Einleitung
Die Standardisierungsdiskussion wird in allen Fachdidaktiken geführt.
Für die Domäne der ökonomischen Bildung fehlte bis vor kurzem ein theoretisch fundiertes und elaboriertes Kompetenzmodell, das der Standardisierung ihrer Ziele zugrunde gelegt werden könnte. Gleichwohl stehen in den Bundesländern, besonders in jenen, die wie Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen (Modellversuch an Realschulen) über ein eigenständiges Fach für diese Domäne verfügen, Kommissionen vor der Aufgabe, den Outcome ökonomischer Bildung in Termini von Kompetenzen zu formulieren und in Form von Standards zu normieren.
Die Vorschläge der Deutschen Gesellschaft für ökonomische Bildung (DeGöB) genügen nur zum Teil den Anforderungen der Klieme-Expertise. Trotz dieses Mangels wurden sie seit ihrem ersten Entwurf, anders als in anderen Domänen,
Die KMK stellt an Bildungsstandards formale und inhaltliche Anforderungen, die es zu beachten galt:
Die Standards müssen abschlussbezogen formuliert werden.
Diese abschlussbezogenen Standards müssen sich durch Kumulativität auszeichnen, um einen nachhaltigen Kompetenzaufbau über mehrere Jahrgänge und Niveaustufen hinweg zu sichern. Dafür wird ein Kompetenzmodell benötigt, das es erlaubt, Kompetenzzuwächse von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II abzubilden.
Die von der KMK verabschiedeten Standards fokussieren kognitive Fähigkeiten, obschon Kompetenzen laut einschlägiger Definition
auch motivationale, volitionale (auf das Wollen bezogene) und soziale Bereitschaften und Fähigkeiten beinhalten. Daher erfolgte auch hier eine Beschränkung auf kognitive Fähigkeiten. Standards geben ausschließlich Kompetenzziele, nicht den Weg dorthin an. Daher enthalten sie keine Vorgaben für die Thematik und Methodik des Unterrichts.
Ihre Erreichung soll mittels standardisierter Lernstandserhebungen und Schulleistungsstudien überprüfbar sein.
Die in den Standards zum Ausdruck kommenden Kompetenzstufen sollen durch Aufgabenbeispiele "illustriert"
werden.
Vorschlag der DeGöB
Im Jahre 2004 hat die DeGöB ihren ersten Entwurf domänenspezifischer Bildungsstandards unterbreitet. Dem gingen mehrere Expertenrunden voraus, die in einen Konsens der beteiligten Wirtschaftsdidaktiker mündeten.
Kompetenzen ökonomischer Bildung.
Die DeGöB umriss den Kern ökonomischer Bildung durch Angabe von fünf Kompetenzen.
Der ökonomisch gebildete Mensch könne
Entscheidungen ökonomisch begründen: In dieser Fähigkeit kommen die Grundprinzipien des wirtschaftlichen Handelns (vor allem Alternativenabwägung, Rationalität, Effizienz) in verschiedenen Lebenssituationen problemorientiert zur Anwendung.
Handlungssituationen ökonomisch analysieren: Mittels dieser Fähigkeit werden die gegebenen Handlungsspielräume ausgelotet, die situativen Handlungsanreize sowie -beschränkungen (Restriktionen) ermittelt und beachtet.
Ökonomische Systemzusammenhänge erklären: Die Volkswirtschaft wird als komplexes und dynamisches System von Elementen erklärt, die bestimmte Relationen zueinander aufweisen. Es wird erkannt, dass in diesem System individuelle Handlungen, wechselseitige Transaktionen und staatliche Regulierungen neben den beabsichtigten Folgen auch erwünschte oder unerwünschte Fern- und Nebenwirkungen haben können.
Rahmenbedingungen des Wirtschaftens verstehen und mitgestalten: Diese Fähigkeit erlaubt die sachkundige Beurteilung der institutionellen Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns auf Märkten im Hinblick auf ihre Funktionalität beziehungsweise Dysfunktionalität zur Erreichung wirtschaftspolitischer Ziele. Die ordnende, gestaltende und ausgleichende Rolle, die dem Staat in der Sozialen Marktwirtschaft zukommt, wird verstanden.
