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Ist der Islam ein Integrationshindernis? - Essay | Islam in Deutschland | bpb.de

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Ist der Islam ein Integrationshindernis? - Essay

Nimet Şeker

/ 13 Minuten zu lesen

Während die Integrationsdebatte in kulturell verstandenen Dichotomien geführt wird, haben wissenschaftliche Studien herausgefunden: Islamische Religiosität ist kein Hindernis für das gesellschaftliche Zusammenleben in Deutschland.

Einleitung

In den öffentlichen Debatten überwiegt ein defizitorientiertes Verständnis von Integration: Sie wird assoziiert mit Krisen, Parallelgesellschaften und Gewalt. Die Argumente für ein "Scheitern" der Integration sind vielfältig: eine unzureichende Beherrschung der deutschen Sprache, Abschottungstendenzen und ethnische Segregation. Seit einigen Jahren wird diese Debatte zunehmend vermischt mit einer Debatte um "den Islam". Prominente Stimmen prangern die "mangelnde Integrationsbereitschaft" oder die "Integrationsunwilligkeit", teilweise sogar eine "Unmöglichkeit" der Integration von gläubigen Muslimen an. In diesem Diskurs, der Islam und Integration verknüpft, gelten ein "vordemokratisches Menschen- und Weltbild des Islams" und "religiös fundierte Traditionen und Lebensweisen der Muslime" als zentrale Ursachen für ihre Integrationsprobleme. Auffallend ist, dass soziale Probleme unter den Migranten vornehmlich auf ihre ethnische Herkunft und Religion zurückgeführt werden. Da die Probleme hauptsächlich unter Türken und Arabern auftreten, könne ja nur der Islam das Problem sein, so eine gängige Argumentation.

Die Scharia und das vermeintliche Gewaltpotenzial, die als wesensbestimmend für den Islam beschrieben werden, gelten als die größten Hindernisse für die Integration in die hiesige Gesellschaft. Das Kopftuch muslimischer Frauen gerät zur Projektionsfläche Integration negierender Diskurse, so dass Kopftuch tragende Frauen als "nicht" beziehungsweise "nicht hinreichend integriert" angesehen werden.

Der migrationspolitische Schlüsselbegriff "Integration" ist inhaltlich und analytisch derart vage, dass er in der öffentlichen Diskussion beliebig verwendet werden kann. Für sich genommen transportiert der Begriff zunächst keine Inhalte, außer dass "zu integrierende Elemente" sich in ein als homogen gedachtes "Ganzes" einfügen sollen. In den Debatten wird Integration verstanden als das erwünschte Endziel eines Prozesses, dessen Nicht-Existenz oder eben "Scheitern" in den Fokus gestellt wird. So herrscht die Meinung vor, Integration müsse Muslimen "abverlangt" werden. Beispiele "erfolgreicher" Integration werden in Abgrenzung zu "gescheiterten" Integrationsbeispielen und weniger aus sich heraus definiert.

Kulturelle Marionetten des "Systems Islam"?

Diesem Mehrheitsdiskurs um "Islam" und "Integration" liegt ein statisches Verständnis von "Kultur" zugrunde: Der Islam wird als eine Kultur verstanden, welche das Leben der Menschen wie ein unveränderliches Korsett präge. Sie habe unabhängig von Zeit und Ort Gültigkeit und richte sich nach der "Scharia", dem "Gesetz Gottes", die sich diametral zu den Normen und Werten der "westlichen Kultur" verhalte. Demnach sind Muslime als kulturelle Marionetten des "Systems Islam" in ihrer individuellen Entscheidungsfindung eingeschränkt. Aufgrund dieser Unveränderlichkeit - häufig wird auf das Fehlen einer "Aufklärung" im Islam hingewiesen - entstünden die Integrationsprobleme von Muslimen in Deutschland. Das zugrunde liegende Islambild wird von Vorstellungen und Erscheinungen eines radikalen Islamismus bestimmt. So bestimmen kulturell verstandene Dichotomien die Debatten: Westen versus Islam, aufgeklärt versus rückständig, demokratisch versus vordemokratisch, modern versus vormodern, säkular versus islamistisch, Menschenrechte versus Gewalt, um nur einige zu nennen.

