet. In Westdeutschland sind die Anteile kinderloser Frauen und in Ostdeutschland die Anteile der Frauen mit nur einem Kind signifikant angestiegen. Ergebnis ist eine deutliche Reduzierung der durchschnittlichen Kinderzahlen auf einem ähnlichen Niveau.

Die Frauen der Geburtsjahrgänge 1964 bis 1968, die zum Zeitpunkt der Mikrozensusbefragung 40 bis 44 Jahre alt waren, hatten in Westdeutschland durchschnittlich 1,51 und in Ostdeutschland 1,56 Kinder. Trotz des Geburtentiefs in der ersten Hälfte der 1990er Jahre gilt also nach wie vor, dass die ostdeutschen Frauen etwas mehr Kinder zur Welt gebracht haben. Die Fertilitätssituation in Ostdeutschland kann als die weite Verbreitung der Ein- und Zwei-Kind-Familie bezeichnet werden, während dauerhafte Kinderlosigkeit und Familien mit mindestens drei Kindern wenig verbreitet sind. Das westdeutsche Muster ist dagegen durch eine größere Heterogenität gekennzeichnet, wobei die hohe Kinderlosigkeit und die größere Verbreitung von Familien mit drei oder mehr Kindern auffallen.

Einfluss der Lebensform.

Ein tieferer Einblick in die deutsche Fertilitätssituation gelingt, wenn die aktuelle Lebensform in die Analysen einbezogen wird. Lebensformen werden hier durch die Kombination von drei Merkmalen gebildet: Zahl der geborenen Kinder, Partnersituation und Familienstand. So wird erkennbar, dass der Zusammenhang von Elternschaft und Ehe vor allem in Westdeutschland fortbesteht. Verheiratete Frauen haben im Westen im Durchschnitt 1,82 Kinder, im Osten sind es 1,69. Dagegen haben die Frauen, die in einer nichtehelichen Lebensform (alleinlebend, nichteheliche Lebensgemeinschaft) leben, in Ostdeutschland deutlich mehr Kinder geboren (1,27) als in Westdeutschland (0,91).

Die Betrachtung des Geburtengeschehens im West-Ost-Vergleich und in Abhängigkeit von der Lebensform offenbart auch, wie ausgeprägt die Unterschiede in der Paritätsverteilung sein können. Verheiratete sind relativ selten kinderlos (West: 11,4 Prozent, Ost: 5,2 Prozent), die Zwei-Kind-Familie ist die am häufigsten vorkommende Lebensform, und verheiratete Frauen im Westen haben häufiger drei und mehr Kinder als verheiratete Frauen im Osten. Für die nichtehelichen Lebensformen im Westen ist Kinderlosigkeit prägend. Knapp die Hälfte der nicht verheirateten westdeutschen Frauen ist kinderlos. Im Osten dagegen hat nur etwa jede fünfte unverheiratete Frau keine Kinder (in nichtehelicher Lebensgemeinschaft 13,7 Prozent, ohne Partner 25,9 Prozent).

Die Daten zeigen eine stärkere Entkoppelung von Ehe und Elternschaft in Ostdeutschland. Eine endgültige Erklärung dafür steht noch aus. Gegenwärtig dominieren drei Thesen. Die erste lautet: Es handelt sich um historisch gewachsene Fertilitätsmuster (etwa als Folge der niedrigen Anteile von Katholiken), die schon vor der Zweistaatlichkeit bestanden. Die zweite lautet: Die spezifischen Verhaltensmuster, die sich unter den familienpolitischen Bedingungen der DDR ausgebildet haben, und vor allem alleinerziehende, ledige und geschiedene Mütter gezielt unterstützt haben, wirken nach. Die dritte These stellt darauf ab, dass die höhere ökonomische Selbständigkeit der Frauen bei der Entscheidung für Kinder und gegen Ehe eine Rolle spielt.

Bildung.

