Einleitung
Religion und Säkularität - das mag für manche wie die Vereinigung von Feuer und Wasser klingen. Sind Religionen nicht natürliche Gegner einer weltlich orientierten und auf religionsneutralen Institutionen aufgebauten Ordnung? Tatsächlich haben vor allem die monotheistischen Religionen mit ihren weitreichenden Geltungsansprüchen lange gebraucht, bis sie bereit waren, ihren Frieden mit säkularen Ordnungen zu schließen. Im christlichen Spektrum hat die katholische Kirche diesen Schritt nachhaltig erst im Jahr 1965 mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil vollzogen. Immer noch finden sich - stark modifizierte - Staatskirchensysteme in mehreren europäischen Staaten. Auch im Judentum scheint die Lage noch nicht gänzlich geklärt zu sein. Das Modell des Staates Israel als "jüdische Demokratie" nährt eine noch nicht abgeschlossene Debatte in Israel über das Verhältnis beider Sphären.
Vor allem der Islam und sein Normensystem (Scharia) werden von vielen Nichtmuslimen, aber auch manchen Muslimen als der gegenwärtige Bedrohungsfaktor für säkulare demokratische Rechtsstaaten angesehen.
In den vergangenen Jahren ist ein aggressiver islamischer Extremismus ("Islamismus"
Spätes Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft
Angesichts der regelmäßig wiederkehrenden, oftmals wenig differenzierten Islamdebatten ist es nicht immer leicht, die Sachanalyse in den Vordergrund zu stellen. Symptomatisch sind einige kritische Reaktionen auf die Feststellung des Bundespräsidenten Christian Wulff im Oktober 2010, wonach auch der Islam mittlerweile zu Deutschland gehört.
Anders als in klassischen Einwanderungsländern wie Kanada, den USA oder Australien wird hierzulande Migration von vielen immer noch weit mehr als Bedrohung denn als Chance wahrgenommen. Tatsächlich hat die Zuwanderungspolitik der vergangenen Jahrzehnte vorwiegend eher wenig ausgebildete Arbeitskräfte für die Verrichtung einfacher und körperlich anstrengender Tätigkeiten ins Land gebracht. Deren Arbeitsplätze sind aufgrund des wirtschaftlichen Strukturwandels der vergangenen Jahrzehnte weitgehend weggefallen. Anders als zunächst allseits erwartet, ist ein erheblicher Teil dieser Menschen auf Dauer im Land geblieben, ohne dass die notwendigen institutionellen Reaktionen beispielsweise im Bildungsbereich erfolgt wären. Erst in den vergangenen Jahren hat sich dies geändert. Hinzu kommt, dass sich vor allem seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die öffentliche Wahrnehmung von Migranten verändert hat: Zum einen gab es eine diskursive Verschiebung, die sich nunmehr weniger auf "Ausländer" und mehr auf "Muslime" konzentriert, zum anderen dominiert die defizitorientierte Sicht auf die Migranten.
Vielfältige Erfahrungen aus öffentlichen Veranstaltungen zeigen, dass oft umstandslos Probleme mangelnder Sprachbeherrschung und die damit verbundenen Schwierigkeiten im Hinblick auf Bildung und Arbeit, Diskriminierung oder kulturell bedingte Verhaltensweisen (wie das Ehrverständnis oder die Kommunikationskultur) mit der Religion des Islams vermischt werden. Schon deshalb ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung die Themenfelder "Integration" und "Islam" inhaltlich und institutionell getrennt hat, indem nicht nur eine - religionsorientierte - Islamkonferenz etabliert wurde, sondern auch Integrationsgipfel stattfanden und andere integrationsbezogene Aktivitäten entfaltet werden.