Zwar gibt es in diesem Diskurs Schwierigkeiten, zu definieren, was "deutsch" beziehungsweise "westlich" ist, und damit zusammenhängend die Frage, was einen integrierten Muslim von einem nichtintegrierten Muslim unterscheidet. Dafür fällt aber die kulturelle Abgrenzung zu Muslimen leichter: Die sichtbare Differenz von Muslimen, am auffälligsten in Kopftüchern und Moscheeminaretten, sind willkommene Folien dafür. Der Diskurs stellt also eine Hierarchisierung von Kulturen her, die wiederum als statische, in sich widerspruchslose, geschlossene Systeme und als "säkular" (Westen) beziehungsweise "religiös" (Islam) determiniert verstanden werden. Religiosität und Areligiosität gelten als konstitutiv für Gesellschaft und Kultur. Außer Acht gerät dabei, dass Kultur ein komplexer Vorgang ist, in dem sich Normen und Werte in einem ständigen Aushandlungsprozess befinden, der zum Wandel derselben führt. Dies gilt insbesondere für Migrantenkulturen. Kultur ist ein dynamischer Prozess, der geprägt ist von Bedeutungswandel, Hybriditäten sowie Überschneidungen mit und Übernahmen von Elementen weiterer Kulturen.

Scharia als Gottesgesetz?

"Sind Islam und die Scharia, das islamische 'Rechtssystem', in Übereinstimmung zu bringen mit Demokratie, Menschenrechten, Meinungsfreiheit, Pluralismus und, dies der Kernpunkt überhaupt, mit der Gleichstellung der Geschlechter?", fragt beispielsweise ein renommierter Publizist. Bei diesem Ansatz wird die "Scharia" als eine Ordnung verstanden, auf die jegliche Form von abweichendem Verhalten von Muslimen zurückzuführen ist. Sie gilt als normatives System, das zur Erklärung von Kriminalität und Gewaltverbrechen, Unterdrückung von Frauen und jeglichem politischen und sozialen Verhalten herangezogen wird und das dieser Auffassung nach in seiner Entwicklungsstufe im "Mittelalter" beziehungsweise in der "Vormoderne" stehengeblieben ist. So beschreibt auch eine weitere Publizistin muslimische Gemeinschaften als "Kollektive", die "Geboten und Verboten" unterliegen, die "letztlich Gottes Wille sind". Türkei- und arabischstämmige Einwanderer missachteten deswegen die Gesetze der Demokratie, denn sie gingen davon aus, dass "Gott selbst der Gesetzgeber ist, dass seine im Koran niedergelegten Offenbarungen Gesetzeskraft habe und es keinen 'säkularen' Lebensbereich gibt".

Hier herrscht offensichtlich ein Verständnis von "Scharia" als gottgegebenes Gesetz und von Menschen unveränderbarem Recht vor. Das ist irreführend, denn die Gleichsetzung von "Scharia" mit "Islamischem Recht" stellt eine Bedeutungsverengung dar. Scharia bezeichnet zunächst nur die Gesamtheit der Ge- und Verbote, die durch den Koran und die Prophetentraditionen (Hadithe) offenbart wurden. Der Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe betont: "Die Scharia ist nicht etwa ein Gesetzbuch, sondern ein höchst komplexes System von Normen und Regeln dafür, wie Normen aufgefunden und interpretiert werden können. (...) Islamisches Recht (...), aber auch der Umgang mit religiösen Normen beruhen auf sekundärer Findung durch Auslegung und Schlussfolgerung, also auf menschlicher Denkkunst." Die Scharia ist demnach kein kodifiziertes Recht, das sich etwa an einen weltlichen Vollstrecker dieser Gebote richtet. Das Islamische Recht wiederum ist nicht "Gottesgesetz", sondern ein von religiösen Quellen abgeleitetes, menschengemachtes Recht - und damit veränderbar.

