Einleitung
"Hauptsache Arbeit!" ist in den Auseinandersetzungen um Erwerbsarbeit ein häufig gehörtes Schlagwort. Seit längerem wird der arbeitspolitische Fokus jedoch auch auf die Qualität von Arbeit gelegt. Aber was verstehen wir eigentlich unter Qualität von Arbeit? Welche Kriterien werden zugrunde gelegt, und wie kann Qualität gemessen werden? Um diese Fragen zu beantworten, ist es hilfreich, die auf europäischer und bundesdeutscher Ebene diskutierten Qualitätskonzepte mit Blick auf ihre Inhalte, die damit verbundene Praxis und ihre Leerstellen zu analysieren. Die Bewertung dieser Qualitätskonzepte geht dabei von folgenden Überlegungen aus:
Erstens ist bei (Mess-)Konzepten zur Qualität von Arbeit zentral, wie Arbeit definiert wird. Zu fragen ist, ob es vorrangig um Erwerbsarbeit und damit um die Qualität bezahlter Arbeit geht. Angesprochen ist das meist unsichtbare Feld von Care-Arbeit, die im weitesten Sinne als menschliche Reproduktionsarbeit des Versorgens, Erziehens und Betreuens definiert werden kann. Diese Sphäre schafft nicht nur die sozialen Voraussetzungen für Produktion und globalisierte Märkte, sondern kann selbst als ein zentrales Feld gesellschaftlicher Produktion betrachtet werden.
Zweitens ist auch die Erwerbsarbeit differenziert zu betrachten. Eva Senghaas-Knobloch unterscheidet vier Funktionen von Erwerbsarbeit: individuelles Einkommen, psychosoziale Funktion, soziale Absicherung und bürgerschaftliche Integration über Erwerbsarbeit.
Drittens ist es für die Einschätzung von Qualitätskonzepten von zentraler Bedeutung, ob und wie ungleiche Erwerbschancen und -realitäten erfasst werden. Der Arbeitsmarkt in Deutschland, aber auch innerhalb der Europäischen Union (EU) ist stark segregiert. Neben einer starken Geschlechtersegregation sind die nationalen Arbeitsmärkte auch entlang anderer sozialer Kategorien gespalten. Junge oder ältere Beschäftigte, Menschen mit Behinderung oder Migrantinnen und Migranten haben nicht nur niedrigere Beschäftigungsquoten, sondern arbeiten häufiger in atypischen und vielfach prekären Arbeitsverhältnissen. Geschlechtliche und soziale Ungleichheiten im Erwerbsleben sind aber nicht naturgegeben, sondern das Resultat gesellschaftlicher Machtverhältnisse und stehen in engem Zusammenhang mit der politischen Steuerung der Arbeitsmärkte. Sie haben mithin einen primär sozialstrukturellen Hintergrund. Zu fragen ist daher etwa, ob die aktuellen Politiken und die damit verknüpfte Vorstellung von Qualität der Erwerbsarbeit diese Ungleichheiten aufrechterhalten und womöglich eher verschärfen, oder dazu beitragen können, soziale Exklusion abzubauen.
Viertens muss bei jeder Diskussion über Qualität von Arbeit die Form der Messung reflektiert werden: Wird Qualität als abgeleitete Kategorie (von Quantität) begriffen? Stehen vorrangig strukturelle Dimensionen von Erwerbsarbeit im Mittelpunkt, oder werden jenseits dessen auch subjektive Einschätzungen von Arbeitenden erhoben, die ein elementarer Bestandteil bei der Bewertung der Qualität von Arbeit sind? Nur so können die komplexen Verschiebungen abgebildet werden, die sich durch den Wandel von Arbeit und Arbeitsverhältnissen ergeben. Insgesamt wird deutlich, dass es bei der Diskussion und Messung der Qualität von Arbeit auch um Faktoren geht, die nicht notwendig oder gar ausschließlich mit der unmittelbaren Qualität am Arbeitsplatz zusammenhängen. Vielmehr muss die Perspektive auf Arbeit als Medium gesellschaftlicher Integration sowie die Frage der sozial ungleichen Verteilung, Bewertung und Organisation von Arbeit stärker in den Mittelpunkt rücken. Im Folgenden sollen mit Blick auf diese Aspekte die Debatten zur Qualität von Arbeit in der EU und in Deutschland vorgestellt und analysiert werden.