Der formale Schulabschluss der Frauen differenziert die Kinderzahlen und die Paritätsverteilungen insbesondere Westdeutschland erheblich. Generell gilt: Je niedriger der berufliche Ausbildungsabschluss, desto mehr Kinder haben die Frauen zur Welt gebracht. Im Durchschnitt haben Frauen (Westdeutschland, Geburtsjahrgänge 1964 bis 1968) ohne allgemeinen Schulabschluss 2,06 Kinder geboren. Bei den Frauen mit Hauptschulabschluss waren es 1,66, mit Realschulabschluss 1,48 und mit (Fach-)Hochschulreife 1,31. Ähnlich unterschiedlich sind die Muster der Paritätsverteilungen. Fast jede zweite Frau ohne Schulabschluss (45,5 Prozent) hat mindestens drei Kinder. Die mittleren Schulabschlüsse (Haupt- oder Realschule) sind durch eine Dominanz der Zwei-Kind-Familie gekennzeichnet. Bei den Frauen mit Hoch- und Fachschulabschluss ist die hohe Kinderlosigkeit (30,9 Prozent) auffällig.

Paarspezifische Erwerbssituation.

Paarspezifische Erwerbssituationen führen in West- und Ostdeutschland zu jeweils besonderen Fertilitätsmustern. Werden die Erwerbssituationen anhand des Arbeitsumfangs (Vollzeit, Teilzeit, nicht erwerbstätig) gebildet, können die Fertilitätsmuster in fünf verschiedenen Kombinationen analysiert werden (sh. Tabelle 2 in der PDF-Version). Die Ergebnisse lassen sich in zwei Aussagen bündeln: Erstens unterscheiden sich in Westdeutschland die Fertilitätsmuster von Frauen je nachdem, ob sie in einer Vollzeiterwerbstätigkeit sind, in Teilzeit arbeiten oder nicht erwerbstätig sind. Vollzeiterwerbstätigkeit korrespondiert bei Frauen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, kinderlos zu sein. Arbeiten beide Partner Vollzeit, sind 46,6 Prozent der Frauen kinderlos. Dagegen ist bei traditionellen Modellen der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, das heißt Vollzeiterwerbstätigkeit des Mannes und Teilzeit oder Nichterwerbstätigkeit der Frau, Kinderlosigkeit außerordentlich selten und der Anteil von Familien mit drei und mehr Kindern sehr hoch. In Ostdeutschland kommt diese Differenzierung dagegen nicht vor. Kinderlosigkeit ist in allen Kombinationen der Arbeitsteilung niedrig, und der Anteil der Ein-Kind-Familien ist jeweils höher.

Einstellungen zu Erwerbstätigkeit, Kinderbetreuung und Geschlechterrollen

Der Befund, dass sich die Fertilitätsmuster in West- und Ostdeutschland erheblich unterscheiden, wirft die Frage auf, wodurch diese Unterschiede erklärt werden können. Analysen mit den Daten des Generations and Gender Surveys (GGS) und der European Values Study (EVS) aus dem Jahr 2008 legen nahe, dass Einstellungen und Leitbilder bei der Erklärung von Trends und Unterschieden im generativen Verhalten eine erhebliche Bedeutung haben. Untersucht wurden in der West-Ost-Differenzierung die Einstellungen zur außerhäuslichen Kinderbetreuung und die Akzeptanz egalitärer Geschlechterrollen.

