Einleitung
Es gibt heute einen breiten Konsens darüber, dass ökonomische Bildung ein integraler Bestandteil zeitgemäßer Allgemeinbildung ist.
Der institutionelle Rahmen in Schulen hat dem Anspruch und der Komplexität ökonomischer Bildung angemessen Rechnung zu tragen. Nur so kann eine lern- und bildungswirksame Bearbeitung der zahlreichen, zum Teil auch in diesem Heft dargestellten Aufgabenfelder der ökonomischen Bildung gewährleistet werden (z.B. Erziehung zu mündigen Wirtschaftsbürgern, Verbraucherbildung, finanzielle Allgemeinbildung, Entrepreneurship-Education, Berufsorientierung). Es geht uns deshalb im Folgenden um die Frage, inwiefern die existierenden Institutionalisierungsvarianten eine ökonomische Bildung im notwendigen Umfang und mit der notwendigen Systematik ermöglichen oder behindern.
Institutionalisierte Lehr-Lern-Prozesse
Das Bildungswesen ist ein Wirklichkeitsbereich, der von institutionellen Regelungen wie Erlassen, Gesetzen oder Lehrplänen geradezu bestimmt wird.
Der entscheidende institutionelle Handlungsrahmen für schulische Lehr-Lern-Prozesse ist das Schulfach.
Zur Verdeutlichung ein kleines Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, Deutsch als eigenständiges Schulfach würde abgeschafft. Begründet würde dies damit, dass eine bessere Vernetzung mit anderen schulischen Anliegen ermöglicht und eine "disziplinäre Verengung"
Es ist zu vermuten, dass gegen eine solche Regelung begründeter Widerstand aufkommen würde. Querschnittsaufgaben ohne klare strukturelle und personelle Zuweisungen münden nicht selten in institutionalisierter Verantwortungslosigkeit. Das Scheitern der Rahmenvorgabe für die ökonomische Bildung in der Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen hat dies deutlich gezeigt.
Ökonomische Bildung im Integrationsfach
In Integrationsfächern werden mehrere domänenspezifische Bildungsanliegen innerhalb eines Faches unterrichtet. Solche Integrationsfächer sind im allgemeinbildenden Schulwesen in Deutschland fast ausschließlich im gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld zu finden. Um die besonderen Herausforderungen zu verdeutlichen, die damit verbunden sind, soll das oben skizzierte Gedankenexperiment fortgesetzt werden: Man stelle sich vor, dass das Fach Deutsch abgeschafft werden solle und stattdessen in der Sekundarstufe I geplant sei, ein Integrationsfach "Germanische Sprachen" einzurichten, in welchem die Grundlagen der deutschen und englischen Sprache integrativ vermittelt werden sollen. Aufgrund seines integrativen Charakters biete dieses Fach auch Anknüpfungspunkte an nordgermanische Sprachen wie beispielsweise Schwedisch oder Dänisch. In der gymnasialen Oberstufe sollen auf Beschluss der Schulkonferenz ein Schwerpunkt Literatur im Rahmen des Faches Geschichte und ein Schwerpunkt Rhetorik im Fach Politik möglich werden. Besonders gefördert würden darüber hinaus Schulen, die sich an den Wettbewerben der Stiftung Lesen beteiligen.
Diese Idee klingt absurd, für die ökonomische Bildung wird sie aber in vielen Bundesländern in Form von Integrationsfächern wie Sozialwissenschaften, Gemeinschaftskunde oder Wirtschaft/Politik konkretisiert. Die zentrale inhaltliche Begründung für ein gesellschaftswissenschaftliches Integrationsfach lautet, dass Schülerinnen und Schülern eine multiperspektivische Sicht auf soziale Phänomene und gesellschaftliche Probleme ermöglicht werden solle, weil es zwischen den Realbereichen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zahlreiche Interdependenzen gebe.
Multiperspektivität zu fordern ist leicht, sie umzusetzen ist hingegen so voraussetzungsvoll, dass begründete Zweifel existieren, ob Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler dies im Rahmen eines Integrationsfachs leisten können. Dabei genügt es nicht, im restriktionsfreien Raum eine Vision davon zu entwickeln, wie in einem sozialwissenschaftlichen Unterricht Problemstellungen aus Sicht von drei Disziplinen umfassend bearbeitet werden könnten.