Gewalt "im Namen des Islams"

Ausgelöst von medialen Bildern gewalttätiger Ereignisse im Namen des Islams, hat sich in den ineinander fließenden öffentlichen Debatten um Integration und Islamkritik die Vorstellung vom Islam als einer zur Gewalt aufrufenden Religion verfestigt. Eng damit verwoben ist die Assoziation von Islam und Zwang: "Zwangsheirat", Zwang im Glauben und Zwang in der Glaubenspraxis gehören hier zu den Assoziationsfeldern. Im deutschen Kontext häuft sich der Verweis auf Gewaltdelikte gegenüber Frauen, man spricht von "Ehrenmorden". Unabhängig von einem hypothetischen Gewaltpotenzial des Islams - Stichwort Dschihad oder koranisches Strafrecht - und der tatsächlichen Gewalttätigkeit von Muslimen, werden in der Debatte diesbezüglich theologische, islamrechtliche und soziologische Fragen vermischt. Denn bei genauerem Hinsehen lassen sich weder Ehrenmorde noch Genitalverstümmelung noch häusliche Gewalt islamisch legitimieren.

Eine Repräsentativuntersuchung zur Gewalterfahrung von Frauen innerhalb und außerhalb von Familien- und Paarbeziehungen in Deutschland weist zwar eine höhere Gewalterfahrung bei türkeistämmigen Frauen auf, zeigt aber deutlich, dass diese beispielsweise in osteuropäischen Paarbeziehungen ebenfalls hoch ist. Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Studie ist: Türkeistämmige Frauen sind nicht häufiger Gewalt ausgesetzt, weil Türkeistämmige mehrheitlich Muslime sind, sondern weil die betroffenen Frauen sich aufgrund ihrer sozialen Situation, fehlenden Sprachkenntnisse, mangelnden Bildung und ökonomischen Abhängigkeit schwieriger vom Partner lösen können. Auch migrationsbedingte Ursachen wie verunsicherte Männlichkeitsbilder aufgrund veränderter Geschlechterbeziehungen spielen dabei eine Rolle.

Wie kommen "Ehrenmorde" dann zustande? Werden die Frauen getötet, weil sie ein "unislamisches" Leben geführt haben? Der Ehrbegriff ist in unterschiedlichen Variationen im gesamten ländlichen Mittelmeerraum von Marokko über Spanien, Süditalien, Griechenland bis zum Nahen Osten verbreitet und kein Spezifikum muslimischer Gesellschaften. So spielt Ehre auch in Mafia- und Camorra-Kreisen eine Rolle. In der Migration wird der Ehrbegriff - oder vielmehr werden die Ehrbegriffe - neu verhandelt. Es kommt zu einem komplexen "Ineinander und Gegeneinander von wertetransformierenden und wertestabilisierenden Prozessen" (Werner Schiffauer). Dies führt dazu, dass das Motiv "Ehre" in jedem einzelnen "Ehrenmordfall" mit unterschiedlichem Inhalt gefüllt wird - es gibt also keinen Konsens darüber, was "Ehre" bedeutet. Häufig dient sie als Legitimationsgrundlage für individuelles Fehlverhalten. "Ehrenmorde" sind demnach keine Strafen, die aus einem parallelen "islamischen" Rechtssystem mit eigener Rechtsprechung resultieren. Auf die Scharia als normative Instanz im Islam können sich "Ehrenmörder" nicht berufen.

Kürzlich wurde der Zusammenhang zwischen islamischer Religiosität und Gewaltbereitschaft wissenschaftlich untersucht. Eine Kausalität zwischen beiden Phänomenen konnte nicht nachgewiesen werden. Vielmehr seien es vielfältige Faktoren wie ein kriminelles Umfeld und Gewalterfahrungen in der Kindheit die jugendliche Gewalttätigkeit in Migrantenmilieus fördern. Dagegen steht der Befund, dass die Gewalt bei Jugendlichen aus Migrantenfamilien zunimmt, je länger sie in Deutschland leben. Die zunehmende Gewalt entsteht also erst im deutschen Umfeld und weniger in den Herkunftsländern.