Die Analysen zeigen, dass die Akzeptanz außerhäuslicher Kinderbetreuung in Westdeutschland geringer ist und dort das Bild der "Rabenmutter" noch immer in den Köpfen existiert. Den Aussagen, dass Kinder, die den Großteil der Woche in einer Kinderbetreuungseinrichtung verbringen, später wahrscheinlich Probleme im Leben haben werden und dass die beste Betreuung für ein Kind die eigenen Eltern sind, wird im Westen signifikant häufiger zugestimmt. Ebenso findet im Westen laut EVS 2008 das Statement "Ein Vorschulkind wird darunter leiden, wenn seine Mutter arbeitet" eine erheblich größere Zustimmung (57,9 Prozent) als dies im Osten der Fall ist (34,4 Prozent). Diese Befunde sind deutliche Hinweise darauf, dass Elternschaft in Westdeutschland normativ etwas anderes bedeutet als in Ostdeutschland. Neue Leitbilder wie etwa das der "Verantworteten Elternschaft" und der "Guten Mutter" sind im Westen präsenter und handlungsrelevanter. Eltern sehen sich dort mit besonderen Rollenerwartungen konfrontiert, die nur schwierig zu erfüllen sind - ein Umstand, der die Entscheidung zur Elternschaft für manche erschweren dürfte.

Dem Wandel der Geschlechterrollen steht die Bevölkerung mehrheitlich positiv gegenüber. Allerdings ist die Akzeptanz egalitärer Geschlechterrollen im Osten merklich höher, während die klassische Rollenteilung zwischen den Geschlechtern im Westen mehr Zustimmung erfährt. Die ostdeutschen Bundesländer kennzeichnet insgesamt ein Einstellungsbündel, in dem die Vereinbarung von Familie und Erwerbstätigkeit, die dazugehörende Akzeptanz der außerhäuslichen Kinderbetreuung und die Befürwortung egalitärer Geschlechterrollen viel prägnanter angelegt sind als in Westdeutschland. Dort besteht eine deutlich größere Heterogenität. Eine ausgeprägte Befürwortung der klassischen Hausfrauenehe und der traditionellen Mutterrolle ist dort ebenso verbreitet wie die strikte Ablehnung dieser Aufgabenteilung.

Diskussion und Wertung

Die demografischen Betrachtungen haben erhebliche Unterschiede in den Kinderzahlen und den Paritätsmustern zwischen Ost- und Westdeutschland gezeigt, die es zu erklären gilt. Das Hauptfazit der Betrachtungen zur deutschen Fertilitätssituation ist: Das anhaltend niedrige Geburtenniveau und die speziellen Paritätsmuster resultieren aus einem besonderen Zusammenwirken struktureller und kultureller Faktoren, die im Ost-West-Vergleich unterschiedlich gestaltet sind. Ausgangspunkt des Erklärungsansatzes sind die paarspezifischen Erwerbskombinationen, die in den westdeutschen und den ostdeutschen Ländern zu stark abweichenden Handlungsmustern führen. Auffällig ist die hohe Kinderlosigkeit bei vollerwerbstätigen und hochqualifizierten Frauen im Westen.

Die Ost-West-Unterschiede lassen sich aber auch im Kontext divergenter Einstellungen zu Geschlechterrollen in Verbindung mit einer unterschiedlich starken Akzeptanz der außerhäuslichen Kinderbetreuung erklären. Verstärkt wird dieser Zusammenhang durch ungleiche Chancen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Günstigere Vereinbarkeitsbedingungen gehen in den ostdeutschen Bundesländern mit vereinbarkeitsorientierten Einstellungen und einer weitaus höheren Betreuungsquote von Kindern aller Altersgruppen in außerhäuslichen Einrichtungen einher. Daraus lässt sich die höhere Müttererwerbstätigkeit im Osten erklären und die geringe Verbreitung von Kinderlosigkeit, aber nicht das niedrige Geburtenniveau. Die Befunde deuten darauf hin, dass im Osten die Vereinbarung von Vollerwerbstätigkeit beider Partner und Familie durch die Beschränkung auf ein Kind gelöst wird.

Für Westdeutschland gilt umgekehrt, dass die oftmals schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf aufgrund fehlender Kinderbetreuungseinrichtungen sowie das nach wie vor präsente Leitbild der "guten Mutter", also der Mutter, die zum Kind gehört, die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass berufsorientierte Frauen häufiger kinderlos bleiben. Frauen, die ihre Kinder außerhäuslich betreuen lassen, gelten in Westdeutschland schnell als "Rabenmütter" oder halten sich selbst für solche. Um eine solche (Selbst-) Stigmatisierung zu vermeiden, verzichten sie oftmals auf Kinder, wenn sie berufstätig bleiben wollen. Andererseits ist die vergleichsweise hohe Verbreitung der traditionellen Hausfrauenehe im Westen sicherlich ein Grund dafür, dass dort der Anteil von Familien mit zwei und mehr Kindern höher ist.

