"Ohne Verherrlichung und ohne Diffamierung"
Eren Güvercin · Hamed Abdel-Samad
Eren Güvercin: Seit einiger Zeit gibt es eine intensive Debatte über Muslime in Deutschland. Es gibt Stimmen, die im Islam einen Hauptgrund für die Integrationsprobleme sehen. Was sind die Integrationsprobleme der Muslime in Deutschland, und welche Rolle spielt dabei die Religion?
Hamed Abdel-Samad: Religion beginnt in der Familie. Wenn die Eltern die Religion als eine geistige Mauer zwischen ihren Kindern und der hiesigen Gesellschaft missbrauchen, dann kann sie zum Hindernis werden. Das wäre der Fall, wenn sie Nichtmuslime als "Ungläubige" bezeichnen oder ihre Kinder vor den Kindern, "die Schweinefleisch essen", warnen. So baut sich eine Mauer zwischen den Kindern und der Gesellschaft auf. Auf der institutionellen Ebene kann Religion ein Integrationshindernis werden, wenn die Verbände ihre religiösen Vorstellungen über das Zusammenleben stellen, darauf beharren und damit ein Sonderrecht erwirken, was wiederum bei der Mehrheitsgesellschaft schlecht ankommt. Das heißt, die Religion muss nicht ein Hindernis sein, aber sie kann es werden, wenn sowohl in der Familie als auch im gesellschaftlichen Diskurs immer nur die konfliktbeladenen Aspekte der Religion betont werden.
Sie fordern von den hier lebenden Muslimen eine Reform des Islams, einen sogenannten aufgeklärten Islam. Dabei stellen Sie aber auch den Kern der Religion infrage. Was bleibt denn dann noch von der Religion übrig?
Was ist so schlimm daran, wenn ich die Unantastbarkeit des Koran infrage stelle? In einer Demokratie darf man das tun, aus islamischer Sicht nicht. Da beginnt der Konflikt, weil ich das als mein Recht bezeichne und viele Muslime das als Angriff interpretieren. Aus intellektueller und zivilgesellschaftlicher Sicht ist dagegen nichts einzuwenden. Aber wenn die Muslime ihre Religion über all diese Grundsätze erheben, dann dürfen sie das natürlich als Angriff auffassen. Eine entspannte Debatte kann aber nur entstehen, wenn diese Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten nicht den Diskurs bestimmen, sondern wenn jeder sagen darf, was er will, ohne emotional zu werden. Das gilt nicht nur für meine Kritik, sondern für jede Form von Kritik.
Sie sind in Ägypten aufgewachsen und 1995 nach Deutschland gekommen. Wie war es für Sie, plötzlich in einer anderen Gesellschaft zu leben? Haben Sie den Kontakt zu anderen Muslimen gesucht?
Am Anfang wollte ich den Kontakt zu Muslimen vermeiden. Ich wollte nur Deutsche um mich haben, um die Sprache richtig zu lernen. Aber als die Identitätskonflikte in mir begangen, habe ich gezielt nach Gleichgesinnten in den Moscheen gesucht, um mich von den Spannungen zu erholen, die aus den intensiven Begegnungen mit der anderen Kultur entstanden sind. Es ist in der Tat ein breites Phänomen, dass vor allem unter arabischen Studenten dort ein unkontrollierter Individualisierungsprozess stattfindet (der wiederum zu einer Art Identitätskarussell führt, oder - wie ich es nenne - zu einem Identitätspoker), wo die Gemeinschaft fehlt, die einen kontrolliert, Anerkennung zeigt und Geborgenheit bietet. Das führt zu einem Hin- und Hergerissensein. Man wechselt sehr schnell das Lager, kopiert andere Sachen und verbrennt seine Finger an der Freiheit. Und dann geht man reumütig zurück in die Moschee. Die zweite Generation, die hier geboren ist, hat beide Sozialisationen parallel erlebt, durch die Familie und die Gesellschaft. Bei den arabischen Studenten, die erst später nach Deutschland kamen, erfolgte das eine nach dem anderen. Das führt bei einigen zu mehr Druck, Verwirrung und moralischer Desorientierung.