Kopftuch als Symbol für Desintegration?

In der öffentlichen Wahrnehmung von Muslimen in Deutschland fungiert das Kopftuch von muslimischen Frauen als visuelle Projektionsfläche für negativ behaftete Vorstellungen einer "gescheiterten Integration". Das Kopftuch gilt als Symbol und zugleich Produkt einer ungleichen islamischen Geschlechterordnung und eines politischen, unterdrückerischen Islams. Diese Vorstellungen sind das Resultat eines Diskurses, welcher das muslimische Kopftuch, ähnlich einem "leeren Signifikant", beliebig mit politischen Inhalten auflädt und besetzt: Das Kopftuch wird analog zum christlichen Kreuz zum religiösen Symbol erklärt. So ließ etwa Karl Kardinal Lehmann, damaliger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, auf dem Höhepunkt der deutschen Kopftuch-Debatte verlautbaren, dass Kreuz und Ordenskleidern "nicht die geringste Spur einer politischen Propaganda eigen" sei; das Kopftuch dagegen habe eine politische Bedeutung. Dem Kreuz wird in diesem Diskurs die Bedeutung eines entpolitisierten und pazifistischen Gegensymbols zum "islamischen" Kopftuch verliehen.

Dabei hat das Kopftuch, das in allen Mittelmeer-Kulturen von Frauen unterschiedlicher religiöser Prägung getragen wird, im Christentum eine weit ältere Tradition als im Islam. Die Gender-Forscherinnen Christina von Braun und Bettina Mathes sprechen daher von einer "Islamisierung des Schleiers". Für Alice Schwarzer hingegen ist das Kopftuch ein "blutiges Symbol" und "Flagge des islamistischen Kreuzzugs, der die ganze Welt zum Gottesstaat deformieren will". Hinzu kommt, dass Kopftuchträgerinnen einen "freiwilligen Verzicht auf ihre Gleichberechtigung" betrieben und Flaggenträgerinnen von islamistischen Parteien seien.

Diese politisierte Wahrnehmung des Kopftuchs ist geprägt von der Rezeption frauenfeindlicher Diskurse und Politiken in muslimischen Ländern: Die prominentesten Beispiele sind die brutale und menschenverachtende Frauenpolitik der Taliban sowie die afghanische Burka als dessen visuelle Markierung, die Zwangsverschleierung und rechtliche Diskriminierung von Frauen in Saudi-Arabien, ferner die Implementierung einer als islamisch definierten Geschlechterordnung im öffentlichen Raum nach der Islamischen Revolution in Iran 1979, wozu auch die Zwangsverschleierung aller Frauen gehörte. Die neue Welle der Verschleierung in Iran und in der Türkei ist jedoch primär als Reaktion auf die Zwangsentschleierungspolitik unter Atatürk und Reza Shah Pahlavi im Zuge ihrer "Modernisierung von oben" zu sehen; zumindest wurde die Politisierung des Kopftuchs nicht von der muslimischen Bevölkerung, sondern von einheimischen Eliten und dem modernistisch-hegemonialen Kulturdiskurs kolonialer Besatzungsmächte bereits im 18. Jahrhundert begonnen.

