Einleitung
Die gegenwärtige Krise des Finanz- und Wirtschaftssystems ist vielfältig anhand ökonomischer Indikatoren beschrieben worden. Es stellt sich jedoch die Frage nach der gerechten Verteilung der Lasten. Zudem ist nicht nur die Mittelschicht verunsichert: Gerade die Jugendgeneration steht bei der Einmündung in die Arbeitswelt vor besonderen Problemen. Wie reagieren junge Menschen? Nehmen Orientierungsprobleme und Ungerechtigkeitsempfindungen zu, welche Faktoren fördern, welche begrenzen sie? Welche Rolle spielen Einflüsse von Ungleichheitsdimensionen (Bildung) und unterschiedlichen regionalen Kontexten des Aufwachsens (West - Ost)? Wie wirken sich Belastungserfahrungen in der sozialen Nahwelt (Arbeitslosigkeit/Geldprobleme) aus?
Solchen Themen soll anhand empirischer Untersuchungen nachgegangen werden. Es geht dabei um Analysen im Zeitvergleich und um Differenzierungen auf der Ebene von unterschiedlichen Ressourcen, Belastungen und Handlungskompetenzen.
Umbruch der Jugendphase in der Wirtschaftskrise
Die gesellschaftliche Situation der vergangenen Jahre, vor und während der Finanz- und Wirtschaftskrise, bedeutet gerade für Heranwachsende besondere Herausforderungen. Junge Menschen reagieren mit einer verstärkten Leistungsbereitschaft. Sie fragen sich aber auch, ob sich ihre Orientierung am Kompetenzerwerb lohnt und ob die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums gerecht ist. Solche Bewertungen wirken sich auf die Zufriedenheit aus und spielen in der politischen Auseinandersetzung um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung eine nicht unbeträchtliche Rolle. So wurde vom Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes Michael Sommer
Der Beginn der Jugendphase als Bildungsphase ist durch Prozesse der zunehmenden Verdichtung und Formierung gekennzeichnet.
Der Übergang in die Arbeitswelt ist durch viele Hürden und Belastungen gekennzeichnet (Praktika/Zeitverträge/Teilzeit/Flexibilität/permanente Verfügbarkeit) und erweist sich für viele als Lebensphase mit "open end". Eine Einmündung in eine sicherere Erwerbsbiografie, die weitere Schritte zum Erwachsenwerden ermöglicht (Partnerschaft, Familiengründung, selbständiges Wohnen) hat fast schon Seltenheitswert.
Selbst wenn auf den ersten Blick gesehen "die" Jugend ihre Lebenslage und Zukunft überwiegend positiv einschätzt, zeigt sich, dass Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien nur zu einem Drittel optimistisch sind.
Auch in international vergleichenden Untersuchungen über Auswirkungen des Globalisierungsprozesses auf individuelle Lebensläufe erweisen sich junge Menschen als besonders stark von negativen Globalisierungseffekten betroffen.
Auch in Deutschland ist die Verunsicherung der Jugend im Zeichen der Finanzmarktkrise deutlich gestiegen. Der Wunsch nach öffentlicher Kontrolle und Regulierung des Finanzmarktes hat sich verstärkt und herrscht vor allem bei Jugendlichen mit einfacher Bildung und schlechter persönlicher Wirtschafts- und Finanzlage vor.
Zum Konzept von Gerechtigkeitsvorstellungen und Orientierungsunsicherheit
Um solche Entwicklungen und Differenzierungen empirisch zu beleuchten, soll im Folgenden der Fokus auf zwei generelle Orientierungen gelegt werden: Sicherheitsgefühle und Gerechtigkeitsbewertungen.
Zum einen soll Orientierungssicherheit bezüglich eigener Handlungsmöglichkeiten betrachtet werden. Gemeint sind damit subjektive Antworten auf gesellschaftlichen Veränderungen. Orientierungsunsicherheit beschreibt die Einschätzung einer unklaren oder fehlenden Kontrolle über die eigenen Handlungsmöglichkeiten in einer gesellschaftlichen Situation des Umbruchs und der Veränderungen, der gegenüber man sich als nur unzureichend gewappnet empfindet.