Im Zusammenhang mit der Integration von Muslimen ist oft die Rede von einer "liberalen Theologie", ohne dass klar wird, was damit gemeint ist. Ist die Frage nach der Integration überhaupt eine theologische Angelegenheit? Muss man liberal sein, um ein guter Staatsbürger zu sein?
Ich kenne viele konservative Muslime, die gut integrierte Staatsbürger sind. Das, was die Debatten dominiert, ist ein Missverständnis: Die meisten Nichtintegrierten haben mit Religion nichts am Hut. Es geht nicht darum, wie gläubig ein Mensch ist, sondern darum, wie sich dieser gläubige Mensch in Angelegenheiten einmischt, die mit Religion nichts zu tun haben wie Schulunterricht, die Freundschaften seines Kindes, die Regeln auf der Arbeit. Es gibt konservative Leute, die säkular sind. Es gibt aber auch Leute, die selber nicht fünf Mal am Tag beten, aber religiöse Grundsätze für alle Bereiche des Lebens als maßgeblich betrachten. Das behindert die Integration massiv. Daher geht es für mich weniger um eine "liberale Theologie", sondern eher um den Grundsatz, dass Religion eine Privatsache ist, und sich aus dem öffentlichen Raum und dem politischen Diskurs zurückziehen muss. Das gilt nicht nur für den Islam.
Wie bewerten Sie die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts in den Schulen?
Ich habe prinzipiell nichts gegen islamischen Religionsunterricht, aber der deutsche Staat ist getrieben von den eigenen religiösen Traditionen, vom Staatskirchenrecht, und das ist eigentlich ein Sonderfall in Europa. Im Idealfall ist Religion und Religionsunterricht eine Privatsache. Der Staat sollte sich da nicht einmischen. Aber wir haben es hier mit einer asymmetrischen Beziehung zwischen dem Staat und den muslimischen Verbänden sowie zwischen den muslimischen Verbänden und den christlichen beziehungsweise jüdischen Verbänden zu tun. Dieser gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Asymmetrie soll durch mehr Einfluss auf die Inhalte entgegengewirkt werden.
Aber grundsätzlich ist es nicht Aufgabe des Staates, für Religionsunterricht zu sorgen. Das ist eine Sache der Glaubensgemeinschaften, die sie mit ihren Anhängern aushandeln. Was der Staat anbieten kann - das wäre meine Wunschvorstellung -, ist, dass wir über die Religionen im Unterricht aufklären, ohne überall den konfessionellen Religionsunterricht einzuführen. Alle Religionen müssten mit Respekt, aber auch fachlicher Kompetenz unterrichtet werden - ohne Verherrlichung und ohne Diffamierung.
Erweitern wir das Bild: In Ihrem Buch "Der Untergang der islamischen Welt" vertreten Sie die These, dass der Islam als politische Idee und gesellschaftliche Kultur ausgedient habe. Dennoch gab es vielerorts Stimmen, die angesichts der Revolutionen in Tunesien und Ägypten vor einer Erstarkung und Machtübernahme der Islamisten warnten. Sie haben die Aufstände auf dem Tahrir-Platz in Kairo miterlebt: Waren die Muslimbrüder bei den Protesten präsent?
Sie waren präsent, aber haben die Szene nicht dominiert. Die Umwälzungen in der arabischen Welt haben die Menschen hier in Europa überrumpelt. Sie haben die ganze Welt aufgefordert, sofort zu handeln. Viele haben aber nur langsam reagiert. Diese Asymmetrie, von der wir gerade gesprochen haben, zwischen den Migranten und der deutschen Mehrheitsgesellschaft, zwischen muslimischen Organisationen und dem Staat, herrscht auch zwischen Europa und der arabisch-islamischen Welt: Wir haben immer diese Ungleichzeitigkeit, diese zwei unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten beklagt.