Der säkulare Rechtsstaat hat sich bei allen Unvollkommenheiten als das historische Erfolgsmodell erwiesen. Frieden und Wohlstand scheinen auf seiner Grundlage am besten zu gedeihen. Gerade Deutschland hat in der Folge des nationalsozialistischen Terrorstaats und des DDR-Unrechtsregimes allen Anlass, sich eine an der Menschenwürde orientierte, freiheitliche, aber auch wehrhafte Ordnung zu geben. Die aus guten Gründen teils mit Unterstützung, teils gegen erbitterten Widerstand von Religionsvertretern entstandene säkulare Trennung von Religion und staatlicher Machtausübung zählt zu den unverzichtbaren Grundlagen einer solchen staatlichen Ordnung.
Wird sie durch den Islam gefährdet? Wenn Moscheen errichtet werden, wenn Empfehlungen zum Umgang mit muslimischer Religion in Schulen gegeben werden,
Deutsche Rechtsordnung als unumstößliche Grundlage
Notwendiger Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass allein die deutsche Rechtsordnung in allen rechtlich relevanten Bereichen darüber entscheidet, welche Normen in welchem Umfang und innerhalb welcher Grenzen durchgesetzt werden können. Auf dieser Stufe der Letztentscheidung ist das Recht einheitlich und keineswegs "multikulturell". Vielfalt - auch religiöse Vielfalt - allerdings ist unterhalb dieser Schwelle in erheblichem Umfang möglich, teils erwünscht und sogar geboten. Die Zeiten des "cuius regio, eius religio" ("Wessen Gebiet, dessen Religion") sind vergangen.
Andererseits hat sich Deutschland gegen eine streng laizistische und für eine religionsoffene und neutrale Säkularität entschieden, wie es beispielsweise aus Artikel 4 und Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes sowie dem Religionsverfassungsrecht insgesamt zu entnehmen ist.
Anders als in streng laizistisch orientierten Systemen wie in Frankreich oder der Türkei wird Religion in Deutschland nicht als Bedrohung des staatlichen Machtanspruchs wahrgenommen, sondern als mögliche positive Ressource für das Zusammenleben und die gemeinnützige Sinnstiftung. Nicht nur deshalb sind die Religionen aufgefordert, extremistische Potenziale in den eigenen Reihen ernst zu nehmen und ihnen mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten entgegenzutreten.
Religiöse Normen versus Rechtsnormen
Generell muss zwischen religiösen Normen (wie Beten und Fasten) und Rechtsnormen (wie Vertragsrecht, Familienrecht und Strafrecht) unterschieden werden. Dies ist aus der Sicht des deutschen Rechts erforderlich, aber auch aus islamischer Perspektive möglich und bereits in der frühen Normenordnung des Islams angelegt, wenngleich es durchaus Überschneidungsbereiche zwischen Recht und Religion gibt.
Religiöse Normen, auch solche der Scharia, genießen den Schutz der in Deutschland weitreichenden Religionsfreiheit. Abgesehen von historisch begründeten und immer noch rechtsverbindlichen Sonderregelungen gelten für alle Religionen und Weltanschauungen (es geht hier um Individuen und ihre individuelle Religionsfreiheit oder Organisationen und ihre kollektive Religionsfreiheit, nicht um "die Religion" schlechthin) dieselben Rechte und Pflichten. Unser Verfassungssystem kennt keinen "christlichen Religionsvorbehalt", auch wenn das Christentum sicherlich in besonderer Weise kulturprägend war und es nach wie vor ist. Sie kann aber nur in dieser Funktion auch besondere Rechtsrelevanz gewinnen, beispielweise im Hinblick auf die Inhalte von Lehrplänen. Mit anderen Worten: Was der Mehrheit zusteht, steht auch den Angehörigen kleinerer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu. So gesehen ist es eine schlichte Normalität, dass eine auf Dauer im Lande lebende Bevölkerungsgruppe, zusehends auch als deutsche Staatsangehörige, eine religiöse Infrastruktur aufbaut.
Im Bereich rechtlicher Normen herrscht weitgehend das Territorialprinzip: Jeder Staat wendet die ihm eigenen Sachnormen an. Das gilt annähernd uneingeschränkt für das Strafrecht und das gesamte öffentliche Recht, die das Handeln in staatlicher Souveränität und die Aufrechterhaltung unerlässlicher gemeinsamer Verhaltensstandards zum Gegenstand haben.