Multiperspektivität ist ein wichtiges Bildungsziel der allgemeinbildenden Schule, weil sie die Entwicklung von Mündigkeit fördern kann. Der unmittelbare Schluss von der Multiperspektivität schulischen Lernens auf ein Integrationsfach ist aber unzulässig.
Die Forderung nach einem Integrationsfach kann Multiperspektivität sogar gefährden. Dies ist dann der Fall, wenn die für die einzelnen Disziplinen eines Integrationsfaches vorgesehenen Zeitkontingente in Schule und Hochschule so knapp bemessen sind, dass weder in der Lehrerausbildung noch im schulischen Unterricht der Aufbau von Perspektivität gelingen kann. Reinhold Hedtke ist zuzustimmen, wenn er fordert, dass "eine handlungsorientierte Wirtschaftsdidaktik (...) von praktischen wirtschaftlichen Problemlagen der Lernenden ausgehen und ihnen dazu passendes Wissen vermitteln (muss)".
Aufgrund der knappen Zeit, die für ein Schulfach zur Verfügung steht, erscheint die Fokussierung auf eine relevante Bezugsdisziplin nicht nur hilfreich, sondern auch notwendig. Multiperspektivität setzt Perspektivität voraus, und der Aufbau von Perspektivität ist eine zeitaufwendige und herausfordernde Bildungsaufgabe. Die mit einer Perspektivierung von Problemen verbundene Einseitigkeit der Betrachtung ist kein Nachteil, sondern vielmehr eine Notwendigkeit: "Jede Perspektive ist einseitig und niemals ganzheitlich. Ohne einen Fokus wird der Blick nämlich unscharf."
Ein weiteres zentrales Problem von Integrationsfächern ist, dass sie (fast) nichts ausschließen und damit die Bildungsprozesse in diesen Fächern der Beliebigkeit ausgesetzt sind. Problematisch wird dies vor allem dadurch, dass im Integrationsfach kein einheitliches fachlich fundiertes Grundverständnis existiert. Das führt dazu, dass das Prinzip der Exemplarität als Auswahlhilfe für Unterrichtsthemen an Gestaltungskraft verliert, weil in einem Integrationsfach nicht klar bestimmt werden kann, was das Wesentliche, Grundlegende, Typische, Strukturelle ist. Exemplarität kann nur kategorial unter Rückbindung an das bewährte Wissen einer Disziplin ermittelt werden.
Ökonomische Bildung in einem eigenen Schulfach
Schulfächer sind historisch gewachsen,
Damit ein Schulfach Hilfestellungen für konstruktivistische Erkenntnisleistungen bereitstellen kann, sind klare Fachstrukturen notwendig, die Ordnung in kognitive Prozesse bringen. Ein eigenständiges, an eine Bezugsdisziplin angebundenes Schulfach kann einen kategorial legitimierten, an Lebenssituationen exemplifizierten und domänenbezogenen Kompetenzerwerb ermöglichen. Die Gegenstände eines solchen Unterrichtsfaches sind exemplarisch. Die Perspektive hingegen, verstanden als methodisch gestützte Wahrnehmung von Lebenssituationen und Problemen, ist das domänenspezifische Proprium des Faches: "Was der Lerner in der Beanspruchung durch das Fach erwirbt, sind Muster der Bearbeitung von Erfahrungen: In diesem Sinne könnte man auch sagen, jedes Fach enthalte eine Art Grammatik. Sein Aufbau bestimmt sich dementsprechend mehr durch die Paradigmen der Behandlung als durch die erworbenen Wissensinhalte."
Aus den hier genannten Gründen wird für die als notwendig erachtete ökonomische Bildung von Wissenschaftlern, Politikern, Lehrkräften, Eltern und Schülern seit vielen Jahren ein eigenständiges Schulfach Wirtschaft im allgemeinbildenden Schulwesen gefordert. Es gibt aber Kritiker einer solchen institutionellen Lösung. So sehen beispielsweise Reinhold Hedtke u.a. "erhebliche Risiken" darin, die ökonomische Bildung in einem eigenständigen Fach zu verorten.
Problematisch ist vor allem, dass die Argumente gegen ein Schulfach Wirtschaft in weiten Teilen nicht fachdidaktisch, sondern verteilungspolitisch motiviert sind.
