Einleitung
In den öffentlichen Debatten überwiegt ein defizitorientiertes Verständnis von Integration: Sie wird assoziiert mit Krisen, Parallelgesellschaften und Gewalt. Die Argumente für ein "Scheitern" der Integration sind vielfältig: eine unzureichende Beherrschung der deutschen Sprache, Abschottungstendenzen und ethnische Segregation. Seit einigen Jahren wird diese Debatte zunehmend vermischt mit einer Debatte um "den Islam". Prominente Stimmen prangern die "mangelnde Integrationsbereitschaft" oder die "Integrationsunwilligkeit", teilweise sogar eine "Unmöglichkeit" der Integration von gläubigen Muslimen an. In diesem Diskurs, der Islam und Integration verknüpft, gelten ein "vordemokratisches Menschen- und Weltbild des Islams" und "religiös fundierte Traditionen und Lebensweisen der Muslime"
Die Scharia und das vermeintliche Gewaltpotenzial, die als wesensbestimmend für den Islam beschrieben werden, gelten als die größten Hindernisse für die Integration in die hiesige Gesellschaft. Das Kopftuch muslimischer Frauen gerät zur Projektionsfläche Integration negierender Diskurse, so dass Kopftuch tragende Frauen als "nicht" beziehungsweise "nicht hinreichend integriert" angesehen werden.
Der migrationspolitische Schlüsselbegriff "Integration" ist inhaltlich und analytisch derart vage, dass er in der öffentlichen Diskussion beliebig verwendet werden kann. Für sich genommen transportiert der Begriff zunächst keine Inhalte, außer dass "zu integrierende Elemente" sich in ein als homogen gedachtes "Ganzes" einfügen sollen.
Kulturelle Marionetten des "Systems Islam"?
Diesem Mehrheitsdiskurs um "Islam" und "Integration" liegt ein statisches Verständnis von "Kultur" zugrunde: Der Islam wird als eine Kultur verstanden, welche das Leben der Menschen wie ein unveränderliches Korsett präge. Sie habe unabhängig von Zeit und Ort Gültigkeit und richte sich nach der "Scharia", dem "Gesetz Gottes", die sich diametral zu den Normen und Werten der "westlichen Kultur" verhalte. Demnach sind Muslime als kulturelle Marionetten des "Systems Islam" in ihrer individuellen Entscheidungsfindung eingeschränkt. Aufgrund dieser Unveränderlichkeit - häufig wird auf das Fehlen einer "Aufklärung" im Islam hingewiesen - entstünden die Integrationsprobleme von Muslimen in Deutschland. Das zugrunde liegende Islambild wird von Vorstellungen und Erscheinungen eines radikalen Islamismus bestimmt.
Zwar gibt es in diesem Diskurs Schwierigkeiten, zu definieren, was "deutsch" beziehungsweise "westlich" ist, und damit zusammenhängend die Frage, was einen integrierten Muslim von einem nichtintegrierten Muslim unterscheidet. Dafür fällt aber die kulturelle Abgrenzung zu Muslimen leichter: Die sichtbare Differenz von Muslimen, am auffälligsten in Kopftüchern und Moscheeminaretten, sind willkommene Folien dafür. Der Diskurs stellt also eine Hierarchisierung von Kulturen her, die wiederum als statische, in sich widerspruchslose, geschlossene Systeme und als "säkular" (Westen) beziehungsweise "religiös" (Islam) determiniert verstanden werden. Religiosität und Areligiosität gelten als konstitutiv für Gesellschaft und Kultur. Außer Acht gerät dabei, dass Kultur ein komplexer Vorgang ist, in dem sich Normen und Werte in einem ständigen Aushandlungsprozess befinden, der zum Wandel derselben führt. Dies gilt insbesondere für Migrantenkulturen. Kultur ist ein dynamischer Prozess, der geprägt ist von Bedeutungswandel, Hybriditäten sowie Überschneidungen mit und Übernahmen von Elementen weiterer Kulturen.
