Einleitung
Die Frage, über welches ökonomische Wissen und Können alle Menschen verfügen sollen und wie man es fördern, diagnostizieren und vielleicht auch messen kann, steht im Zentrum der wirtschaftsdidaktischen Forschung.
An diesen programmatischen wirtschaftsdidaktischen Grundsätzen müssen sich Konzeptionen ökonomischer Bildung für die Schule messen lassen.
Warum verdient ein solches Gutachten, dessen Halbwertzeit unbekannt ist, Aufmerksamkeit? Das GGW-Gutachten ist politisch relevant, da wichtige wirtschaftliche Interessenverbände damit die Bildungspolitik beeinflussen wollen. Es ist aber auch wissenschaftlich bemerkenswert, weil es zeigt, wie eine ökonomische Bildung an Schulen aussähe, die sich dominant der Denkschemata der Ökonomik bedient. Mit Ökonomik bezeichnen wir hier stark vereinfacht den orthodoxen Mainstream der Volkswirtschaftslehre. Das Gutachten bietet also Anlass für eine fachdidaktische und eine bildungspolitische Auseinandersetzung, aber auch für eine gesellschaftliche Wertedebatte.
Stärkung des homo oeconomicus?
Das Gutachten der Verbände entwickelt zunächst ein bedenkenswertes und anschauliches Kompetenzmodell, dessen allgemeine Ziele sich relativ offen und eher pluralistisch lesen und als plausibel konstruiert erscheinen.
Genau dazu zwingt man aber die Lernenden, wenn man ihnen allein die "ökonomische Perspektive" abverlangt. Vielmehr gilt, dass aus unterschiedlichen Zielsetzungen unterschiedliche Rationalitäten resultieren. Es leitet sich sogar erst "aus den Zielsetzungen ab, wie das Problem der Güterknappheit gehandhabt werden soll, ebenso wie aus bestimmten Zielsetzungen heraus sich die Knappheit von Gütern erst begründet". Ohne nähere Klärung der einzubeziehenden Ziele führen die als allgemeingültig unterstellte "Zweck-Mittel-Methode und das auf ihr basierende Instrumentarium (...) zwangsläufig dazu, nicht zweckbezogene, aber möglicherweise gesellschaftlich hoch relevante Aspekte systematisch aus der Bewertung und Steuerung von Handlungsalternativen auszuklammern."
Im Gutachten der Wirtschaftsverbände benennen lediglich drei von insgesamt fast 120 Standards explizit alternative Bewertungskriterien, fast die Hälfte der 40 Aufgaben bezieht sich auf Preis- und Kostenvergleiche sowie Preisbildung und -beeinflussung. Vor allem die Aufgabenbeispiele zur Überprüfung der Kompetenz sind nur wenig an einer allgemeinen ökonomischen Bildung orientiert: Die Lernenden müssen Grenzkostenkurven, Preiselastizitäten sowie Preisstrategien von Unternehmen erläutern.
Modelle mit eindeutig erscheinenden Lösungen
Statt kritisches Nachfragen und selbstständiges Urteilsvermögen zu fördern, liegt der Schwerpunkt darauf, wirtschaftswissenschaftliche Modelle anzuwenden, volkswirtschaftliche Denkmuster zu reproduzieren und immer wieder Rechenaufgaben durchzuführen. So sollen die Schülerinnen und Schüler berechnen, ob eine Reise mit dem Auto oder mit dem Zug preiswerter ist - und dabei das Kriterium des Umweltschutzes ignorieren.
Die Standards und Aufgaben orientieren sich meist an wirtschaftswissenschaftlichen Theorien und an Denkschemata der Ökonomik,
Damit fällt das Verbändegutachten hinter den Stand der Wirtschaftswissenschaften und der Wirtschaftsdidaktik zurück. Es ignoriert die für die wirtschaftliche Lebenswelt relevanten Erkenntnisse aus Sozial- und Organisationsforschung, Wirtschaftspsychologie und Wirtschaftssoziologie. Indem es wirtschaftswissenschaftliche Denkmuster als vorrangige Erklärungsansätze und Effizienz als dominantes Bewertungskriterium propagiert, favorisiert es die Erziehung zum Denken und Handeln als kühl kalkulierender homo oeconomicus in allen Lebensbereichen. Die Erklärung und politische Gestaltung der Welt erfolgt nach immer demselben theoretisch-analytischen Erklärungsmuster, zu dem es keine Alternative geben soll: "Während einzelne Handlungen in der Praxis nur begrenzt expliziten Effizienzkalkülen folgen, bilden sich in der Aggregation unzähliger Handlungen effizienzgeprägte wirtschaftliche Strukturen."