Konflikte perspektivisch und ethisch beurteilen: Diese Fähigkeit enthält die Beurteilung konfliktärer Interessen nebst der Austragung beziehungsweise Lösung von Konflikten (insbesondere von Verteilungskonflikten) durch Individuen, Verbände und Interessengruppen sowie durch institutionelle Arrangements nach (wirtschafts-)ethischen Maßstäben der Freiheit, Wohlfahrt, Sicherheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung.
Leistungen und Defizite.
Der DeGöB ist es insgesamt gelungen, drei Merkmale guter Bildungsstandards zu realisieren:
Fachlichkeit, die Bildungsstandards beziehen sich auf einen bestimmten Lernbereich und arbeiten die Grundprinzipien der Disziplin beziehungsweise des Unterrichtsfachs klar heraus; Fokussierung, die Standards decken nicht die gesamte Breite des Lernbereiches beziehungsweise Faches ab, sondern konzentrieren sich auf dessen Kern; Kumulativität, die Standards beziehen sich auf die Kompetenzen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt im Verlauf der Lerngeschichte aufgebaut worden sind.
Es sind allerdings Mängel sowohl hinsichtlich der Kompetenzen als auch der Standards zu konstatieren, die hier im Einzelnen nicht dargelegt werden können. Die Abgrenzung der Domäne ist unscharf, die Kompetenzbeschreibungen sind bisweilen unvollständig, und bei der Zuordnung von Standards zu Kompetenzen fallen Ungereimtheiten auf. Widersprüchlich ist, dass ähnliche Bildungsstandards unterschiedlichen Kompetenzen zugeordnet werden. Daher sind Zweifel angebracht, dass diese "Big Five" der ökonomischen Bildung einer Faktorenanalyse standhielten. Allerdings fehlt es dafür an jenen Aufgabenbeispielen, die ebenso angekündigt wurden wie ein noch ausstehendes Kerncurriculum.
Der größte Mangel ist darin zu sehen, dass kein elaboriertes, theoretisch fundiertes und empirisch bewährtes Kompetenzmodell vorgelegt wurde.
Überdies liegt dem DeGöB-Vorschlag zumindest ein implizites Kompetenzmodell zugrunde.
Neues Kompetenzmodell und Bildungsstandards
Als Alternative zur Identifikation eines latenten, normativen Konsenses über die Bildungsziele der Schule empfehlen Klieme et al.
Beitrag der ökonomischen Bildung zur Allgemeinbildung.
Alle von der KMK verabschiedeten Standards werden durch ein Kapitel eingeleitet, das den Beitrag des Faches zur Bildung darlegt. Zwar folgte der DeGöB-Vorschlag nicht dieser Form, doch definierte man ökonomische Bildung durchaus in diesem Sinne ganz allgemein als "das individuelle Vermögen sich in ökonomisch geprägten Lebenssituationen und Entwicklungen einer immer schneller sich verändernden Wirtschaftswelt zu orientieren, zu urteilen, zu entscheiden, zu handeln und mitzugestalten. Ökonomische Bildung soll Menschen zu einem mündigen Urteil, zur Selbstbestimmung und zur verantwortlichen Mitgestaltung befähigen."
In der hier in Rede stehenden Ausarbeitung wird ökonomische Bildung eingangs - nahezu, aber eben nicht genau deckungsgleich - auf drei Leitideen verpflichtet: Mündigkeit, Tüchtigkeit und Verantwortung. Ziel der ökonomischen Bildung müsse es sein, dass der Mensch seine Interessen in Wirtschaft und Gesellschaft mündig vertreten, sachkundig urteilen und verantwortlich handeln könne. Bemerkenswert ist, dass die DeGöB das Ziel der "Tüchtigkeit" bzw. "Fachkompetenz" in keinem der drei Dokumente erwähnte, obwohl die Befähigung zur Bewältigung ökonomisch geprägter Lebenssituationen als Ziel ausgewiesen wurde. Dabei hat die Trias von Mündigkeit, Tüchtigkeit und Verantwortung in der Wirtschaftsdidaktik eine lange Tradition. Schon bei Hans-Jürgen Albers findet man die Auffassung, dass sie eine nicht aufspaltbare Einheit sei.