Diese Verteilungskonflikte können an einem Beispiel deutlich gemacht werden: Seit dem Jahr 2006 werden in Niedersachsen die politische und die ökonomische Bildung zu gleichen Teilen in einem Schulfach Politik-Wirtschaft unterrichtet. Der aktuelle Bundesvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Politische Bildung (DVPB) hat diese Entwicklung als "Stärkung des Wirtschaftsbereiches auf Kosten der politischen Bildung" bezeichnet.
Eine solche verteilungspolitisch motivierte Abwehr ist rational durchaus nachvollziehbar, und sie kann als Beleg dafür gesehen werden, dass auch in anderen Fachdidaktiken ein eigenständiges Schulfach als wichtig erachtet wird. Interessant und gleichsam verwunderlich ist hingegen, dass als Lösungsansatz für eine vermeintliche Ökonomisierung der politischen Bildung eine Politisierung der ökonomischen Bildung vorgeschlagen wird.
Implikationen für die wirtschaftsdidaktische Lehre und Forschung
Die mangelnde institutionelle Absicherung der ökonomischen Bildung in der Schule hat zur Folge, dass der Unterricht oftmals von Lehrkräften ohne einschlägige Fakultas erteilt wird.
Zu berücksichtigen sind außerdem die Implikationen für die Forschung. Mit einem interdisziplinären Fachverständnis, das - wie aufgezeigt - weder der Komplexität der Bezugsdisziplinen noch den Gegebenheiten des Schulalltags Rechnung trägt, können keine zielgerichteten fachdidaktischen Forschungsperspektiven entwickelt werden. Dies wiederum begünstigt die mangelhafte Verankerung der ökonomischen Bildung in den schulischen Lehrplänen der meisten Bundesländer. Auf die wechselseitigen Kausalitäten zwischen einem fehlenden Schulfach, unzureichender Lehrerqualifizierung und fachdidaktischer Forschung im Sinne eines "didaktischen Armutskreislaufes" sei an dieser Stelle nur verwiesen.
Resümee
Die Bildungsprozesse und -ergebnisse in den Fächern des gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeldes sind - sofern möglich und sinnvoll - zueinander in Beziehung zu setzen. Die im Unterricht zu thematisierenden Lerngegenstände überschneiden sich zum Teil und sind darüber hinaus durch Interdependenzen gekennzeichnet. Daraus zu schlussfolgern, dass alle gesellschaftswissenschaftlichen Fächer innerhalb eines Faches im Rahmen von zwei oder drei Wochenstunden an Schulen unterrichtet werden sollen, missachtet die fachdidaktischen, lerntheoretischen und schulorganisatorischen Erfolgsbedingungen für institutionalisierte Lehr-Lern-Prozesse.
Der bis dato erfolgreichste Weg zur Förderung von Perspektivität - als Voraussetzung von Multiperspektivität - und zur Ermöglichung des Aufbaus domänenbezogener Kompetenzen ist im deutschen Schulwesen die Etablierung eines eigenständigen Schulfaches für die jeweilige Domäne. Jedes seriöse Bildungsanliegen ist im deutschen allgemeinbildenden Schulwesen auf die Fachstruktur angewiesen, und je ausgeprägter diese Struktur ist, umso mehr Chancen werden dem Aufbau von Kompetenzen in diesem Bereich ermöglicht. Zu behaupten, dass man mit einem Drittel der für ein Fach zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit und einem Drittel des für ein Unterrichtsfach vorgesehenen Workloads in der Lehrerausbildung einem Bildungsanliegen (hier: ökonomische Bildung) bessere Rahmenbedingungen bieten kann als mit einem eigenständigen Unterrichtsfach, erscheint in hohem Maße unplausibel. "Die (...) Vorstellung, Ökonomie könne an Schulen als Teilgebiet von Politik (oder eines anderes Fachs) unterrichtet werden, bedeutet einen Rückfall in längst überholt geglaubte Zeiten. Sie ist weder fachwissenschaftlich noch fachdidaktisch haltbar. Sie schadet dem Anliegen sowohl der ökonomischen als auch der politischen Bildung, und sie schürt eine sachlich nicht gebotene Rivalität, wo Kooperation, gegenseitige Ergänzung und offensives Eintreten für gemeinsame Ziele angesagt sind."
Anstelle von "Eingemeindungsversuchen" sollten zwischen den affinen Fachdidaktiken konstruktive Kooperationen angestrebt werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass die ökonomische Bildung wie auch die kooperierenden Fachdidaktiken im Schulunterricht, der universitären Lehrerausbildung und Forschung angemessen weiterentwickelt werden können.