Auf problematische Weise führt diese Herangehensweise zur durchgehenden Ökonomisierung der Lebenswelt der Lernenden, indem es sie zumeist in eine strikt ökonomistisch-buchhalterische Perspektive zwingt und ökonomische Bildung auf die Befähigung zur Anwendung des Effizienzprinzips "gleich in welchem Gegenstandsbereich"
Das GGW-Gutachten vernachlässigt das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschafts- und Lebensweltorientierung, welches das Interesse an Wirtschaftsthemen und die Kompetenzentwicklung fördert, weil es sich vorrangig an der gewachsenen Struktur der universitären Disziplinen orientiert und wirtschaftswissenschaftliche Denkschemata zum dominanten Bewertungskriterium macht. Ebenso wie die Ökonomik blendet das Gutachten die eigene Bildung, Reflektion und Entwicklung von Präferenzen und Nutzenvorstellungen der Lernenden aus.
Es entspricht aber weder den realen Problemlagen der Lernenden noch denen von Gesamtwirtschaft und Gesellschaft, wenn Anforderungen komplexer Lebenssituationen, kritische Urteilsfähigkeit und ethisches Reflexionsvermögen weitgehend vernachlässigt werden. Die Lernenden erhalten keine Gelegenheit, alternative Erklärungsmuster und Bewertungskriterien kennenzulernen und anzuwenden. Die personalen Bildungsprozesse, die auf Selbsterkenntnis, kritisch reflektiertes Handeln, sozial-ökologische Verantwortung oder gar auf eine Deflation von Konsumansprüchen zielen können, spielen eine untergeordnete Rolle. Ein kritisches Nachdenken über persönliche Vorstellungen vom guten Leben und der Entwicklung eigener Anforderungen an die Wirtschaftswelt wird ebenso ausgeblendet wie ein Lernen, das sich für die wichtigen Probleme der Menschen und Menschheit sowie alternative individuelle, gesellschaftliche und politische Lösungsbeiträge interessiert.
Welches Wissen ist relevant?
Das GGW-Gutachten dient primär dem politischen Ziel, der Forderung nach einem eigenständigen Unterrichtsfach "Ökonomie" öffentlich Nachdruck zu verleihen. Damit reiht es sich in die Kette der von Wirtschaftsverbänden finanzierten Gutachten und Studien ein, die das mangelnde ökonomische Grundwissen der Bürgerinnen und Bürger belegen sollen. Ähnliche Studien zu Demokratie, Politik, Ernährung, Gesundheit, Berufsorientierung, Nationalsozialismus und zu vielen weiteren Themen diagnostizieren ebenfalls mittelmäßiges Wissen. Die bildungspolitischen Schlussfolgerungen lesen sich alle gleich: Man fordert eine stärkere Repräsentanz dieser Themen in der Schule, am besten gleich als eigenes Fach.
Angesichts des bildungspolitischen Dramatisierungs- und Skandalisierungspotenzials solcher Bildungsstudien empfiehlt sich ein nüchterner Blick auf ihre Aussagequalität. Für den Bereich der ökonomischen Bildung liegt bisher kein theoretisch und empirisch abgesichertes Kompetenzmodell vor, das valide angeben könnte, welches ökonomische Wissen Bürger und Bürgerinnen brauchen, um wirtschaftlich kompetent zu urteilen und zu handeln. Die Itemauswahl erfolgt oft interessengeleitet, einseitig aus der fachwissenschaftlichen Perspektive heraus, und ignoriert die Bedürfnisse der Lernenden, die Diskrepanz von Wissen und Handeln sowie die Relevanz des jeweiligen Wissens. Warum und wozu soll etwa der Name des Bundeswirtschaftsministers oder das Land mit dem höchsten Bruttosozialprodukt zum minimalen Wirtschaftswissen gehören, wie es eine der einschlägigen Studien annimmt? Die Aussagekraft des Bruttoinlandsprodukts kritisch zu reflektieren und die Handlungsmöglichkeiten eines Wirtschaftsministers skeptisch zu prüfen dürfte wesentlich wichtiger sein.