Bis vor Kurzem bemühte sich die deutsche Kopftuch-Debatte kaum um eine Unterscheidung zwischen den Formen der Verschleierung und ihren Bedeutungen. Bei solch einer Unterscheidung sollten nicht nur lokale Kleidungstraditionen berücksichtigt werden, sondern auch der jeweilige politische Kontext und die dazugehörige Religions- und Kleidungspolitik beispielsweise im postrevolutionären Iran, dem wahhabitischen Saudi-Arabien oder der Türkei, wo der Laizismus als Leitprinzip der Republik in der Verfassung verankert ist - drei völlig unterschiedliche Gesellschaften und politische Systeme. Über diese theoretischen Überlegungen hinaus wäre die Frage zu stellen, wie die tatsächliche Stellung der Frau in der jeweiligen Gesellschaft ist. In Iran beispielsweise ist trotz der rigiden Geschlechterpolitik seit 1979 der Anteil von Frauen in allen Bildungsbereichen signifikant gestiegen; Frauen drängten zunehmend in die Justiz, in die Universitäten und Medien und überholten die Männer bei Hochschulabschlüssen. Die dichotomische Annahme, dass eine "aufgeklärte Werteordnung des Westens emanzipierte Frauen hervorbringt" und ein "rückständiger Islam Frauen einsperrt", reduziert die Komplexität der Geschlechterordnungen und ihre historischen Dynamiken.

Und trotz der simplifizierenden Argumentation ist diese nicht frei von Widersprüchen: Zum einen wird das Kopftuch abgelehnt, weil es das Bekenntnis zum ("politischen") Islam ostentativ nach außen trage und damit eine kulturelle Abgrenzung beinhalte - unterstellt wird der Trägerin die Ablehnung der herrschenden Werteordnung innerhalb der deutschen "Leitkultur". Zum anderen wird das Kopftuch als Beweis für die Unterdrückung der Frau im Islam, sie selbst als passives Subjekt und Opfer des patriarchalischen Systems verstanden. Die Kopftuchträgerin gerät damit gleichsam zur Täterin, zum feindlichen Subjekt und zum Opfer. Diskriminierungserfahrungen von Kopftuchträgerinnen, unabhängig davon, ob sie das Tuch durch Zwang oder freiwillig tragen, werden kaum thematisiert. Der Körper der Kopftuchträgerin wird zum Träger von Bedeutungen im Negativdiskurs über den Islam - ihr selbst wird dabei jegliche Definitionsmacht über ihren Körper, ihr Kopftuch und damit auch ihrem Religionsverständnis abgeschrieben.

Häufigkeit und Bedeutungen des Kopftuchs

Dabei wurde die Frage nach der individuellen Motivation der Kopftuchträgerinnen in Deutschland schon mehrfach wissenschaftlich bearbeitet. Die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge herausgegebene Studie "Muslimisches Leben in Deutschland" liefert empirische Daten über die Verbreitung des Kopftuchs unter Musliminnen: 28 Prozent der Musliminnen tragen ein Kopftuch, die deutliche Mehrheit, nämlich 72 Prozent, dagegen keins. Bei den Kopftuchträgerinnen beträgt der Anteil von Mädchen unter 10 Jahren 2,5 Prozent; nur eine geringe Minderheit von Grundschülerinnen trägt es demnach, im Gegensatz zu 50 Prozent der über 66-Jährigen.

Die Studie kommt zum Ergebnis, dass in der zweiten Generation die Häufigkeit des Kopftuchtragens signifikant abnimmt: "Die Unterschiede sind offenbar darauf zurückzuführen, dass die in Deutschland geborenen Frauen deutlich seltener regelmäßig ein Kopftuch tragen." Auch die weit verbreitete These, dass ausschließlich religiöse Frauen ein Kopftuch tragen, wird entkräftet: "Dennoch zeigen die Befunde, dass starke Gläubigkeit nicht zwangsläufig mit dem Tragen eines Kopftuchs einhergeht. So verlässt immerhin jede zweite stark gläubige Muslimin unbedeckt das Haus." Hinzu kommt die Erkenntnis, dass Kopftuchträgerinnen sich zu 63,6 Prozent "stark oder sehr stark" mit Deutschland verbunden fühlen und einen Bildungsaufstieg innerhalb der Generationen verzeichnen, vor allem wenn sie Bildungsinländerinnen sind. Auch die Freundschaftskontakte zur Mehrheitsgesellschaft sind in dieser Gruppe häufig. Demnach fällt es schwer, in dieser Gruppe eine Distanz zur deutschen Mehrheitsgesellschaft oder gar eine Integrationsverweigerung auszumachen.