Scharia als Gottesgesetz?
"Sind Islam und die Scharia, das islamische 'Rechtssystem', in Übereinstimmung zu bringen mit Demokratie, Menschenrechten, Meinungsfreiheit, Pluralismus und, dies der Kernpunkt überhaupt, mit der Gleichstellung der Geschlechter?", fragt beispielsweise ein renommierter Publizist.
Hier herrscht offensichtlich ein Verständnis von "Scharia" als gottgegebenes Gesetz und von Menschen unveränderbarem Recht vor. Das ist irreführend, denn die Gleichsetzung von "Scharia" mit "Islamischem Recht" stellt eine Bedeutungsverengung dar. Scharia bezeichnet zunächst nur die Gesamtheit der Ge- und Verbote, die durch den Koran und die Prophetentraditionen (Hadithe) offenbart wurden.
Gewalt "im Namen des Islams"
Ausgelöst von medialen Bildern gewalttätiger Ereignisse im Namen des Islams, hat sich in den ineinander fließenden öffentlichen Debatten um Integration und Islamkritik die Vorstellung vom Islam als einer zur Gewalt aufrufenden Religion verfestigt. Eng damit verwoben ist die Assoziation von Islam und Zwang: "Zwangsheirat", Zwang im Glauben und Zwang in der Glaubenspraxis gehören hier zu den Assoziationsfeldern. Im deutschen Kontext häuft sich der Verweis auf Gewaltdelikte gegenüber Frauen, man spricht von "Ehrenmorden". Unabhängig von einem hypothetischen Gewaltpotenzial des Islams - Stichwort Dschihad oder koranisches Strafrecht - und der tatsächlichen Gewalttätigkeit von Muslimen, werden in der Debatte diesbezüglich theologische, islamrechtliche und soziologische Fragen vermischt. Denn bei genauerem Hinsehen lassen sich weder Ehrenmorde noch Genitalverstümmelung noch häusliche Gewalt islamisch legitimieren.
Eine Repräsentativuntersuchung zur Gewalterfahrung von Frauen innerhalb und außerhalb von Familien- und Paarbeziehungen in Deutschland weist zwar eine höhere Gewalterfahrung bei türkeistämmigen Frauen auf, zeigt aber deutlich, dass diese beispielsweise in osteuropäischen Paarbeziehungen ebenfalls hoch ist.
Wie kommen "Ehrenmorde" dann zustande? Werden die Frauen getötet, weil sie ein "unislamisches" Leben geführt haben? Der Ehrbegriff ist in unterschiedlichen Variationen im gesamten ländlichen Mittelmeerraum von Marokko über Spanien, Süditalien, Griechenland bis zum Nahen Osten verbreitet und kein Spezifikum muslimischer Gesellschaften. So spielt Ehre auch in Mafia- und Camorra-Kreisen eine Rolle. In der Migration wird der Ehrbegriff - oder vielmehr werden die Ehrbegriffe - neu verhandelt. Es kommt zu einem komplexen "Ineinander und Gegeneinander von wertetransformierenden und wertestabilisierenden Prozessen" (Werner Schiffauer). Dies führt dazu, dass das Motiv "Ehre" in jedem einzelnen "Ehrenmordfall" mit unterschiedlichem Inhalt gefüllt wird - es gibt also keinen Konsens darüber, was "Ehre" bedeutet. Häufig dient sie als Legitimationsgrundlage für individuelles Fehlverhalten.
Kürzlich wurde der Zusammenhang zwischen islamischer Religiosität und Gewaltbereitschaft wissenschaftlich untersucht.
Kopftuch als Symbol für Desintegration?