Doch zum ersten Mal sind es die Araber, die schneller sind: Sie nutzen Facebook, eine Errungenschaft der Globalisierung, und verändern damit in kürzester Zeit ihr Leben. Die Welt schaut zu und staunt, mehr aber auch nicht, weil man nicht bereit ist, zu verstehen, dass diese Veränderungen auch Europa zwingen, sich zu verändern. Deshalb waren die Reaktionen meist verkrampft.
Sie kennen sich mit der Muslimbruderschaft aus, da sie selbst Mitglied waren. Wie groß ist die Gefahr, die von ihr ausgeht?
Ich sage immer, der ehemalige Präsident Ägyptens Husni Mubarak wurde 1928 geboren, und im selben Jahr wurde die Muslimbruderschaft gegründet. Beide gehören zur alten Struktur. Die jungen Muslimbrüder denken anders und haben ganz andere Vorbilder als die alte Garde. Die Türkei als eine islamisch inspirierte Demokratie ist ein wichtiges Vorbild für die neue Generation. So heißt die neue Partei, die von der Muslimbruderschaft nach der Revolution gegründet wurde, "Gerechtigkeit und Freiheit" - in Anlehnung an die "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoan.
Die jungen Muslimbrüder haben sich längst vom Traum der Errichtung eines Gottesstaates verabschiedet. Alle reden von einer zivilen Gesellschaft, von einem Staat, der durch seine Institutionen lebt und nicht durch eine göttliche Macht. Die Jugend, die früher keine Stimme hatte, hat jetzt eine Stimme, und braucht die Muslimbrüder nicht mehr als Sprachrohr - auch wenn die Muslimbrüder nun nicht mehr kriminalisiert werden und sich am politischen Spiel beteiligen dürfen.
Der politische Islam hat eigentlich schon längst an Einfluss verloren, weil er nie imstande war, die Massen zu mobilisieren. Die Muslimbruderschaft hat es lange Zeit versucht, aber es ist ihnen nicht gelungen. Die jungen Menschen haben sich sowohl von den alten Strukturen Mubaraks als auch von der Ideologie der Muslimbruderschaft gelöst. Der Islam als politische Kraft hat den Muslimen nicht viel zu bieten, es sei denn, er befreit sich von dem wichtigsten Anspruch des politischen Islams, nämlich der Herrschaft Gottes auf Erden. Doch wenn ich sage, dass der politische Islam pleitegegangen ist, dann werden sowohl Europäer als auch Muslime sauer.
Das Gespräch fand am 2. März 2011 statt.
"Zusammen heißt nicht Einheitsbrei"
Eren Güvercin · Lamya Kaddor · Milad Karimi
Eren Güvercin: Frau Kaddor, Sie haben vor kurzem den Liberal-Islamischen Bund (LIB) gegründet und werben in der Öffentlichkeit für einen liberalen Islam. Was verstehen Sie darunter?
Lamya Kaddor: Ein Grund, den Verein zu gründen, war, eine Alternative zu den bisherigen Verbandsstrukturen und Vertretern eines bestimmten Islams anzubieten. Wir plädieren dafür, dass jeder Muslim sich auch das Recht nehmen soll, für sich selber zu entscheiden, wie er sein Leben gestalten möchte. Das bedeutet für uns, dass die Tore des Idschtihads
Derzeit funktioniert der Islamdiskurs so, dass diejenigen, die Positionen eines "liberalen Islams" kritisieren, als "konservativ" etikettiert werden. Müsste man nicht auf politische Zuschreibungen wie "liberal" oder "konservativ" verzichten, um dieser Dialektik entgegenzuwirken?