Ähnlich brüchig ist die "Beweisführung" mit Blick auf die simplifizierende Gleichsetzung des Kopftuchs mit patriarchalen und tradierten Geschlechterrollen. Jüngste Studien zeigen, dass auch areligiöse türkische und arabische Familien wie auch beispielsweise alevitische, als liberal geltende Muslime, für die das Kopftuch gerade keine Rolle spielt, an traditionellen Geschlechterrollen festhalten. Ein Zusammenhang von Religiosität und traditionellen Geschlechterrollen scheint damit fraglich. Die häufig formulierte Forderung, Musliminnen sollten ihr Kopftuch ablegen und sich damit von patriarchalischen Geschlechterrollen befreien, dürfte daher zu kurz gegriffen sein.

Indes findet unter der jungen Generation von Kopftuchträgerinnen und feministisch-islamischen Kritikerinnen bereits ein Kampf gegen patriarchalische Strukturen mithilfe von Koran und Prophetentradition statt. Dazu gehört die Kritik an frauenfeindlichen Auslegungen des Koran und die Dekonstruktion patriarchalischer Traditionen in der islamischen Rechtsauslegung. Vor diesem Hintergrund kann die Kleidung den jungen Musliminnen eine gewisse Unabhängigkeit vom tradierten Geschlechterverhältnis verleihen und zur Abwehr von Anforderungen an ihre weibliche Rolle dienen: die Kleidung als Merkmal des reflektierten, aufgeklärten und individualisierten statt eines von den "Gastarbeiter-Eltern" übernommenen Islams. Das Tragen des Kopftuchs kann eine bewusst getroffene spirituelle Entscheidung zu einem religiösen Gebot sein, es kann für eine religiös-feministisch inspirierte Kritik an der Sexualisierung des weiblichen Körpers stehen oder auch für ein positiv besetztes Bekenntnis zur Tradition. Für viele junge Musliminnen dient die bewusste öffentliche Differenzmarkierung als weibliche, religiöse Minderheit auch zur Konstruktion einer positiv besetzten Identität, weil sie immer wieder Erfahrungen von Exklusion machen, selbst wenn sie sich in ihrem Selbstbild als vollständig "integrierte" Person betrachten.

Integration: Aufgabe der Religion?

Eine geschlechtergerechte Religiosität muss demnach die Partizipation am gesellschaftlichen Leben nicht ausschließen. Demgegenüber steht das Argument, dass sich Muslime nicht in eine demokratische, pluralistische Gesellschaft integrieren können, weil eine "Säkularisierung des Islams" nicht möglich sei: Im Begriff "säkulare Muslime" etwa drückt sich die widersprüchliche Logik des Diskurses aus. Widersprüchlich, da Säkularismus im deutschen Kontext die Trennung von Staat und Religion sowie die Neutralität des Staates gegenüber Religionen meint. Nach dieser Definition können Individuen und soziale Verhältnisse nicht säkular sein. Abgesehen von der Grenzziehung zu den "Nicht-Säkularen" beziehungsweise den "Säkularismus-Ablehnenden", die durch solche Begriffe als Gruppe erst konstruiert werden, impliziert der Begriff, dass eine Distanz zur eigenen Religion die Voraussetzung für Integration ist. Die Selbstbeschreibung von "Ex-Muslimen" als "säkular" treibt den Widerspruch noch weiter: Nur der Muslim, der keiner mehr ist, kann säkular sein, so die Aussage. Damit wird letztlich etwas in Gang gesetzt, dessen Gegenteil eigentlich gefordert wird: die Politisierung der Muslime.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Necla Kelek, Erziehungsauftrag und Integration. Eine Auseinandersetzung mit Integrationshemmnissen, in: Deutsche Jugend, 55 (2007), S. 54.

  2. Vgl. Valentin Rauer, Kulturelle Grenzziehung in integrationspolitischen Diskursen, in: Özkan Ezli/Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hrsg.), Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld 2009, S. 82.