Welches wissenschaftliche und praktische Wissen und Können zum Kern der allgemeinen ökonomischen Bildung gehören soll, ist in Wissenschaft, Bildung und Politik nach wie vor umstritten. Deshalb gehört die theoretisch und empirisch fundierte Auswahl der für angemessenes Denken, Urteilen und Handeln in ökonomisch geprägten Situationen und Problemlagen relevanten Wissensbestände zu den drängendsten ungelösten Aufgaben der Wirtschaftsdidaktik.
Krise der Wirtschaftswissenschaft?
Seit der Weltfinanz- und -wirtschaftskrise fordern die Wirtschaftsverbände noch lauter ein eigenständiges Unterrichtsfach "Ökonomie" und suggerieren dabei einen Zusammenhang zwischen mangelnder ökonomischer Kompetenz und der Krise. Tatsache ist aber: Die überwältigende Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler, die sich mehrheitlich zu den "Neoklassikern" zählen,
Die Einführung eines eigenständigen Unterrichtsfachs "Ökonomie", das sich einseitig an den Denkschemata der Ökonomik ausrichtet, erscheint vor dem Hintergrund der realen Erfahrungen höchst begründungsbedürftig. Nötig ist eine erfahrungsbezogene, ergebnisoffene und differenzierte Neubewertung des Koordinationsmechanismus' Markt, des Verhältnisses Staat - Markt und der Annahme, alle Marktakteure handelten rational. All das spricht für eine sozialwissenschaftliche Ausrichtung der ökonomischen Bildung.
Dagegen orientiert sich das GGW-Gutachten an einem Wunschbild artenrein getrennter Disziplinen und beklagt, dass das Fachprofil Sozialkunde/Politik/Wirtschaft Lehrern die Aneignung des Wissens mehrerer Disziplinen abverlange. Die gewünschte Artenreinheit der Disziplinen entspricht aber schon lange nicht mehr der wissenschaftlichen Wirklichkeit. "Wir studieren ja nicht Fächer, sondern Probleme. Und Probleme können weit über die Grenzen (...) einer bestimmten Disziplin hinausgreifen", schreibt Karl Popper.
Qualitätskriterien einer besseren ökonomischen Bildung
Vor diesem Hintergrund tritt die "Initiative für eine bessere ökonomische Bildung"
Problemorientierung.
Statt wirtschaftswissenschaftliche Begriffe und Prinzipien aus einem scheinbar neutralen Blickwinkel (Rationalitäts- bzw. Effizienzprinzip) zu vermitteln und anzuwenden, bearbeiten die Lernenden ökonomisch geprägte gesellschaftliche Problemlagen und individuelle Lebenssituationen. Sie erwerben und nutzen das Wissen und Können, das ihnen hilft, diese Probleme und Situationen als Konsumierende und Vorsorgende, als BerufswählerInnen, ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen zu analysieren, zu bewältigen und zu gestalten. Dazu gehört selbstverständlich je nach Problem auch vorrangig oder ausschließlich wirtschaftswissenschaftliches Wissen.
Im Zentrum steht also die Auseinandersetzung mit realen Problemlagen der Wirtschaft und des Wirtschaftens, die bei der Produktion, Verteilung und Konsumtion von Gütern und Dienstleistungen entstehen - auch durch die Anwendung des Effizienzprinzips und des Kosten-Nutzen-Kalküls. Die - historisch veränderbaren - Prinzipien und Entscheidungsgrundlagen der Wirtschaft sind in ihrer sozialen, kulturellen und historischen Kontextbezogenheit zu erkennen, zu reflektieren und gegebenenfalls zu kritisieren.