Im Bereich des Privatrechts jedoch gelten Besonderheiten dort, wo das Wohl einzelner Privatpersonen bei der Ordnung ihrer Verhältnisse im Vordergrund steht. Deshalb stellt die deutsche Rechtsordnung Regeln für "internationale" Sachverhalte im Hinblick darauf auf, welches Recht im konkreten Fall als das sachnächste anzusehen ist. Man ist also im Grundsatz dazu bereit, auch fremdes Recht anzuwenden, wenn es sachnäher ist als das eigene. So kann es dazu kommen, dass, wie oben erwähnt, ein deutsches Gericht ehevertragliche Ansprüche nach iranischem Recht durchsetzt. Weshalb sollte auch eine Ehefrau nicht Vermögenswerte zur Absicherung nach der Scheidung erhalten können? Was ist anstößig an der Zahlung von Goldmünzen anstelle der Zahlung in einer hoch inflationären Währung? Damit sind jedoch zugleich die Grenzen (sogenannter ordre public) angedeutet: Wo die Anwendung fremden Rechts zu Ergebnissen führen würde, die unseren rechtlichen Grundentscheidungen widersprechen, endet die Bereitschaft zu solcher Rechtsanwendung. Deshalb kann es im Inland ebenso wenig eine - noch dazu nur dem Ehemann vorbehaltene - einseitige Privatscheidung geben noch eine unflexible, patriarchalisch orientierte Zuordnung des Sorgerechts für Kinder nach Alter und Geschlecht oder ein Eheverbot zwischen Musliminnen und Nichtmuslimen, wie es dem traditionellen islamischen Recht entspricht.
Nach alledem gibt es dennoch Grund zur Entwarnung: Maßgeblich für die Rechtssprechung in Deutschland bleibt im Grundsatz und nach den auch international üblichen Maßstäben das deutsche Recht. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch in vielen - nicht allen - islamisch geprägten Staaten wie Marokko, Jordanien oder Ägypten Reformen erkämpft werden, welche die Ungleichbehandlung der Geschlechter und Religionen aufheben oder jedenfalls eindämmen sollen, während andernorts wie in Nigeria oder in Pakistan politisierte Rückschritte ins juristische Patriarchat auf den Weg gebracht wurden. Auch daran zeigt sich die Vielgestalt der Interpretation nur scheinbar einheitlicher Regelungen im Islam.
Gefährdung durch den Islam?
Ist der demokratische Rechtsstaat, der Einheit und individuelle Gestaltungsfreiheit in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen versucht, durch den Islam gefährdet? Eine bündige Antwort auf die so gestellte Frage ist unmöglich: Die Positionen des Islams und der Muslime sind dafür zu vielgestaltig, da auch der Islam alles andere als ein monolithischer Block ist. Deshalb müssen wir die Situation in Deutschland und Europa gesondert von der in anderen Teilen der Welt betrachten. Die Unterscheidung ist wichtig, weil Muslime gerade in freiheitlichen Rechtsstaaten offen und ohne machtpolitischen Druck über Fragen ihrer Religion debattieren und publizieren können.
Andererseits ist es ebenso wahr wie beklagenswert, dass insbesondere in weiten Teilen der arabischen Welt offene Debatten über die hier behandelten Fragen nicht geführt werden können, weil dort Menschenrechte unterdrückt werden, worunter auch die Meinungsfreiheit leidet und die Entwicklung von offenen Diskursräumen verhindert wird. Neben vielen politischen Ursachen ist dieser Zustand auch dadurch bedingt, dass eine breite, intolerante Schicht von Religionsgelehrten und religiösen Autodidakten durch solche Debatten ihre Macht bedroht sieht oder generell extrem intoleranten Spielarten des Islams folgt, wie beispielsweise dem in Saudi-Arabien dominierenden Wahhabismus.