In der öffentlichen Wahrnehmung von Muslimen in Deutschland fungiert das Kopftuch von muslimischen Frauen als visuelle Projektionsfläche für negativ behaftete Vorstellungen einer "gescheiterten Integration". Das Kopftuch gilt als Symbol und zugleich Produkt einer ungleichen islamischen Geschlechterordnung und eines politischen, unterdrückerischen Islams. Diese Vorstellungen sind das Resultat eines Diskurses, welcher das muslimische Kopftuch, ähnlich einem "leeren Signifikant", beliebig mit politischen Inhalten auflädt und besetzt: Das Kopftuch wird analog zum christlichen Kreuz zum religiösen Symbol erklärt. So ließ etwa Karl Kardinal Lehmann, damaliger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, auf dem Höhepunkt der deutschen Kopftuch-Debatte verlautbaren, dass Kreuz und Ordenskleidern "nicht die geringste Spur einer politischen Propaganda eigen" sei; das Kopftuch dagegen habe eine politische Bedeutung.
Dabei hat das Kopftuch, das in allen Mittelmeer-Kulturen von Frauen unterschiedlicher religiöser Prägung getragen wird, im Christentum eine weit ältere Tradition als im Islam. Die Gender-Forscherinnen Christina von Braun und Bettina Mathes sprechen daher von einer "Islamisierung des Schleiers".
Diese politisierte Wahrnehmung des Kopftuchs ist geprägt von der Rezeption frauenfeindlicher Diskurse und Politiken in muslimischen Ländern: Die prominentesten Beispiele sind die brutale und menschenverachtende Frauenpolitik der Taliban sowie die afghanische Burka als dessen visuelle Markierung, die Zwangsverschleierung und rechtliche Diskriminierung von Frauen in Saudi-Arabien, ferner die Implementierung einer als islamisch definierten Geschlechterordnung im öffentlichen Raum nach der Islamischen Revolution in Iran 1979, wozu auch die Zwangsverschleierung aller Frauen gehörte. Die neue Welle der Verschleierung in Iran und in der Türkei ist jedoch primär als Reaktion auf die Zwangsentschleierungspolitik unter Atatürk und Reza Shah Pahlavi im Zuge ihrer "Modernisierung von oben" zu sehen; zumindest wurde die Politisierung des Kopftuchs nicht von der muslimischen Bevölkerung, sondern von einheimischen Eliten und dem modernistisch-hegemonialen Kulturdiskurs kolonialer Besatzungsmächte bereits im 18. Jahrhundert begonnen.
Bis vor Kurzem bemühte sich die deutsche Kopftuch-Debatte kaum um eine Unterscheidung zwischen den Formen der Verschleierung und ihren Bedeutungen. Bei solch einer Unterscheidung sollten nicht nur lokale Kleidungstraditionen berücksichtigt werden, sondern auch der jeweilige politische Kontext und die dazugehörige Religions- und Kleidungspolitik beispielsweise im postrevolutionären Iran, dem wahhabitischen Saudi-Arabien oder der Türkei, wo der Laizismus als Leitprinzip der Republik in der Verfassung verankert ist - drei völlig unterschiedliche Gesellschaften und politische Systeme. Über diese theoretischen Überlegungen hinaus wäre die Frage zu stellen, wie die tatsächliche Stellung der Frau in der jeweiligen Gesellschaft ist. In Iran beispielsweise ist trotz der rigiden Geschlechterpolitik seit 1979 der Anteil von Frauen in allen Bildungsbereichen signifikant gestiegen; Frauen drängten zunehmend in die Justiz, in die Universitäten und Medien und überholten die Männer bei Hochschulabschlüssen.