Die Fertilitätsentwicklung in Ostdeutschland lässt sich momentan noch nicht endgültig beurteilen. Die Anfang der 1990er Jahre entwickelte These, wonach sich die DDR-Muster der Familienbildung schnell auflösen und im Sinn einer nachholenden Modernisierung in die westdeutschen übergehen werden, hat sich nicht bestätigt. Die familiendemografischen Trends in Deutschland variieren zwischen Konvergenz und Divergenz. Divergent sind sie bei der Paritätsverteilung der Lebendgeborenen, insbesondere bei der Kinderlosigkeit und beim Anteil der von nicht verheirateten Müttern geborenen Kinder. Konvergenz findet sich bei der Heiratsneigung und dem durchschnittlichen Gebäralter.

Die niedrigere Kinderlosigkeit und die stärkere Vereinbarkeitsorientierung bei günstigeren strukturellen Voraussetzungen legen den Schluss nahe, dass ein zukünftiger Geburtenanstieg eher im Fertilitätsmuster der ostdeutschen Bundesländer angelegt ist. Ein höheres Geburtenniveau hat sich dort bei geringer Kinderlosigkeit jedoch aufgrund hoher Anteile von Ein-Kind-Familien bislang nicht entwickelt.

In das Schema von Divergenz und Konvergenz passt auch die unterschiedliche Verknüpfung von Lebensformen und generativem Verhalten. Konvergent ist in beiden Regionen die hohe subjektive Bedeutung, die einem glücklichen Familienleben beigemessen wird. In Ost und West dominiert eine hohe Familienorientierung, die sich jedoch auf unterschiedliche Weise manifestiert: Im Osten findet sie ihren Ausdruck durch die vergleichsweise geringen Anteile Kinderloser, bei einer fortgeschrittenen Entkoppelung von Ehe und Elternschaft. Im Westen ist dagegen der Fortbestand der engen Verknüpfung von Ehe und Elternschaft typisch.

Die zentrale Schlussfolgerung lautet: Ein Anstieg des Fertilitätsniveaus in Deutschland ist ohne die Auflösung des Zusammenhangs von Kinderlosigkeit und Frauenerwerbstätigkeit in Westdeutschland und von Müttererwerbstätigkeit und Ein-Kind-Familien in Ostdeutschland nur schwer vorstellbar. Das Zusammenwirken von kulturellen und strukturellen Faktoren hat in der Vergangenheit in einem sich wechselseitig verstärkenden Prozess zur Niedrig-Fertilitäts-Situation geführt. Der Weg aus dieser Situation heraus ist nur über einen Wandel beider Faktoren denkbar. Die europäischen Vergleiche zeigen, dass im Hinblick auf die Fertilitätsunterschiede neben anderen Faktoren die Qualität und der Umfang familienexterner Kinderbetreuung ebenso bedeutsam sind wie die breite soziale Akzeptanz dieser Angebote. Ebenfalls relevant scheinen politische Bestrebungen zu sein, die darauf gerichtet sind, die Familienarbeit aus dem Hauptverantwortungsbereich der Frauen zu lösen und sie zur gemeinsamen Aufgabe und Frauen und Männern zu entwickeln.

