Herr Faruk
Herr Faruk ist kein typischer Repräsentant der türkischen "Gastarbeiter". Im Jahr 1983, zehn Jahre nach dem Anwerbestopp, emigriert er im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland. Seine Frau war dagegen schon 1970 nach Deutschland ausgewandert, wo sie in einer Druckerei arbeitete. Die Entscheidung, seiner Frau nachzuziehen, schildert Herr Faruk als das Ergebnis eines längeren Abwägens. So hatte er in seinem Herkunftsdorf einen angesehenen Status als Volksschullehrer inne; in Deutschland würde er nach eigener Einschätzung jedoch "ganz unten" anfangen müssen. Ausschlaggebend für die Emigration seien dann auch angesichts der Umbrüche in der Türkei politische Motive gewesen.
In Deutschland bleibt Herr Faruk zunächst fünf Jahre ohne Arbeitserlaubnis. Konfrontiert mit der Unmöglichkeit, eine Anstellung als Lehrer zu finden, und der als belastend empfundenen Situation, nur für den Haushalt zuständig zu sein, beginnt er seine dortige Arbeitsbiografie mit einer Reihe selbständiger Tätigkeiten. Er arbeitet als Marktverkäufer, führt einige Jahre ein Café, um schließlich eine Fernsehproduktion aufzuziehen, die jedoch in Insolvenz und Schulden mündet. Nach dieser Periode selbständiger Erwerbstätigkeiten vermittelt ihm seine Frau im Jahr 1988, als er seine Arbeitserlaubnis erhält, eine Stelle in jener Druckerei, wo sie seit vielen Jahren arbeitet. So tritt Herr Faruk nach gut fünf Jahren seinen, wie er es ausdrückt, "ersten richtigen Arbeitstag" in Deutschland an. In der Position des ungelernten "Produktionshelfers" lernt er die Welt des Industriegewerbes kennen. Dabei erlebt Herr Faruk die Herabwürdigung und Diskriminierung der "Gastarbeiter" in deutschen Betrieben. Diesen will und kann er sich nicht gänzlich unterwerfen. Sicherlich auch wegen seines statushöheren Hintergrundes als Volksschullehrer verhält er sich eigensinnig und bis zu einem gewissen Grad widerständig. Die beständige Schlechterbehandlung seiner ausländischen Kollegen im Betrieb zehrt jedoch, und die Konflikthaftigkeit seiner Renitenz führt ihn schließlich in eine psychische Krise, so dass er nach 15 Jahren den Betrieb verlässt.
Danach gefragt, wie sich die Arbeitswelt in der Druckerei in diesen 15 Jahren verändert hat, antwortet Herr Faruk in Bildern: dem eines Glases, in das beständig Wasser tropft, bis es irgendwann überläuft; und dem eines ausgestreckten Armes, der ein Blatt Papier zu halten hat, bis er irgendwann müde wird. Der technische Wandel und die Beschäftigungskrise im Druckereigewerbe kommen in der Erzählung von Herrn Faruk gar nicht vor. Vielmehr überwiegt schlicht die Permanenz der "ethnischen Unterschichtung", der Schlechterbehandlung und Diskriminierung ausländischer Arbeiter, die kaum eine Aussicht auf innerbetrieblichen Aufstieg haben.
"An so einen Punkt bin ich gekommen"
Herr Faruk: 8.8.88. Das ist mein erster richtiger Arbeitstag. (...) Angefangen. In Berlin, Druckerei.
Carsten Keller: Wo Ihre Frau auch gearbeitet hat?
Ja, diese Firma (...), das ist eine traditionelle Firma, 130 Jahre vorher gegründet. Natürlich ich hab geschuldigt in Bank. Ich bin pleite. In dieser Zeit haben wir auch die Arbeitserlaubnis geholt. Das war in den Zeiten dieser Fernsehsache. (...) Und dann, habe ich halt dort angefangen zu arbeiten, als Produktionshelfer. (...) Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben angefangen, als Arbeiter zu arbeiten. Zuerst hat es mich gestört, weil ich als Arbeiter, das was mich gestört hat als Arbeiter ... , eigentlich war das, was mich störte nicht die Arbeit, sondern das Verhalten der Menschen dort, die Umgangsformen. Das war für mich eine Lehre, die ich zum ersten Mal im Leben hatte. Weil ich nicht so gearbeitet habe, nicht mit Deutschen gearbeitet hatte. Ich hatte, in meinem Leben, noch nie Anordnungen erhalten. Also: "Das machst du! Dies machst du! Das sollst du so machen! Das sollst du so machen! Das wirst du tun! Tu dies, tu das!" (...)