Qualität von Arbeit in der EU
Die Qualität von (Erwerbs-)Arbeit ist seit dem Lissabon-Gipfel im Jahr 2000 ein Thema in der EU. Unter dem Motto "More and better jobs" verfolgt die Europäische Beschäftigungsstrategie (EBS) nicht nur das Ziel, Beschäftigung quantitativ auszuweiten, sondern verbindet dies auch mit dem Anspruch an eine höhere Qualität von Erwerbsarbeit.
Die vergangenen zehn Jahre haben jedoch gezeigt, dass die Qualität von (Erwerbs-)Arbeit dem quantitativen Wachstum von Beschäftigung deutlich untergeordnet wird. Begründet wird das zum einen mit ökonomischen Krisen und den nicht erreichten Zielen bei den Beschäftigungsquoten.
Außerdem gibt es auf europäischer Ebene zur Messung der Qualität von Arbeit letztlich keine operationalisierbare Bewertungsmethode. Die EU-Agentur European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions (Eurofound) hat des Öfteren moniert, dass die Menge und Breite der von der EU aufgerufenen Qualitätsfaktoren eine politische Nutzung deutlich erschweren. Dies zeigen nicht zuletzt die skizzierten Qualitätsdimensionen aus der EBS. Den umfangreichen Erhebungen von Eurofound über Arbeitsbedingungen (European Working Conditions Surveys - EWCS), in denen seit 1990 alle fünf Jahre Beschäftigte und Selbstständige zu ihrer Tätigkeit befragt werden, liegt daher ein Konzept von Erwerbsarbeit und Beschäftigung mit vier Dimensionen (Berufliche Entwicklung und Beschäftigungssicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden, Kompetenzentwicklung, Vereinbarkeit von Arbeits- und Freizeit) zugrunde.
Messkonzept des Statistischen Bundesamts
Das Statistische Bundesamt hat die Qualität von Arbeit 2010 anhand von sieben Dimensionen gemessen: 1. Arbeitssicherheit und Gleichstellung, 2. Einkommen und indirekte Arbeitgeberleistungen, 3. Arbeitszeit, Ausgleich von Beruf und Privatleben, 4. Beschäftigungssicherheit und Sozialleistungen, 5. Arbeitsbeziehungen, 6. Qualifikation und Weiterbildung, 7. Zusammenarbeit und Motivation. Innerhalb dieser Dimensionen wird die Qualität von Erwerbsarbeit mit rund 30 Kennzahlen dargestellt.
Hintergrund für die Studie ist ein international vereinbarter Indikatorenrahmen, der von einer Taskforce aus Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UNECE), Internationaler Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO) und Statistischem Amt der Europäischen Gemeinschaften (Eurostat) entwickelt wurde, um eine europaweite Vergleichbarkeit der Daten zur Qualität von Arbeit zu erzielen. Orientierungspunkte hierbei bilden die Indikatorendiskussion der ILO zur menschenwürdigen Arbeit (decent work) sowie die bereits oben angeführten Qualitätsdimensionen aus der Europäischen Beschäftigungsstrategie "More and better jobs".