Zunächst ist festzuhalten, dass neben den vielen schon im Inland geborenen oder hier sozialisierten deutschen Muslimen auch diejenigen vom Balkan oder aus der Türkei in einer rechtskulturellen Umgebung aufgewachsen sind, die sich seit vielen Jahrzehnten an europäischen Staats- und Rechtssystemen orientieren und sich explizit von islamrechtlich ausgeprägten Systemen abgewandt haben. Aber auch unter Muslimen aus anderen Teilen der vom Islam geprägten Welt finden sich Anhänger des demokratischen Rechtsstaats in großer Zahl. Nicht wenige von ihnen sind den dortigen, säkular oder religiös legitimierten Diktaturen entflohen.
Breit angelegte Untersuchungen in Deutschland aus jüngerer Zeit belegen,
Innerislamische Meinungsvielfalt
Muss man sich dafür vom Islam schlechthin abwenden, wie es eine kleine, aber lautstarke Zahl ideologisierter Islamkritiker behauptet? Eine solche Haltung spiegelt eine profunde Unkenntnis der Materie wider. Das Normensystem des Islams, die Scharia, ist auch und gerade in ihren diesseitsbezogenen rechtlichen Anteilen alles andere als ein unveränderliches Gesetzbuch. Auch der Islam trennt schon seit seiner Frühzeit Diesseits und Jenseits, religiöse und rechtliche Sachverhalte, auch wenn es mancherlei Verbindungen und Verflechtungen gibt. Auch im Islam wurde seit jeher die Frage erörtert, welche Normen in welchem Kontext und in welcher Weise zu interpretieren sind.
In der kulturellen Blütezeit des islamischen Mittelalters, aber auch wieder in der Gegenwart wird dem eigenständigen Nachdenken und Interpretieren (Idschtihad) der religiösen Quellen breiter Raum gegeben. Bereits bei der Frage, welche Normen in welchem Verhältnis zueinander stehen, und ob die eine die andere außer Kraft setzen kann, wurden und werden die unterschiedlichsten Meinungen vertreten. Auch der Koran als oberste normative Quelle enthält keinerlei eindeutige Aussagen zu Staatsaufbau und Rechtssystem sowie zu den Menschenrechten. Immer sind es Menschen, die geprägt von Ausbildung, Vorverständnis sowie dem historischen und sozialen Kontext die Normen nach Geltung und Inhalt zu interpretieren haben, und die demgemäß zu sehr diversen Ergebnissen kommen.
Unter denjenigen, die religionsbezogene Positionen beziehen, finden sich Traditionalisten ebenso wie solche, die sich auch mental-intellektuell in Deutschland und Europa "einheimisch" fühlen. Anders als die Traditionalisten sehen sie muslimisches Leben hierzulande nicht als strukturellen Ausnahmezustand an, in dem man sich mit Kompromisslösungen zurechtfinden muss, sondern begreifen ihre Lebenssituation als die neue Normalität eines Islams in religionspluralen Gesellschaften und religionsneutralen Staaten. Diese Richtung ist insbesondere im schulischen und akademischen Bereich sowie in Nichtregierungsorganisationen besonders häufig anzutreffen. Dies spricht dafür, dass der zu etablierende islamische Religionsunterricht an Schulen, die entsprechende universitäre Ausbildung der Lehrkräfte und die Etablierung einer islamischen Theologie an Universitäten den wünschenswerten Prozess muslimischer Selbstreflexion und -bestimmung im Rahmen des säkularen Rechtsstaats deutlich voranbringen werden.