Zum anderen soll ein Aspekt betrachtet werden, bei dem es um Gefühle beziehungsweise persönliche Einschätzungen von sozialer Ungerechtigkeit oder "relativer Deprivation" geht, bezogen auf den gesellschaftlichen Reichtum und die Teilhabe am möglichen Wirtschaftswachstum. Solche Bewertungen stellen eine Art Maßstab der subjektiv empfundenen Verteilungsgerechtigkeit in der Gesellschaft dar. Diese ist zunächst unabhängig beziehungsweise auf einer anderen Ebene angesiedelt als eine Einschätzung auf der Makroperspektive, bei der es darum geht, zu bewerten, ob und inwieweit die Verteilungsprinzipien gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wohlstands insgesamt als gerecht angesehen werden.
Strukturelle Einflussfaktoren
Inwieweit junge Menschen die gestiegenen Leistungsanforderungen im Bildungs- und Ausbildungsbereich sowie auch die Tendenzen zunehmender Prekarisierung und Flexibilisierung in der Arbeitswelt wahrnehmen und sich trotzdem positive Chancen ausrechnen, sich diesen Herausforderungen zu stellen, soll im Folgenden zunächst anhand der Gerechtigkeitsbewertungen junger Menschen dargestellt werden. Wie bewerten junge Menschen ihre Lebensverhältnisse und auch ihre Chancen im Vergleich zu anderen? Empirisch belastbare Daten für die Zeit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009 liegen mit dem DJI-Survey "Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten" (AID:A) vor. Gewisse Trends lassen sich auch für Entwicklungen seit Anfang der 1990er Jahre anhand der breit angelegten repräsentativen Längsschnittstudie des DJI-Jugendsurvey beleuchten.
In der AID:A-Erhebung zeigt sich, dass sich nur eine Minderheit benachteiligt fühlt: Bei den 18- bis 32-Jährigen beurteilen 70% ihren Anteil am Lebensstandard im Vergleich zu anderen als "gerecht", 7% als "sehr viel mehr als gerecht". Nur ein Fünftel hat diesbezüglich ein negatives Urteil und fühlt sich "relativ depriviert": 17% sagen, sie bekommen "weniger als den gerechten Anteil", 3% "sehr viel weniger als den gerechten Anteil".
Von welchen Faktoren hängt ein solches Gefühl der relativen Deprivation bei jungen Menschen ab? Insbesondere das Bildungsniveau erweist sich als wichtig. Befragte ohne Bildungsabschluss oder nur mit Hauptschulabschluss bewerten häufiger ihren Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand als ungerecht im Vergleich zu Befragten mit mittlerem und höherem Bildungsniveau (sh. Tabelle 1 in der PDF-Version).
Was "regionale" Unterschiede und differente Erfahrungen in beiden Teilen Deutschlands angeht, ist eine Analyse seit Beginn der 1990er Jahre interessant. Mit der deutschen Wiedervereinigung trafen unterschiedliche Verständnisse von sozialer Gerechtigkeit aufeinander: das stark an Gleichheit orientierte Gerechtigkeitsverständnis der Ostdeutschen und das eher individualistische und meritokratische Verständnis der Westdeutschen. Obwohl es in den vergangenen zwei Jahrzehnten Angleichungen bei den Gerechtigkeitseinstellungen gab, blieb eine deutliche Ost-West-Differenz erhalten.
Im Zeitvergleich ist eine deutliche Annäherung zwischen den west- und ostdeutschen jungen Menschen zu konstatieren (sh. Abbildung 1 in der PDF-Version). Hierin spiegelt sich möglicherweise die zunehmende Angleichung der Lebensverhältnisse und -perspektiven in beiden Landesteilen wider, denn die Veränderungen des Erwerbslebens im Hinblick auf Flexibilisierung und prekäre Beschäftigungsverhältnisse trifft ost- und westdeutsche Jugendliche und junge Erwachsene gleichermaßen. Insgesamt nimmt aber der Anteil derjenigen zu, die zufrieden mit der Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands sind. Eine Interpretationsmöglichkeit dieser überraschenden Tendenz liegt darin, dass jenseits strukturell zunehmender Generationsungerechtigkeit die Jugendlichen heute sich in ihrem Verständnis einer gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands nicht mit früheren Jugendgenerationen vergleichen, sondern ihre Maßstäbe an aktuellen Gegebenheiten ausrichten.