Es stellt sich aber nicht nur die Frage der hierarchischen Darstellung von Qualitätsdimensionen, sondern auch die Auswahl der den Dimensionen zugrundeliegenden Indikatoren muss kontinuierlich diskutiert und gegebenenfalls erweitert werden. So wird der Ausgleich von beruflichen und privaten Belangen überwiegend durch das Ausmaß der Vereinbarkeit von Beruf und Familie gemessen (unter anderem über Personen, die Elternzeit und -geld in Anspruch nehmen, Erwerbstätigenquotenverhältnis und Teilzeitquote von Eltern). Dabei umfasst der Ausgleich von beruflichen und privaten Belangen weit mehr als die notwendige Zeit für Familien, zum Beispiel Freiräume für freiwilliges Engagement oder Freizeit. Des Weiteren muss die Aussagekraft manches Indikators relativiert werden: So sagt der Anteil der gesetzlich rentenversicherten Personen noch nichts über die Höhe der Rente aus und ob sie existenzsichernd ist.
Initiative Neue Qualität der Arbeit
Eine andere Aktivität, die stärker im politischen Raum angesiedelt ist, stellt die Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) dar, die vor dem Hintergrund des Wandels von Erwerbsarbeit im Jahr 2002 als Gemeinschaftsinitiative von Bund, Ländern, Sozialpartnern, Sozialversicherungsträgern, Stiftungen und Unternehmen startete und mit der eine gesellschaftliche Debatte angestoßen werden sollte zur Frage: "Wie wollen wir arbeiten?" Erklärtes Ziel aller Akteure ist es, über Wissenstransfer, Förderung von unternehmensbezogenen Modellprojekten und gute betriebliche Praxen, "qualitativ gute Arbeitsbedingungen zum Wohle der Betriebe und Beschäftigten zu realisieren".
Typisch für die deutsche Perspektive ist zudem die Konzentration auf die unmittelbaren Bedingungen am Arbeitsplatz, insbesondere hinsichtlich Gesundheit und Arbeitsschutz. INQA ist institutionell bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) angesiedelt, die mit der Erfassung und Analyse von Arbeitssicherheit, Gesundheitssituation und Arbeitsbedingungen in Betrieben und Verwaltungen befasst ist. Dabei hat die BAuA ihren ursprünglich traditionellen Ansatz des Arbeitsschutzes durchaus erweitert: "Die Zusammenhänge zwischen den Arbeitsbedingungen und moderner Technik werden ebenso betrachtet wie das soziale Zusammenleben der Menschen im Betrieb oder die ökonomische Seite sicherer Arbeit."
DGB-Index "Gute Arbeit"
Im Rahmen von INQA wurde 2006 auch eine Studie unter dem Titel "Was ist gute Arbeit? Anforderungen aus der Sicht von Erwerbstätigen" veröffentlicht, welche die Basis für den von gewerkschaftlicher Seite im Jahr 2007 initiierten DGB-Index "Gute Arbeit" bildete. Dieser Index soll die Arbeitsbedingungen in Deutschland aus Sicht der Beschäftigten erfassen und Ansatzpunkte für eine verbesserte Arbeitsgestaltung liefern. Unter der Devise "Gut ist eine Arbeit, die den Ansprüchen der Beschäftigten gerecht wird"
Die Reaktionen auf den Index sind überaus gespalten:
Für einen erweiterten Qualitätsbegriff
Insgesamt wird deutlich, dass verschiedene Konzeptionen von Qualität auch verschiedene (Mess-)Probleme sowie unterschiedliche politische Schlussfolgerungen nach sich ziehen. Eine enge Definition von Qualität, die ausschließlich auf objektiven Strukturdaten basiert, läuft zum einen Gefahr, "weiche" Faktoren auszugrenzen, die nicht an den Dimensionen von Einkommens- und Beschäftigungssicherheit oder eindeutig quantifizierbaren Größen orientiert sind. Hierzu gehören insbesondere Felder, in denen Erwerbsarbeit eine psychosoziale oder eine gesellschaftliche Integrationsfunktion besitzt. Zum anderen orientiert sich eine enge Definition von Qualität zwangsläufig am Status quo und kann den Wandel von Beschäftigung nur ex post beschreiben. Längerfristige, sich oftmals nur sukzessive abzeichnende Entwicklungen im Wandel der Arbeitsgesellschaft können dabei nicht angemessen berücksichtigt werden. Gleichwohl bleibt auch die strukturelle Dimension zur Erfassung der Qualität von Arbeit wichtig, um zu sehen, wie stark ungleiche Erwerbschancen und -verläufe in die Grundstrukturen des Arbeitsmarktes eingelassen und für dessen Funktionsweise konstitutiv sind. Insofern ist letztlich das Mischungsverhältnis objektiver und subjektiv relevanter Messgrößen bei der Entwicklung von Qualitätskonzepten entscheidend.