Kaddor: Es sind in erster Linie keine politischen Begriffe. Wir sehen auch in anderen Religionen und Konfessionen, dass es immer schon Unterscheidungen etwa zwischen Reform- oder liberalem und orthodoxem Judentum gegeben hat. Die Gründung des LIB zielte nicht darauf ab, den Begriff "liberal" als politischen Kampfbegriff zu verwenden. Ich sehe aber schon, dass es in der Öffentlichkeit mitunter so dargestellt wird, als ob es einen tiefen theologischen Graben zwischen liberal und konservativ gebe. Den sehe ich aber nicht so deutlich, weil ich glaube, dass die Grenzen fließend sind. In Relation zu anderen habe ich persönlich in einigen Dingen wahrscheinlich eine konservative Haltung, würde mich aber dennoch als liberal bezeichnen. Was macht aber eine liberal-religiöse Haltung aus, was macht eine konservative oder fundamentalistische Haltung aus? Nehmen wir ein Beispiel aus dem Bereich des gesellschaftlichen Engagements. Viele islamische Fundamentalisten sagen hier ganz klar: Der Islam ist für mich die richtige Religion, und er muss es auch für jedermann sein, ich trage aktiv durch Da'wa [Aufforderung, Einladung zum Islam, E.G.] dazu bei, dass andere zum Islam finden. Konservative würden sagen: Der Islam ist für mich die richtige Religion und sollte es auch für jedermann sein, aber ich trete nicht aktiv dafür ein, dass jeder Muslim werden muss. Ein liberaler Muslim würde sagen: Der Islam ist für mich die richtige Religion, aber muss es nicht zwangsläufig für jedermann sein. Bei letzterem wird der Absolutheitsanspruch, der Wahrheitsanspruch relativiert.
Milad Karimi: Da muss ich widersprechen. Für mich sind Begriffe wie "liberal" oder "konservativ" grundpolitische Begriffe. Nimmt man an, dass der Islam zunächst eine Religion sein soll, dann geht es um eine innere, religiöse Haltung. Ob man nun bei der inneren Haltung von einem "liberalen" oder "konservativen" Habitus sprechen kann, möchte ich bezweifeln. Der Islam hat ja große Denker und Geister hervorgebracht. Wenn wir beispielsweise an Ghazali, Ibn Arabi oder Avicenna
Kaddor: Wie gesagt, der Beweggrund war nicht, ein politisches Statement zum Ausdruck zu bringen. Es ging vor allem um die Haltung zu Fragen der religiösen Lebenspraxis, die gilt es, von der rituell-spirituellen Dimension zu unterscheiden, und hier kann man sehr wohl entweder eine freiheitliche oder eine restriktive Position einnehmen. Innerhalb unseres Vereins gibt es Positionen, die sehr unterschiedlich sind: von Mitgliedern, die Kopftuch tragen oder nicht, zu Mitgliedern, die praktizieren oder auch nicht. Das, was uns trägt, ist der Gedanke, dass jeder von uns für sich selber entscheidet und es den Menschen um sich herum frei stellt, Dinge anders zu sehen - solange niemand Schaden davon trägt. Das drückt für uns auch das Liberale aus, das es so in konservativen Kreisen einfach nicht gibt.
Lehrstühle für Islamische Theologie werden an verschiedenen Standorten in Deutschland gegründet, um unter anderem einen zeitgenössischen Islam zu schaffen. Wie kann dieser aussehen, ohne seine Authentizität zu verlieren?
Karimi: Die erste und letzte Forderung, die man an diese Lehrstühle haben muss, ist, dass sie denken. Dass sie sich denkerisch mit dem befassen, was hier im Islam sein soll. Keiner fordert von ihnen, dass sie uns vorbeten, sondern, dass sie uns die inneren Zusammenhänge dieser Religion theologisch darlegen.
Kaddor: Die Wissenschaft trägt ja auch dazu bei, die modernsten Erkenntnisse in den Bereich der Theologie einfließen zu lassen. Das bedeutet auch die Frage nach dem Hier und Heute: dass man klärt, was bestimmte Aussagen im Islam heute für uns bedeuten können. Theologen müssen uns das plausibel darlegen.