Explizite Gegner des säkularen demokratischen Rechtsstaats bilden eine vergleichsweise kleine, aber gefährliche Richtung in Gestalt des "Islamismus". Dies ist eine auch im Spektrum des Islams durchaus neue politische Richtung, wenngleich sie sich fälschlich als Vertreter einer Rückbesinnung auf den "wahren Islam" ausgibt. Das traditionelle islamische Staatsrecht ist seit seiner Frühzeit ausgesprochen vage und lässt die unterschiedlichsten Herrschaftsmodelle zu. Folgerichtig finden sich in der Neuzeit auch viele Gelehrte, welche die Demokratie als das System des Islams im 20. und 21. Jahrhundert ansehen. Dagegen richten sich Islamisten mit der Parole, alleine Gott könne Gesetzgeber sein, weltliche Mehrheitsentscheidungen ohne Letztorientierung auf den Islam hin seien inakzeptabel und zu bekämpfen. Nichtmuslimen wird nur eine zwar im Grundsatz geschützte, aber von Gleichberechtigung weit entfernte Position zugewiesen.
Es geht diesen Ideologen also primär um die Durchsetzung des eigenen Machtanspruchs im religiösen Gewand, wobei nur ein geringer Teil von ihnen unmittelbar zur Gewaltanwendung greift (sogenannter Dschihadismus), während die meisten eine legalistische Strategie über Bildungs- und Sozialeinrichtungen verfolgen. Der Iran der Gegenwart ist ein Realität gewordenes Modell solcher Haltungen. Einschlägige extremistische Aktivitäten entfaltet in Europa beispielsweise die Gruppierung Hizb al-Tahrir. Zu nennen sind aber auch diejenigen, die hier lebende Muslime zu scharfer Abgrenzung gegen Christen und Nichtmuslimen generell anhalten und sie zur Bildung von Parallelstrukturen aufrufen ("Unterwerft euch nicht den Entscheidungen der Ungläubigen!"), wie es weit verbreiteten Fatwa-Bänden der prominenten saudi-arabischen Gelehrten Ibn Baz und al-Uthaymeen zu entnehmen ist.
Solche Positionen stoßen allerdings auch in der islamisch geprägten Welt auf Ablehnung. Nicht zuletzt sind insbesondere unter Jüngeren populäre, charismatische Personen zu nennen, die nicht über Herrschaftsmodelle diskutieren, sondern im Wege gesellschaftlicher Fundamentalkritik letztlich einen auch politischen Ausschließlichkeitsanspruch propagieren. Auch sie erscheinen trotz ihres besonderen Infiltrationspotenzials indes nicht mehrheitsfähig zu sein.
Nach alledem ist es grundlegend verfehlt, "den Islam" auf eine nur fiktive Essenz festzulegen und daraus einen Gegensatz zum säkularen Rechtsstaat zu konstruieren. Wer so vorgeht, unterstützt im Grunde das Geschäft des Islamismus. Ein Mangel an analytischen Fähigkeiten und wissenschaftlicher Redlichkeit zeigt zudem eine gelegentlich anzutreffende Vergleichsperspektive, welche das Deutschland der Gegenwart mit der islamischen Welt der Vergangenheit in Beziehung und Gegensatz zueinander setzt, damit aber auf die gegenwärtig hier lebenden Muslime abzielt. Der neue Volkssport, in Leserbriefen und Internetblogs Koransuren aus ihrem textlichen und interpretativen Kontext zu reißen und daraus ein Bedrohungsszenario zu konstruieren, ist ein Dokument dieser Ignoranz.
Perspektiven
Der Islam steht nicht im strukturellen Gegensatz zum säkularen demokratischen Rechtsstaat. Positionen muslimischer Extremisten lassen sich nicht verallgemeinern und sind unter Muslimen auch nicht mehrheitsfähig. In der Folge darf sich die notwendige Bekämpfung des islamischen Extremismus nicht gegen Muslime insgesamt richten. Sie bilden keineswegs eine "Gegengruppe" zur sonstigen Bevölkerung, sondern sind Teil der deutschen Gesamtgesellschaft. Als in ihrer übergroßen Mehrheit rechtstreue Bürger haben sie Anspruch auf die gleichen Rechte und unterliegen den gleichen Pflichten wie alle anderen.