Qualität von Erwerbsarbeit muss zudem in einem größeren arbeitsmarktpolitischen Kontext analysiert und diskutiert werden, da ansonsten die gesellschaftliche Integrationsfunktion von Arbeit aus dem Blick gerät. Eine kontextlose Definition der Qualität von Arbeit ignoriert die höchst unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt und die im Arbeitsmarkt fortgesetzten sozialen Ungleichheiten. So zeigt sich, dass sich für jene Gruppen, deren Arbeitsbedingungen durch niedrige Qualität gekennzeichnet sind und die nur einen eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt besitzen, arbeits(markt)politisch auch am wenigsten bewegt hat bzw. diese Gruppen zu schnell aus dem Blick geraten. Dies gilt für die deutsche Beschäftigungspolitik mit ihrer starken Konzentration auf den sozialpartnerschaftlichen Dialog noch stärker als für die europäische Ebene, die sozialen Zusammenhalt und Inklusion als Kern des europäischen Sozial- und Beschäftigungsmodells betrachtet und vor diesem Hintergrund zumindest um ein Mindestmaß an Integration von am Arbeitsmarkt benachteiligten Gruppen bestrebt sein muss.
Wie stark Qualitätskonzepte gesellschaftliche Hierarchien und Widersprüche widerspiegeln, zeigt sich zuletzt auch dadurch, dass alle hier besprochenen Ansätze ausschließlich Erwerbsarbeit in das Zentrum ihrer Erfassung stellen. Der Bereich von Care und Reproduktion wird in der Regel als nachgeordnet betrachtet. Er muss sich den Erfordernissen von Erwerbsarbeit unterordnen bzw. mit ihnen "vereinbar" werden. Gerade vor dem Hintergrund der wachsenden Durchlässigkeit von öffentlicher und privater (Produktions-)Sphäre unter dem Vorzeichen der Marktdurchdringung (versinnbildlicht durch die Care-Worker oder die Entgrenzung von Erwerbsarbeit) und der hohen ökonomischen Bedeutung der unbezahlten Arbeit wäre es geboten, den Bereich von Care auch im Rahmen von Qualitätsoffensiven neu zu denken. Überlegungen zur Messung des Wertes unbezahlter Arbeit sollten von Regulierungsbemühungen prekärer Arbeit (Mindestlöhne, Mindeststandards) und einer verstärkten gewerkschaftlichen Mobilisierung in diesen Feldern begleitet werden. Damit ließen sich Geschlechterhierarchien, aber auch die hierarchische Konzeption von Produktion und Reproduktion entlang weiterer Kategorien sozialer Ungleichheit hinterfragen.
Seit über zehn Jahren gibt es nunmehr Versuche, Qualität von Erwerbsarbeit zu messen und politisch zu befördern. Allerdings sind wir noch weit davon entfernt, Qualität von (Erwerbs-)Arbeit als allgemein anerkanntes Ziel und arbeitspolitische Strategie etabliert zu haben. Das lässt sich bei der Betrachtung der deutschen Situation klar erkennen. Qualität wird, wie in der jüngsten ökonomischen Krise erneut offensichtlich geworden ist, vorrangig als abgeleitete Kategorie von Quantität begriffen, mithin als "weiches" Thema für gute Zeiten. Bislang hat das quantitative Beschäftigungswachstum also vorderste Priorität, allen Qualitätsoffensiven zum Trotz. Deswegen ist die Qualität von (Erwerbs-)Arbeit politisch immer umstritten und benötigt neben guten Konzepten und Strategien auch eine breite gesellschaftliche Unterstützung.