Man hört oft, dass die Tradition der islamischen Offenbarung mit ihren verschiedenen Rechtsschulen und Methodiken der Exegese in einem Widerspruch zu einem zeitgenössischen Islam stünden. Ist die Überwindung dieser über Jahrhunderte gewachsenen Tradition notwendig?
Karimi: Die Tradition abzulegen, ist die Methodik der Fundamentalisten. Wenn man das weiterführen will, dann soll man die Tradition ablegen oder verleugnen. Die historisch-kritische Methode hat es im Islam schon immer gegeben, sie ist nichts Neues. Was wir für eine Islamische Theologie in Europa fordern, ist, dass man sich gerade mit der Tradition beschäftigt. Wenn ich Koranexegese betreibe, hat es keinen Sinn, dass ich die Exegeten aus dem 9. Jahrhundert übersetze und dies dann praktiziere. Das ist keine Theologie und schon gar nicht zeitgemäß. Aber diese Exegeten zu kennen, bietet die Möglichkeit einer neuen Theologie. Es geht darum, dass man sich den Koran anschaut und ihn mit den neuesten Methoden der Hermeneutik auslegt. Was heißt es überhaupt, mit einer Sure umzugehen? Was ist eine Sure? Und was ist der Koran? Das sind spannende Fragen.
Kaddor: Ganz genau. Die Tradition ist der Beweis dafür, dass sich die Muslime immer wieder historisierend und kontextualisierend mit dem Koran auseinandergesetzt haben. Deshalb brauchen wir die Tradition. Ich glaube, dass ein Islam losgelöst von seiner Tradition gar nicht bestehen kann. Dann würde ich tatsächlich das machen, was Fundamentalisten tun: den Koran aus seinem Kontext reißen und versuchen, ihn wortwörtlich zu leben. Mir wird ja häufig vorgeworfen, ein liberaler Islam würde Beliebigkeit walten lassen. Im Grunde genommen ist es genau umgekehrt: Das, was Fundamentalisten tun, ist beliebig. Denn sie entscheiden letztlich, welche Verse wortwörtlich zu nehmen sind und welche nicht. Das kann man nur machen, wenn man der Tradition den Rücken gekehrt hat.
Karimi: Aber da muss man auch genauer definieren, was man unter Tradition versteht, und zwischen zwei Ebenen unterscheiden. Zum einen gibt es eine rationalistische Tradition, die jenseits der entwickelten Rechts- und Denkschulen existierte. Auf der anderen Seite haben wir die vier anerkannten Rechtsschulen, welche die Blütezeit des Islams repräsentieren.
Kaddor: ... oder aufheben!
Karimi: Um auf die Institutionen zurückzukommen: Ich wäre gegen eine Gleichschaltung. Ich würde mir wünschen, dass dort nicht nur "Liberale", sondern auch "Konservative" am Werk sind. Das ist auch gang und gäbe in der Theologie. Schauen Sie sich die Katholische Theologie an: Alleine an der Universität in Freiburg findet man sehr gegensätzliche Theologen, die offen debattieren. Das wünsche ich mir.
Kaddor: Aber das beinhaltet ja gerade das liberale Verständnis, dass man sagt: Es haben außer mir auch andere Recht und dürfen ihre Meinungen diskutieren ...
Wenn es um Integration geht, hört man oft die Forderung, Muslime müssten eine "liberale" Auffassung ihrer Religion vertreten, um ein guter Staatsbürger zu sein. Der Islamexperte Olivier Roy sagt, dass ihn die Forderung nach einer Reformation des Islams nicht überzeuge: "Die Einpassung der Muslime in den westlichen Kontext hat nichts mit Theologie zu tun, sondern vielmehr mit der Lebenspraxis und den Anstrengungen jedes Einzelnen (...). Das kann über kurz oder lang zu einer Art Reform des theologischen Denkens führen, aber grundsätzlich scheint es mir nicht sinnvoll, Modernität mit theologischem Liberalismus in eins zu setzen."