Die Grundlagen unserer Rechtsordnung müssen immer wieder neu vermittelt werden, durch alle Bevölkerungsgruppen und über die Generationen hinweg. Entsprechende Akzeptanz ist kein Selbstläufer, sondern bedarf gesamtgesellschaftlicher Überzeugungsarbeit in Abwehr und zur Verhinderung jeglicher Formen von Extremismus. Den demokratischen Rechtsstaat lehnen nicht nur Islamisten ab, sondern auch Rechts- und Linksextreme. Gleichzeitig ist es ein unerlässlicher Bildungsauftrag in Richtung der Gesamtbevölkerung, dass die vom Rechtsstaat garantierten Grundrechte nicht nur der Mehrheit zustehen, sondern dass entgegen verbreiteten Ressentiments auch Minderheiten wie Muslime den gleichen religionsverfassungsrechtlichen Schutz genießen. In Zeiten sich häufender Brandanschläge gegen Moscheen muss daran erinnert werden.
Im islamischen Spektrum ist es erforderlich, über alltagspraktische Handhabung hinaus religionsorientierte und religiös vermittelbare Positionen weiterzuentwickeln, die Muslimen auch aus religiöser Sicht einen Weg in die Mitte der Gesellschaft aufzeigen. Ansätze hierfür sind vorhanden und müssen weiter ausgebaut werden. Insbesondere finden sich wesentliche Bereiche inhaltlicher Übereinstimmung in islamischen und säkularen Grundlagennormen (overlapping consensus), die man nutzbar machen kann. So kann auch der Islam positive Beiträge zu gesamtgesellschaftlich relevanten Fragen leisten, Muslime können sich über religiöse Organisationen hinaus - wie es schon zusehends der Fall ist - in nicht religiös ausgerichteten Kontexten einbringen. Das setzt die Bereitschaft zur Öffnung auf allen Seiten voraus. Diese Erkenntnis ist auch psychologisch bedeutsam: Wer mag schon fortwährend als "Problem" wahrgenommen und benannt werden? Nur bei offener und empathischer - nicht blauäugiger - Bereitschaft zur Verständigung kann aus dem schon weitgehend funktionierenden
Missverständnisse im Dialog zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Deutschland sind nicht selten. Verständnisprobleme wurzeln häufig in unterschiedlichen Dialogkulturen, soweit Muslime stark von Kommunikationsformen aus ihren Herkunftsländern geprägt sind. Sachliche Anfragen und Kritik werden häufig als persönlicher Angriff verstanden. Manchmal mag das beabsichtigt sein, oft aber nicht. Umgekehrt wirken die in den meisten Herkunftsländern der Muslime geläufigen "gesichtswahrenden" Formen indirekter Problembenennung und Kritik im mitteleuropäischen Kommunikationskontext als Ausweichen und Verschleierung. Manchmal mag auch das beabsichtigt sein, oft aber nicht.
Schließlich fügt sich die Debatte um den Islam in Deutschland in größere, zukunftsbestimmende Zusammenhänge: Welche Rolle sollen Religionen und Weltanschauungen künftig im öffentlichen Raum spielen? Wie soll die Kooperation zwischen ihren Organisationen und dem Staat gestaltet werden? Hier gilt es, immer wieder eine angemessene, breit vermittelbare Haltung fernab der Extreme von Religionsdiktatur und säkularistischer Ersatzreligion zu definieren.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Behauptung eines clash of civilizations ein intellektuelles Krisenphänomen ist. Sie unterstellt fälschlich eine innere Homogenität unterschiedlicher - und als strukturell gegensätzlich angesehener - Kulturen. Eher ist ein kulturenübergreifender clash of minds erkennbar: Wer die Grundlagen des säkularen demokratischen Rechtsstaats als gemeinsame Hausordnung akzeptiert, verdient auch seinen vollen Schutz. Extremismus dagegen muss bekämpft werden, und dieser Kampf sollte möglichst alle mobilisieren können, die von ihm bedroht sind, über alle Religionen und Weltanschauungen hinweg.