Bei der zweiten hier betrachteten Dimension "Orientierungsunsicherheit", die oben skizziert wurde, geht es um Einstellungen gegenüber solchen gesellschaftlichen Veränderungen, die Verunsicherung und Desorientierung gegenüber eigenen Handlungsmöglichkeiten zum Ausdruck bringen (Einzelitems in Tabelle 2 in der PDF-Version). Dabei weisen nach AID:A 2009 22% der 18- bis 32-Jährigen ein geringes, 47% ein mittleres und 31% ein hohes Niveau an Orientierungsunsicherheit auf. Darüber hinaus zeigt sich ein Zusammenhang zwischen sozialer Desorientierung und relativer Deprivation bei jungen Menschen: Jugendliche, die sich verunsichert fühlen, neigen auch eher dazu, sich als relativ depriviert wahrzunehmen. Außerdem geht soziale Desorientierung bei jungen Menschen häufig mit dem Gefühl einher, sich als fremdbestimmt wahrzunehmen, das heißt sich als wenig selbstbestimmt im Hinblick auf die eigene Lebensplanung zu erleben.
Die Einflussfaktoren auf Orientierungsunsicherheit gehen in die gleiche Richtung wie bei der relativen Deprivation. Junge Menschen mit geringen Bildungsressourcen sind deutlich stärker verunsichert (sh. Tabelle 2 in der PDF-Version); dies gilt in abgeschwächter Form auch für junge Menschen, deren Eltern ein niedriges formales Bildungsniveau haben. Auch für die Statusgruppen zeigen sich im Hinblick auf Orientierungsunsicherheit ähnliche Zusammenhänge wie bei der relativen Deprivation. Die Studierenden sind am geringsten verunsichert, die Arbeitslosen dagegen am meisten. Der Migrationshintergrund hat hier eine gewisse Bedeutung: Insbesondere Jugendliche der ersten Einwanderergeneration haben Schwierigkeiten, sich in den gesellschaftlichen Gegebenheiten zurechtzufinden.
Erstaunlich sind die 2009 feststellbaren Ost-West-Unterschiede, hat doch die hier betrachtete Altersgruppe der 18- bis 32-Jährigen mehrheitlich nur Erfahrungen mit dem wiedervereinigten Deutschland gemacht. Möglicherweise haben die jungen Menschen über die Eltern vermittelt Verunsicherungen miterlebt, die durch den Transformationsprozess ausgelöst worden sind. Der mit der "Wende" beginnende rapide Wandel in den Lebensbedingungen in den neuen Bundesländern kann als wichtige Ursache von Orientierungsunsicherheit angesehen werden, wie auch allgemein desintegrierende Folgen der Individualisierung und Globalisierung.
Betrachtet man das Ausmaß von Orientierungsunsicherheit bei jungen Menschen seit Beginn der 1990er Jahre, so zeigt sich, dass die Verunsicherung bei den Ostdeutschen zwar etwas abgenommen hat, aber nach wie vor über dem Niveau der westdeutschen Befragten verbleibt (sh. Abbildung 2 in der PDF-Version). Während Anfang der 1990er Jahre junge Menschen in den neuen Bundesländern ein deutlich größeres Ausmaß an sozialer Desorientierung aufwiesen, hat sich diese Ost-West-Differenz in den vergangenen zwei Jahrzehnten verkleinert: Wir können 2009 nur noch geringe Unterschiede in der sozialen Desorientierung west- und ostdeutscher junger Erwachsener finden. Insgesamt aber sind seit 1997 junge Menschen zunehmend verunsichert. Hier kommt wohl zum Ausdruck, dass sie mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen konfrontiert sind, die eine individuelle und berufliche Lebensplanung immer schwieriger machen. Die Orientierungsunsicherheit nimmt also - anders als die Bewertung des gerechten Anteils - nicht ab, sondern steigt in Westdeutschland sogar deutlich an.