Neues Kompetenzmodell.
Um zu fundierten Standards für ein Fach zu kommen, müssen die domänenspezifischen Kompetenzen von denen aus anderen Fächern (Domänen) konzeptionell klar abgegrenzt werden.
Diese Eigenart der Wissenschaften ist nicht zuletzt der Erkenntnistheorie geschuldet. Der Philosoph Karl Popper spricht in diesem Zusammenhang von der "Scheinwerfer-Theorie" der Erkenntnis. Schon bei ihm und nicht erst bei den radikalen Konstruktivisten findet sich die erkenntnistheoretische Position, dass Empirie nur im Lichte von Theorie möglich sei, dass der Geist sich seine Welt selbst erschaffe. Ausgehend von einer gemäßigt konstruktivistischen Grundhaltung muss die Domäne folglich über die Perspektive der Erkenntnisgewinnung definiert und abgegrenzt werden. Es sind die fachtypischen Denkschemata und Erkenntnismethoden, die in Bildungsprozessen die Einnahme der ökonomischen Perspektive gewährleisten.
Als spezifisches Erkenntnisinteresse des Ökonomen wird die Verbesserung der (wirtschaftlichen) Situation (eines Individuums, einer sozialen Gruppe, einer Gesellschaft und der Menschheit) angesehen. Sein wichtigster, wenn auch nicht alleiniger Beurteilungsmaßstab für alternative Handlungen, Interaktionen und Systeme ist die Effizienz. Demzufolge muss es in der ökonomischen Bildung um die Entwicklung von Kompetenzen gehen, die das Individuum befähigen, besser respektive effizient zu wirtschaften - gleich in welchem Gegenstandsbereich.
Die ökonomische Perspektive wird im vorliegenden Kompetenzmodell dadurch lebensweltlich konkret, dass sie mit - in der Wirtschaftsdidaktik gängigen - wirtschaftlichen "Rollen" verbunden wird: der Rolle des Verbrauchers im weitesten Sinne (Konsumenten, Geldanleger, Kreditnehmer, Versicherungsnehmer), des selbstständig und unselbstständig Erwerbstätigen und des Wirtschaftsbürgers. Mit ihrer Hilfe werden ökonomisch geprägte Lebenssituationen identifiziert, auf deren kompetente Bewältigung Schülerinnen und Schüler vorbereitet werden sollen. Diese Rollenkonzepte strukturieren die ökonomisch geprägte Lebenswelt, nicht die Kompetenzbereiche ökonomischer Bildung, denn es gibt nicht die Kompetenzen eines Verbrauchers, Arbeitnehmers, Unternehmers oder Wirtschaftsbürgers. Kompetenzen sind an ihren Träger gebunden, nicht an die spezifische Situation, in der sie gebraucht werden. Seine Kompetenzen nimmt das Individuum deshalb auch mit, wenn (es) die Situation wechselt. Durch einen kompetenzorientierten Ökonomieunterricht sollen die Schülerinnen und Schüler mit einem überschaubaren Bündel an Kompetenzen ausgestattet werden, das sie die ökonomischen Anforderungen in unüberschaubar vielen ökonomisch geprägten Lebenssituationen mündig, tüchtig und verantwortlich bewältigen lässt.
Das neue Kompetenzmodell weist, entsprechend den Empfehlungen der Klieme-Expertise, Kompetenzbereiche aus und spezifiziert diese durch Teilkompetenzen:
Kompetenzbereich "Entscheidung und Rationalität" (des Einzelnen) mit den Teilkompetenzen Situationen analysieren, Handlungsalternativen bewerten und Handlungsmöglichkeiten gestalten;
Kompetenzbereich "Beziehung und Interaktion" (mit Anderen) mit den Teilkompetenzen Interessenkonstellationen analysieren, Kooperationen analysieren, bewerten und gestalten, Beziehungsgefüge analysieren;
Kompetenzbereich "Ordnung und System" (des Ganzen) mit den Teilkompetenzen Märkte analysieren, Wirtschaftssysteme und Ordnungen analysieren, Politik ökonomisch beurteilen und gestalten.