Die deutsche ..., die in Europa vorhandene Arbeits- ..., die Innenansicht habe ich kennengelernt. Zum Beispiel wir arbeiten locker in der Türkei. Ja, hier ist es sehr, so, sehr - streng. Streng, ja. Wenn du dir einen Tee holst oder zur Toilette gehst, musst du erst die Erlaubnis einholen. Ja, klar okay, aber es war sehr streng. Wir haben natürlich in drei Schichten gearbeitet. Unsere deutschen Kollegen waren in der Regel ausgebildete, gebildete Menschen. Die waren die Drucker. Und wir haben ihnen zugearbeitet. Waren studiert, sowas. (...) Ich war auch gar nicht in der Lage Maschinenführer zu werden. Das war ja das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Druckerei betreten habe. Aber ich hatte meine Wahrheiten in meinem Leben. Das ist überhaupt nicht wichtig. Egal wo ich bin, das was mir richtig oder nicht richtig erscheint, wo auch immer, was auch immer das ist, dem stelle ich mich. Das heißt hier ...
Dadurch kann man sich dann distanzieren?
Dieses Verhalten von mir hat dort zu ständigen Konflikten geführt. Meine Regeln. Normalerweise waren die Regeln der Fabrik verbindlich. Aber ich habe meine Regeln daneben gestellt. Zum Beispiel gab es Folgendes. Ich habe meine Arbeit richtig gemacht, immer. So wie ich es konnte. Wenn zum Beispiel der Chef kam, ist jeder aufgestanden. Sogar wenn es keine Arbeit gab, es gibt nichts zu tun, also, Stillstand, aber jeder versucht, irgendetwas zu tun, zu fegen und so. Bei mir war alles sauber, egal ob ich zu tun hatte oder nicht. Ich habe alles in Ordnung gebracht und so beendet. (...) Wenn der Chef kam, bin ich nicht aufgestanden, denn ich hatte meine Arbeit schon vollbracht. Aber die, die machten nichts und wenn der Chef kam, haben sie sofort angefangen irgendwas zu tun. Das war in der ganzen Fabrik so. Ich saß, der Chef, alle schauten sie mich an, hinter dem Fenster haben sie gespäht. Da sitzt er, der Chef wird jetzt rumgehen, zuerst sagt er nichts zu mir. Dann kommt er an meine Seite und sagt: Warum sitzt du?" Er meckert. "Ich sitze, ja!" "Ja, und wieso?" "Ich habe schon alles geputzt!", sagte ich dann, "alles, alles sauber", und, und, und. Das hat ihm die Laune verdorben. Also eigentlich sah er mich als respektlos an, in dem Sinn, dass ich ihm gegenüber keinen Respekt zeigte. Aber ich lasse mir nichts nehmen, ich blieb aufrecht.
Und die Kollegen? Waren das auch türkische Arbeiter, oder?
12 Türken gab es. Produktionshelfer.
Ja, Produktionshelfer. Was haben Sie da genau gemacht in der Druckerei?
Wir haben die aus der Maschine kommende Ware genommen, sie zu Paketen verpackt, auf Paletten gestapelt. Dann haben wir die Paletten genommen und in das Lager gebracht. Dann haben wir die Paletten in den Keller gebracht und da dann halt gestapelt. (...)
Also es war im Grunde eine ganz einfache Arbeit.
Ja, aber, wenn die Maschine lief, war unsere Arbeit natürlich schwer. (...)
Und wie viele Leute haben in der Fabrik gearbeitet?
Am Anfang waren wir 140 Personen, die gearbeitet haben. Es war ein Familienbetrieb. Groß, also mit 140 Personen arbeiteten wir, in unterschiedlichen Bereichen. Zum Beispiel gab es welche, die im Büro arbeiteten, welche die in der Kopie arbeiteten. Wir waren in der Produktion. Produktionshelfer.
Wie groß war der Anteil von ausländischen Arbeitern in der Fabrik? Also von türkischen oder, oder ...?
Wir waren 12, 13 Personen. Wir sind nur unten, Produktion. Griechen gab es auch, mit uns zusammen. Griechen und Türken, unten. Es gab auch Deutsche. Es gab auch Deutsche, die mit uns zusammengearbeitet haben.