Multiperspektivität und Interdisziplinarität.
Ökonomisch geprägte Lebenssituationen können ebenso wie ökonomische Problemstellungen in der Regel nur mit multidisziplinärem Wissen angemessen beschrieben, erklärt und bearbeitet werden. Darüber hinaus müssen ökonomische Fragen in einer multiperspektivischen ökonomischen Bildung in ihre gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenhänge eingebettet werden. Ein kurzes Beispiel: Sollten die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl und Milch staatlich festgesetzt werden? Diese Frage findet sich im Aufgabenpool des Verbändegutachtens. Der Erwartungshorizont nennt folgende Antworten: Preissetzungen dieser Art passen nicht in das marktwirtschaftliche System in Deutschland und der Europäischen Union, da Angebot und Nachfrage die Preise regulieren. Die Preise für Grundnahrungsmittel seien in Deutschland niedrig.
Wissenschaftsorientierung und Pluralismus.
Soziologisches und politikwissenschaftliches Wissen kann die wirtschaftswissenschaftliche Betrachtungsweise mit der Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler verknüpfen und bereichern. Umgekehrt kann die wirtschaftswissenschaftliche Perspektive eine alleinige politikwissenschaftliche oder soziologische Betrachtungsweise - etwa zu Familie, Politik und Recht - befruchten oder auch relativieren. Auf diese Weise werden die Lernenden nicht einseitig auf ein einziges Denkschema zur Betrachtung der Welt verpflichtet. Der wissenschaftliche, politische und weltanschauliche Pluralismus hilft ihnen, sich in ihrer Lebenswelt angemessen und differenziert zu orientieren, sie zu verstehen, zu bewältigen, eigenständig zu beurteilen und zu gestalten. Der Pluralismus ist in der ökonomischen Bildung aber stark gefährdet. Denn seit langem haben Unternehmensverbände über kostenlose Unterrichtsmaterialien, Betriebspraktika, Netzwerke wie Schule-Wirtschaft sowie über Praxiskontakte einen privilegierten Zugang zur Schule und können so für ihre Perspektive werben.
Wissenschaftlicher Diskurs statt Interessenpolitik.
Die "Initiative für eine bessere ökonomische Bildung" will eine Debatte darüber initiieren, was eine ökonomische Bildung, welche die Lernenden zu einem besseren Weltverständnis und zu einer angemesseneren Urteils- und Handlungskompetenz befähigen will, leisten muss. Dabei sieht sich die Wirtschaftsdidaktik mit bildungs- und interessenpolitischen Gefährdungen ihres wissenschaftlichen Erkenntnisstandes konfrontiert, etwa wenn
der Versuch, die Domäne eines Schulfachs Wirtschaft mit der Referenzdisziplin Wirtschaftswissenschaft gleichzusetzen, einseitig die disziplinäre, wirtschaftswissenschaftliche Perspektive reproduziert und zentrale didaktische Prinzipien vernachlässigt;
fach- und paradigmenpolitische Strategien versuchen, die ökonomische Bildung einseitig auf bestimmte wissenschaftliche und politische Strömungen sowie Menschen- und Weltbilder festzulegen und so den Pluralismus in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft beeinträchtigen;
bei der Konzeption und Operationalisierung von Items für die quantitative Forschung der Sinn für die Lernenden, die Bedeutung für die ökonomische Bildung und die Komplexität der Entscheidungen in der ökonomisch geprägten Lebenswelt ausgeblendet bleiben;
in der von Interessengruppen finanzierten Auftragsarbeit die differenzierte wissenschaftliche Auseinandersetzung und vor allem der kritische Diskurs über zentrale wirtschaftliche und gesellschaftliche Problemlagen zum Opfer fällt.
Mit der wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Fachdidaktiken ist auch die wirtschaftsdidaktische scientific community auf einem Niveau angelangt, auf dem sie sich - wie andere reife Wissenschaften auch - über Kontroversen weiterentwickelt und dabei im Wettbewerb um die besseren Ideen auch eine bessere ökonomische Bildung fördert.