Neue Standards ökonomischer Bildung.
Die genannten Kompetenzbereiche und Teilkompetenzen sind schulstufen- und schulformunabhängig, eignen sich daher als Grundlage der Standards aller Schularten und -abschlüsse. Dies ist notwendig, weil von Kompetenzen überhaupt nur dann gesprochen werden kann, wenn grundlegende Zieldimensionen innerhalb eines Faches benannt werden, "in denen systematisch, über Jahre hinweg Fähigkeiten aufgebaut werden".
Bei der geforderten Stufung der Kompetenzen kommt die erwähnte Perspektivendifferenzierung zum Tragen: Es wird eine Teilnehmer- und eine Beobachterperspektive oder auch individuelle und Ordnungsperspektive unterschieden.
Neben der Unterscheidung von Akteurs- und Systemperspektive wird die Komplexitätsentwicklung in den einzelnen Feldern wirtschaftlichen Handelns und ökonomischen Denkens für die Identifikation von Kompetenzstufen genutzt. Zusammen genommen erlaubt dies die Modellierung einer kumulativen Kompetenzentwicklung, wie sie die KMK vorsieht - in der Grundschule gelegte Strukturen werden in der nächsten Schulstufe fortgeführt. Wie für Bildungsstandards gefordert, ermöglicht dies anschlussfähiges Lernen: Basiswissen wird im Rahmen individueller Erfahrungshorizonte erworben und bildet den Ausgangspunkt für die Erfassung und Unterrichtung komplexer Sachverhalte. Im Entwicklungsverlauf sind die Schülerinnen und Schüler zunehmend in der Lage, ökonomische Fachbegriffe und Denkoperationen sowie diesen zuzuordnende Verfahren zu verwenden. Der wissenschaftspropädeutische Bildungsauftrag der gymnasialen Oberstufe erfordert schließlich die Einübung von (ökonomischen) Methoden der Erkenntnisgewinnung und Hypothesenprüfung.
Exemplarische Aufgabenbeispiele.
Die in Bildungsstandards festgehaltenen Leistungserwartungen lassen noch offen, welche Leistungen bei der Lösung von Aufgaben gezeigt werden müssen, damit die Standards als erreicht gelten können.
Die exemplarische Auswahl der Lebenssituationen in den Aufgabenbeispielen folgt dem Prinzip der Horizonterweiterung. Während für die Grundschule überwiegend Konsumsituationen und gelegentlich bereits Arbeitssituationen ausgewählt werden, werden in den Sekundarstufen I und II Situationen der Geldanlage oder Kreditaufnahme sowie der Berufsausbildung oder Unternehmensgründung thematisiert.
Desiderate der Forschung und Entwicklung
Zunächst steht vor allem eine empirisch abgesicherte Validierung des Kompetenzmodells aus. Klieme zufolge ist dies ein für alle Bildungsstandards wünschenswertes Ziel.
Wenn der schulische Unterricht individuelle Kompetenzen aufbauen soll (statt träges Wissen zu vermitteln), ist es nur folgerichtig, wenn der Lernerfolg an den Kompetenzen und nicht bloß an den gespeicherten Kenntnissen festgemacht wird. Dies ist - nicht nur in der ökonomischen Bildung - eine Herausforderung für die pädagogische Diagnostik. Damit Bildungsstandards ihre qualitätssichernde Funktion erfüllen, müssen zu ihrer Überprüfung valide, zuverlässige und objektive Messinstrumente entwickelt werden, die im Rahmen des Bildungsmonitorings "großflächig und ökonomisch" eingesetzt werden können.
Man kann die Erkenntnislücke, die diesbezüglich klafft, nicht im Handstreich schließen. Dass empirische gesicherte Bildungsstandards einer längeren Entwicklungsarbeit bedürfen, wird von den Auguren der Standardisierung konzediert.