Und trotz der simplifizierenden Argumentation ist diese nicht frei von Widersprüchen: Zum einen wird das Kopftuch abgelehnt, weil es das Bekenntnis zum ("politischen") Islam ostentativ nach außen trage und damit eine kulturelle Abgrenzung beinhalte - unterstellt wird der Trägerin die Ablehnung der herrschenden Werteordnung innerhalb der deutschen "Leitkultur". Zum anderen wird das Kopftuch als Beweis für die Unterdrückung der Frau im Islam, sie selbst als passives Subjekt und Opfer des patriarchalischen Systems verstanden. Die Kopftuchträgerin gerät damit gleichsam zur Täterin, zum feindlichen Subjekt und zum Opfer. Diskriminierungserfahrungen von Kopftuchträgerinnen, unabhängig davon, ob sie das Tuch durch Zwang oder freiwillig tragen, werden kaum thematisiert. Der Körper der Kopftuchträgerin wird zum Träger von Bedeutungen im Negativdiskurs über den Islam - ihr selbst wird dabei jegliche Definitionsmacht über ihren Körper, ihr Kopftuch und damit auch ihrem Religionsverständnis abgeschrieben.
Häufigkeit und Bedeutungen des Kopftuchs
Dabei wurde die Frage nach der individuellen Motivation der Kopftuchträgerinnen in Deutschland schon mehrfach wissenschaftlich bearbeitet. Die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge herausgegebene Studie "Muslimisches Leben in Deutschland" liefert empirische Daten über die Verbreitung des Kopftuchs unter Musliminnen: 28 Prozent der Musliminnen tragen ein Kopftuch, die deutliche Mehrheit, nämlich 72 Prozent, dagegen keins. Bei den Kopftuchträgerinnen beträgt der Anteil von Mädchen unter 10 Jahren 2,5 Prozent; nur eine geringe Minderheit von Grundschülerinnen trägt es demnach, im Gegensatz zu 50 Prozent der über 66-Jährigen.
Die Studie kommt zum Ergebnis, dass in der zweiten Generation die Häufigkeit des Kopftuchtragens signifikant abnimmt: "Die Unterschiede sind offenbar darauf zurückzuführen, dass die in Deutschland geborenen Frauen deutlich seltener regelmäßig ein Kopftuch tragen."
Ähnlich brüchig ist die "Beweisführung" mit Blick auf die simplifizierende Gleichsetzung des Kopftuchs mit patriarchalen und tradierten Geschlechterrollen. Jüngste Studien zeigen, dass auch areligiöse türkische und arabische Familien wie auch beispielsweise alevitische, als liberal geltende Muslime, für die das Kopftuch gerade keine Rolle spielt, an traditionellen Geschlechterrollen festhalten. Ein Zusammenhang von Religiosität und traditionellen Geschlechterrollen scheint damit fraglich.
Indes findet unter der jungen Generation von Kopftuchträgerinnen und feministisch-islamischen Kritikerinnen bereits ein Kampf gegen patriarchalische Strukturen mithilfe von Koran und Prophetentradition statt.
Integration: Aufgabe der Religion?
Eine geschlechtergerechte Religiosität muss demnach die Partizipation am gesellschaftlichen Leben nicht ausschließen. Demgegenüber steht das Argument, dass sich Muslime nicht in eine demokratische, pluralistische Gesellschaft integrieren können, weil eine "Säkularisierung des Islams" nicht möglich sei: Im Begriff "säkulare Muslime" etwa drückt sich die widersprüchliche Logik des Diskurses aus. Widersprüchlich, da Säkularismus im deutschen Kontext die Trennung von Staat und Religion sowie die Neutralität des Staates gegenüber Religionen meint. Nach dieser Definition können Individuen und soziale Verhältnisse nicht säkular sein. Abgesehen von der Grenzziehung zu den "Nicht-Säkularen" beziehungsweise den "Säkularismus-Ablehnenden", die durch solche Begriffe als Gruppe erst konstruiert werden, impliziert der Begriff, dass eine Distanz zur eigenen Religion die Voraussetzung für Integration ist. Die Selbstbeschreibung von "Ex-Muslimen" als "säkular" treibt den Widerspruch noch weiter: Nur der Muslim, der keiner mehr ist, kann säkular sein, so die Aussage. Damit wird letztlich etwas in Gang gesetzt, dessen Gegenteil eigentlich gefordert wird: die Politisierung der Muslime.