Kaddor: Einerseits hat Roy Recht, wenn er sagt, dass die Islamische Theologie wenig mit der Integrationsfrage zu tun hat. Ich glaube, es ist eine Reaktion auf die aktuelle Debatte, die absurderweise nicht vorrangig sozial-politisch, sondern theologisch geführt wird. Deshalb gibt es die Gegenbewegung, die den Islam mit der modernen Welt für kompatibel hält. Andererseits ließe sich über Roys Auffassung von Theologie diskutieren. Die Muslime wenden sie in ihrem Leben automatisch an. Wenn ich darüber nachdenke, wie ich bestimmte islamische Prinzipien auf mein Leben hier übertragen kann, ist das im Grunde genommen schon Theologie. Mir geht es darum, als liberale Muslimin zu sagen: Entscheidet, was ihr wollt, was für euch islamisch ist, solange ihr es selber entscheidet! Orientiert euch dabei an den Theologen, fragt euch, ob ihre Aussagen nachvollziehbar klingen, aber lasst sie nicht über euch bestimmen! Für die Frage nach einem guten Staatsbürger spielt das erst einmal keine Rolle. Es hat den Staat nichts anzugehen, ob ich meine Religion liberal oder konservativ verstehe - solange ich dabei nicht gegen geltendes Gesetz verstoße.
Ist diese Art der Auseinandersetzung mit dem Islam nicht auch in den Verbänden vorhanden? Die Verbände werden ja in der Öffentlichkeit schnell mit dem Etikett "konservativ" versehen.
Kaddor: Das Problem an den Verbänden ist, dass sie zusätzlich bestimmte kulturelle Traditionen aus den Heimatländern ihrer Gründungsmitglieder vertreten und zum Teil auch politische Ansprüche haben. Es ist nicht mal unbedingt das Theologische. Einige mögen konservative oder auch orthodoxe Prinzipien haben, aber das ist ja zunächst nichts Verwerfliches. Das Problematische an den Verbänden ist ihre politische Einstellung, etwa für alle Muslime sprechen zu wollen. Darüber hinaus fehlt mir die Debatte und der Diskurs. Man hat bei ihnen das Gefühl, jeder Verein macht irgendwie etwas für sich, und sie verständigen sich nicht einmal untereinander. Es gibt eine Führungsriege, die Funktionäre, und der Rest kriegt nichts mit. Das ist der Punkt, was sie "rückständig" erscheinen lässt. Da frage ich mich, wieso da nicht mehr kommt, denn je mehr wir debattieren, desto mehr Früchte tragen wir. Einzelne sind vielleicht in der Lage intellektuell und theologisch qualifiziert zu debattieren, aber die große Masse der Funktionäre ist es nicht.
Karimi: Es liegt im Wesen der Sache, man kann den Verbandsfunktionären ja nicht vorwerfen, dass sie nicht intellektuell genug sind. Denn das, was sie machen und machen sollen, erfordert nicht Intellektualität. Das sind Verbände und Vereine. Ihre Aufgabe ist nicht, Theologie zu betreiben.
Kaddor: Ihre Hauptaufgabe ist doch die Pflege von Religion?
Karimi: Genau, und das ist aber keine Theologie. Theologie betreibt man nicht, sondern man betreibt das, was man auch als praktische Philosophie bezeichnet, also Moralität und Sittlichkeit. Und Sittlichkeit ist ja nur ein Bereich der ganzen theologischen Debatte.
Kaddor: Es geht schon auch darum, theologische Inhalte zumindest zu besprechen.
Karimi: Genau, es gibt Religionsbeauftragte, die dies tun, und das geschieht auf einer ganz anderen Ebene. Denen geht es ja nicht darum, zu entscheiden, ob man beispielsweise als Muslim von einer Art Substanzlehre ausgehen soll oder nicht, oder ob die Welt einen Anfang haben soll oder nicht. Oder ob der Koran geschaffen ist oder nicht? Das wären grundtheologische Fragen. Die Verbände machen praktische Theologie, das ist eine ganz andere Sache. Das wurde in unserer Tradition schon immer woanders generiert, nämlich inmitten der Gemeinden: Der Beste von uns ist gemäß der Tradition nicht derjenige, der am besten gedacht hat, sondern derjenige, der am besten gelebt hat.