Der Fertilitätstrend ist nicht kurzfristig und nicht durch Einzelmaßnahmen beeinflussbar. Nur strategisch ausgerichtetes, langfristig angelegtes und konzertiertes Handeln, bei dem neben politischen Akteuren auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene auch Wirtschaft und Verbände beteiligt sind, kann eine spürbare Wirkung entfalten. Soll das Geburtenniveau angehoben werden, ist die Wahlfreiheit der Lebensführung bestmöglich zu gewährleisten. Beeinträchtigungen dieser Wahlfreiheit finden sich derzeit weniger für das Modell der traditionellen Hausfrauen- oder Hinzuverdienerehe, sondern dort, wo beide Partner Erwerbstätigkeit und Elternschaft in für sie befriedigender Weise vereinbaren wollen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die zusammengefasste Geburtenziffer errechnet sich aus der Summe aller altersspezifischen Geburtenziffern von Alter 15 bis 45 bzw. 49. Die TFR ist eine zusammengesetzte, hypothetische Kennziffer und gibt an, wie viele Kinder je Frau geboren würden, wenn für deren ganzes Leben die altersspezifischen Geburtenziffern des jeweils betrachteten Kalenderjahres gelten würden. Sie ist die am häufigsten verwendete Kennziffer zur Charakterisierung des aktuellen Geburtenniveaus, weil die tatsächlichen durchschnittlichen Geburtenzahlen je Frau erst dann festgestellt werden können, wenn die Frauen das gesamte gebärfähige Alter durchlaufen haben. Der Ausweis, wie viele Kinder die Frauen tatsächlich bekommen, erfolgt in der Kennziffer "endgültige Kinderzahl". Die TFR hat den Nachteil, dass sie durch das Vorziehen von Geburten in ein niedrigeres oder das Verschieben in ein höheres Lebensalter beeinflusst wird. Da die Fertilitätsverhältnisse des jeweils betrachteten Kalenderjahres unterstellt werden, wird in den vergangenen Jahren die tatsächliche Fertilität der Frauen mit der zunehmenden Zahl von Geburten im höheren Alter unterschätzt.

  2. Vgl. United Nations (Department of Economic and Social Affairs, Population Division), World Population Prospects: The 2008 Revision. CD-ROM Edition, New York 2009.

  3. Die endgültige Kinderzahl nach Geburtsjahrgängen gibt an, wie viele Kinder durchschnittlich am Ende des gebärfähigen Alters je Frau geboren worden sind. Sie ist von kurzfristigen Einflüssen auf das generative Verhalten weitgehend unbeeinflusst, hat aber den Nachteil, dass die Fertilitätssituation erst nach dem Ende des fertilen Lebensabschnitts beurteilt werden kann. Gegenwärtig kann sie für die Frauen, die im Jahr 1968 oder früher geboren wurden, festgestellt werden. Für alle späteren Geburtskohorten kann sie erst in Zukunft errechnet werden.

  4. Vgl. Philippe Aries, Geschichte der Kindheit, München 1975.

  5. Johan Surkyn/Ron Lesthaeghe, Wertorientierungen und 'second demographic transition' in Nord-, West- und Südeuropa: Eine aktuelle Bestandsaufnahme, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, (2004) 1, S. 63-98.

  6. Für nähere Informationen zum GGS siehe online: www.bib-demografie.de/cln_099/
    nn_750130/DE/Forschung/GGS/ggs__node.
    html?__nnn=true (7.2. 2011).

  7. Die EVS ist ein international vergleichender Survey mit derzeit vier Erhebungen, die erste fand 1981 statt, die jüngste 2008. Befragt wurden volljährige Personen in allen Altersstufen. Die hier präsentierten Befunde beziehen sich auf die Befragten im Alter zwischen 18 und 53 Jahren.

  8. Vgl. Jan M. Hoem, The Impact of Public Policies on European Fertility, in: Demographic Research, (2008) 19, S. 249-259.

Dr. phil., geb. 1952; wissenschaftlicher Direktor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (s.o.). E-Mail Link: juergen.dorbritz@destatis.de

Dr. rer. pol. habil., geb. 1955; Professor für Soziologie; Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), Friedrich-Ebert-Allee 4, 65185 Wiesbaden. E-Mail Link: norbert.schneider@destatis.de