  3. Vgl. zur Radikalisierung von europäischen Muslimen die Beiträge von Matenia Sirseloudi, Syed Mansoob Murshed und Sara Pavan in: APuZ Extremismus, (2010) 44.

  4. Ralph Giordano, Nicht die Moschee, der Islam ist das Problem, in: Franz Sommerfeld (Hrsg.), Der Moscheestreit. Eine exemplarische Debatte über Einwanderung und Integration, Köln 2008, S. 46.

  5. N. Kelek (Anm. 1), S. 53, S. 59, S. 55.

  6. dies., Die muslimische Frau in der Moderne, in: APuZ, (2006) 1-2, S. 30.

  7. Vgl. Kathrin Klausing, Zur Terminologie einer islamischen Theologie in Deutschland, in: Hikma, 1 (2010), S. 50-55.

  8. Mathias Rohe, Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, München 20092, S. 16.

  9. Vgl. ebd., S. 69, S. 342f.

  10. Vgl. Monika Schröttle, Gewalt gegen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.), Islamfeindlichkeit, Wiesbaden 2009, S. 269-287.

  11. Vgl. Ahmet Toprak, Integrationsunwillige Muslime? Ein Milieubericht, Freiburg 2010, S. 37-59; Werner Schiffauer, Parallelgesellschaften. Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft?, Bielefeld 2008, S. 21-48.

  12. Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Gewaltphänomene bei männlichen, muslimischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und Präventionsstrategien, Berlin 2010; ders., Jugendliche Migranten - muslimische Jugendliche. Gewalttätigkeit und geschlechterspezifische Einstellungsmuster, Berlin 2010; Christian Pfeiffer et al., Kinder und Jugendliche in Deutschland. Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum, Hannover 2010, S. 416f.

  13. Vgl. Landeskommission Berlin gegen Gewalt (Hrsg.), Gewalt von Jungen, männlichen Jugendlichen und jungen Männern mit Migrationshintergrund, Berlin 2007.

  14. Vgl. Hamburger Abendblatt vom 6.6.2004; Heide Oestreich, Der Kopftuchstreit. Das Abendland und ein Quadratmeter Islam, Frankfurt/M. 2004, S. 97.

  15. Christina von Braun/Bettina Mathes, Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin 2007, S. 52.

  16. Alice Schwarzer: Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz, zit. nach: H. Oestreich (Anm. 14), S. 108.

  17. Necla Kelek, Himmelsreise. Mein Streit mit den Wächtern des Islam, Köln 2010, S. 146-160.

  18. Die Fetischisierung und Objektifizierung muslimischer Frauen mitsamt ihrer Kleidung und der Negativdiskurs um das Kopftuch als "islamisches" Instrument zur Unterdrückung von Frauen fand bereits in der Kolonialzeit statt. Vgl. Katherine Bullock, Rethinking Muslim Women and the Veil, Herndon-Richmond 2002.

  19. Vgl. Maryam Poya, Women, Work and Islamism. Ideology and Resistance in Iran, London 1999.

  20. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009, S. 200.

  21. Ebd., S. 201.

  22. Vgl. ebd., S. 202f.

  23. Vgl. A. Toprak (Anm. 11), S. 26-29; Ministerium für Arbeit, Integration und soziales des Landes NRW (Hrsg.), Muslimisches Leben in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2010, S. 98f.

  24. Vgl. Zentrum für Islamische Frauenforschung und Frauenförderung (Hrsg.), Ein einziges Wort und seine große Wirkung, Köln 2005; Schirin Amir-Moazami, Politisierte Religion. Der Kopftuchstreit in Deutschland und Frankreich, Bielefeld 2007, S. 212-224.

  25. Vgl. H. Oestreich (Anm. 14), S. 140-155.

M.A., geb. 1979; Islamwissenschaftlerin und Ethnologin; Redakteurin bei Qantara.de; Lehrbeauftragte für Islamwissenschaft an der Universität zu Köln. E-Mail Link: nimet.seker@gmail.com