Kaddor: Erstens sind "grundtheologische" Fragen die Basis religiöser Praxis, das lässt sich wohl kaum abkoppeln, weder historisch noch gegenwärtig. Zweitens müssen wir gerade diese Tradition heute umdrehen: Es darf eben nicht mehr darum gehen, zu schauen, wer seine Religion nach außen wie lebt. Das mag auch eine Frage sein, aber in dieser Welt, in der wir leben, darf sie nicht zentral sein. Zumindest muss man sich vermehrt darum bemühen, beides in ein Gleichgewicht zu bringen.
Karimi: Ist die Gründung eines Vereins dafür eine Lösung? Entweder ist man eine politische Vereinigung, dann ist das sowieso eine andere Sache, oder eine religiöse Vereinigung, dann wäre das eine Sekte. Ein eigens dafür bestimmter Verein, islamisch-theologische Fragen zu bestimmen, wäre demnach per definitionem eine Sekte.
Kaddor: Dann wären ja alle Sekten ...
Karimi: Wenn die einzelnen Vereine den Anspruch haben, religiös zu sein, dann sind das Sekten. Wenn wir schon von einer modernen Welt reden, dann erwarte ich von einem Verbandsfunktionär nicht, dass er mir Theologie beibringt. Sie haben ganz andere Aufgaben: Die Muslime in Deutschland brauchen Seelsorger und Leute, die unsere Toten beerdigen. Das ist nicht die Aufgabe eines Theologen. Auch wenn ich unabhängig bin, habe ich ein Herz für die Verbände, weil sie versucht haben, viel zu viel zu machen. Deswegen ist daraus auch nicht viel geworden ...
Kaddor: Sie erheben allerdings den Anspruch, eben dies zu tun.
Die Verbände repräsentieren eine große Anzahl an Moscheegemeinden ...
Kaddor: ... genau, wo Predigten gehalten werden oder religiöse Beratung betrieben wird - auf der Basis von Theologie, oder auf welcher sonst? Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt für meinen Geschmack zu sehr auf der praktischen Theologie und zu wenig auf dem innerislamischen Dialog, der sich zunehmend aufdrängt. Aber um das zu leisten, muss es innerhalb dieser Verbände mehr Menschen geben, die sich speziell mit theologischen Fragen beschäftigen.
Karimi: Man muss ihnen die Arbeit auch wegnehmen. Man sollte nicht nur darauf hinweisen, was sie falsch machen, sondern es geht darum, dass ich hingehe und sage, diese Arbeit, die sie tun, kann ich viel besser machen. Einige Verbände haben auch versucht, Bücher zu machen. Aber wie machen Verbände Bücher? Sie sind ja keine Verlagsanstalten, keine Herausgeber. Sie haben aus ihren Herkunftsländern Bücher übersetzt oder Gebetsbücher für Kinder herausgegeben, die man sich nicht anschauen kann. Sie sind nicht nur sprachlich schlecht, sondern auch in der Gestaltung. Das ist keine Kritik, sondern es berührt mein Herz. Wir können aber auch unseren eigenen Beitrag leisten, in dem jeder das macht, was er am besten kann. Was vor allem sehr wichtig ist - das tun wir gerade in diesem Augenblick -: miteinander streiten, um dann auch klarzustellen, welche Haltungen wir haben, indem wir Farbe bekennen. Dann kann jeder Muslim sehen, wo er sich angesprochen fühlt - Zusammen heißt nicht Einheitsbrei. Aber wenn wir nicht miteinander reden aufgrund persönlicher Ressentiments oder Macht- und Politikspielchen, dann gibt es kein Zusammen.
Das Gespräch fand am 3. März 2011 statt.