Engagement in Vereinen und subjektive Einflussfaktoren
Im Folgenden wird nach der Bedeutung von Engagement in Vereinen und Verbänden sowie von Belastungen und persönlich erlebtem Stress im Hinblick auf Gerechtigkeitsvorstellungen und Orientierungsunsicherheit gefragt. Mitgliedschaft und Mitarbeit in Vereinen und Verbänden sowie in freieren Assoziationen bieten für Jugendliche und junge Erwachsene Möglichkeiten der sozialen Vernetzung, der Kommunikation und der Interessensrealisierung. Ein solches Engagement in organisatorisch engen oder weiten Kontexten spielt für soziale Integration und den Erwerb von "sozialem Kapital" eine große Rolle und wird seit einiger Zeit mit starkem Forschungsinteresse beobachtet.
Die Ergebnisse zeigen (sh. Tabellen 3 und 4 in der PDF-Version), dass dies in gewissem Umfang durchaus der Fall ist: Bei denjenigen, die in keiner der Organisationen aktiv sind, ist der Anteil mit Orientierungsunsicherheit deutlich höher als bei den Aktiven (38% gegenüber 27%). Sie haben auch den Eindruck, dass sie weniger als den gerechten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum erhalten (24% gegenüber 18%). Allerdings sind die Differenzen nicht so stark, dass man von einem dominanten Einfluss sprechen möchte. Andere Faktoren dürften bei der Verstärkung von Unsicherheits- und Ungleichheitsgefühlen wichtiger sein.
Erfahrungen mit Belastungen im persönlichen Umfeld wie bereits erlebte "länger andauernde Arbeitslosigkeit in der Familie" und "große Geldprobleme in der Familie" scheinen hierbei bedeutsam zu sein, ebenso Aspekte der Lebensbewältigung wie Gelassenheit oder Stress, die eher auf grundlegendere Einstellungen beziehungsweise Dispositionen abzielen (sh. Tabellen 3 und 4 in der PDF-Version).
Es zeigt sich also, dass Erfahrungen von ökonomischem Druck und Belastungen sich deutlich in den hier betrachteten Orientierungen gesellschaftlicher Unsicherheit oder Unzufriedenheit niederschlagen, stärker sogar als so manche grundlegenderen Dimensionen sozialer Ungleichheit oder sozialer Unterstützung.
Zusammenfassung und Ausblick
Insgesamt gesehen sind die Tendenzen in den subjektiven Reaktionen junger Menschen auf die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht ganz eindeutig. So haben einerseits Einschätzungen, nicht den gerechten Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand zu erhalten, nicht zugenommen. Andererseits haben sich Gefühle einer generellen Orientierungsunsicherheit eher verstärkt und sind nach wie vor in den ostdeutschen Bundesländern höher als im Westen. Es sind also ambivalente Einschätzungen der eigenen Lebenssituation bei jungen Menschen in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation zu konstatieren.
Allerdings gilt - wie zumeist in der Jugendforschung hervorgehoben -, dass nicht undifferenziert von "der" Jugend gesprochen werden kann. Sowohl bei der Frage nach Verteilungsgerechtigkeit als auch nach Orientierungssicherheit finden sich zum Teil deutliche Differenzierungen. Insbesondere gilt dies bezüglich struktureller Faktoren sozialer Ungleichheit, vor allem dem Bildungsniveau und Merkmalen der Erwerbsposition. Dazu aber spielen auch subjektive Faktoren, die jedoch häufig aus Erfahrungen soziostruktureller Benachteiligung herrühren, eine große Rolle: Biografische Erfahrungen wie Belastungen in der sozialen Nahwelt, wie längere Arbeitslosigkeit oder große Geldprobleme in der Familie, erweisen sich als bedeutsam für das Gerechtigkeitsempfinden und das Ausmaß an Orientierungsunsicherheit.
Betrachtet man die strukturellen Einflussfaktoren auf Einschätzungen gesellschaftlicher Gerechtigkeit sowie auf Orientierungssicherheit, so zeichnen sich für Politik, Praxis und politische wie ökonomische Bildung zwei Kontexte ab, um junge Menschen umfassender auf den Umgang mit gesellschaftlichen, ökonomischen und biographischen Unwägbarkeiten vorzubereiten: das Bildungssystem und die Träger der vielfältigen verbandlichen und bürgerschaftlichen Beteiligungsangebote.
Wird gesellschaftlich in diesen Kontext investiert, kann das kulturelle und soziale Kapital junger Menschen gestärkt werden, damit sie vermehrt befähigt werden, ihre Interessen und Lebensperspektiven auch in Krisenzeiten kompetent und aktiv umzusetzen.