Aber der überwiegende Teil waren deutsche Arbeiter?
Das waren die mit Ausbildung. Wir zum Beispiel, da wir ohne Ausbildung waren, dort Produktionshelfer, also, zuerst ist man als Hilfsarbeiter eingestiegen. Dann Produktionshelfer zwischen Drucker und Hilfsarbeiter. Normalerweise Hilfsarbeiter. Da kommt man gar nicht in die Maschine rein um zu arbeiten. (...)
Sie sind dann vom Hilfsarbeiter ...
Hilfsarbeiter und dann Produktionshelfer und dann Drucker. Drucker, das waren natürlich die mit der Ausbildung. Die Deutschen. Maschinenführer, so was. (...) Ich habe gesehen, wie die Deutschen über die Ausländer ... , die Zuständigkeiten auf sie abgewälzt haben, die Last. Die Umgangsformen habe ich kennengelernt. Also, im Arbeitsleben, dort. Zum Beispiel, brüllend, beleidigend: "Mach dies, mach das, mach das so, das so!" Immer dieser Befehlston. Okay, das sind untergeordnete Menschen, nun gut. Aber zu einem Deutschen, einem Deutschen: "Hans, bitte machen Sie das." (...)
Das war langfristig, diese Arten des Umgangs. Also jetzt, klar, einige von den Druckern haben ihre eigenen psychischen Probleme, die Probleme zu Hause, die Probleme im Sozialleben, das was sie schmerzte, ihnen Sorgen bereitete, gleichzeitig mit zur Arbeit gebracht. Das ist normal. Jeder bringt sich, seinen Stress mit zur Arbeit. (...) Was passiert dann? Diejenigen, die in den unteren Sektoren sind, wir zum Beispiel. Ausbildung, das ist nicht gebildet. Ausbildung ist etwas anderes. Er hat schlechte Laune und sitzt da: "Mach dies, mach das, mach, mach, mach!" Seine eigene Arbeit hat er uns machen lassen zum Beispiel. (...)
Es gibt so einen Innenvertrag, aus dem bricht man in dem Moment aus, wenn man sagt: "Nein, das mache ich nicht." Dann wird dir gesagt: "Geh nach Hause. Du musst es machen, du hast so oder so keine Alternative!" Dies trägt dazu bei, dich in deine Krise hinein zu ziehen. Dann kommst du nach Hause ..., wir haben unter Freunden darüber gesprochen, warum das so ist. Manchmal habe ich mich auch mit den Deutschen gestritten, Streit, naja, Wortgefechte gab es. Aber wenn wir nach Hause kamen, trugen wir den Stress, den wir hatten, auf Händen. Wenn wir uns mit dem Ehepartner unterhalten haben, die Deutschen haben dies gemacht, die Deutschen haben jenes auf Arbeit gemacht. Das war für eine lange, ausgedehnte Zeit so in diesem Arbeitssystem.
In diesem Arbeitssystem tragen wir alle diese Angriffe mit nach Hause. Wenn wir sie nach Hause getragen haben, reden wir. Da ist unser Kind, ein dreijähriges Kind. "Sieh mal, mit meinem Papa haben die Deutschen das so gemacht, bei seiner Arbeitsstelle!" Wenn das Kind anfängt, das zu hören. Wir haben es nicht bemerkt, waren uns nicht bewusst darüber, dass wir angefangen haben, unsere Kinder den Deutschen gegenüber feindlich zu erziehen. Ja! Sagen wir nicht Feind, also, dagegen. Zum Beispiel, mein Kind ist hier geboren, hier aufgewachsen, kennt die Türkei überhaupt nicht. Bei einem Nationalfußballspiel, wenn Deutschland und Italien spielen, ist es nicht für Deutschland, es ist zum Beispiel für Italien. Ich habe das irgendwann vor mir entstehen sehen. Hier gibt es Tausende von Türken, die füllen Stadien mit türkischen Fahnen aus. Wie ist denn dieses Gefühl aufgekommen? Das Soziale bringt den Menschen halt an diesen Punkt. Ein besorgniserregender Umfang. (...)
Und gab es in diesen 15 Jahren [von 1988 bis 2003] eine Entwicklung in diese Richtung? Waren das immer Phasen, dass die Vorarbeiter schlecht gelaunt waren und ihre schlechte Laune an den ausländischen Mitarbeitern abgelassen haben, oder gab es auch eine Entwicklung, dass sie innerhalb von diesen 15 Jahren zunehmend belastet wurden, als Gastarbeiter?
Das war so. Eigentlich findet sich der Druck in den Gefühlen und Gedanken eines Menschen. Wenn auf der Arbeit etwas schief läuft, geht der Chef zu den Druckern und brüllt und meckert den Arbeitenden an. Wenn es gut läuft, gibt es keine Probleme. Aber wenn man etwas ununterbrochen erlebt, also, zum Beispiel, ich habe die Vorstellung von Druck, in unserem Arbeitsbereich gab es Nachteile. Sagen wir [nimmt ein Blatt Papier]: das ist zwei Gramm, ne? (...) Das ist noch leicht. Okay, kommen wir zu einer anderen Perspektive. Ich trage so [hält das Papier mit ausgestrecktem Arm]. Eine Stunde, kann ich, ne? (...) Zwei Stunden? Geht (...)
Aber drei Stunden, schaff ich nicht. Meine Arme ist ..., tut weh. Das ist das. Wenn lange Zeit arbeitest du dort, jeden Tag kommt eine, äh. Was war [das Sinnbild] noch mal [mit den] Tropfen? Zum Beispiel ich ... Was war nochmal sich aufrecht halten? Ja. Über diese lange Zeit kann man das nicht mehr tragen. Die kleinste Sache, ohne Unterbrechung, macht das Glas voll. Und irgendwann kommst du an einen Punkt, an dem du es nicht mehr ertragen kannst.
Ich selber, bin im Jahr 2002, also zu der Zeit, als die Fabrik nicht mehr so lief, alles fing an, mir schwer zu fallen. Zum Beispiel, ich habe neben mich eine Eisenstange gelegt. "Wenn der jetzt noch einmal kommt und mir noch mal was sagt, dann schlage ich den Chef mit dem Teil", dachte ich mir. An so einen Punkt bin ich gekommen. Ja, ein Mensch wie ich! Kannst du dir das vorstellen?! An was für einem Punkt ich angekommen war! Dann habe ich angefangen, über mich selber zu lachen und nachzudenken. Das war meine Entscheidung, den Chef schlagen zu wollen. Also, die spielen mit deinem Selbstwertgefühl, von Zeit zu Zeit. Da kommen natürlich viele Sachen zusammen. Ich bin dann in eine Krise geraten. Ich selber, ich sehe mich ja selber, ich war dann drei, vier Monate krank geschrieben.
Herr Volkert
Herr Volkert arbeitet seit über 40 Jahren als Stahlbauschlosser im ostdeutschen Lingner Werk in M.
Es ist eine anspruchsvolle Arbeit, deren Anforderungen oft unterschätzt werden: "Also ein Dummer schafft es nicht. Man muss ja so eine Zeichnung lesen können. Ohne ein bisschen Mitdenken schafft man es nicht. (...) Da muss man wirklich nach Millimetern arbeiten können und nicht wie auf dem Bau nach Zentimetern. Bei uns muss das schon ein bisschen genauer gemacht werden. (...) Das ist schon eine komplizierte Arbeit und die wird immer unterschätzt, zumindest von den höheren Kräften. 'Stahlbau', sagen die, 'ist nur minderwertige Arbeit, die wird nach Kilopreis bezahlt (...)'. Also das kann man so nicht sagen, dass die Arbeit so minderwertig ist, wie sie immer dargestellt wird. Wie gesagt, es ist eine interessante Arbeit. Es ist ja nicht, dass man immer dasselbe baut, man baut ja auch immer mal was anderes. Und man ist natürlich auch stolz, wenn man es geschafft hat am Ende."
Auch wenn Herr Volkert von seiner persönlichen Arbeitsleistung überzeugt war und ist, hat er seine Weiterbeschäftigung bei Lingner trotz der mehrfachen Entlassungswellen in den frühen 1990er Jahren eher als glückliche Fügung denn als Folge seiner Leistung erlebt: "Ein bisschen Glück ist schon dabei, ja ja. Denn wie gesagt, ich hätte auch mit entlassen werden können, hätte ich jetzt keine Kinder gehabt. Da hätte der gesagt, der hat keine große soziale Verantwortung hier, raus. (...) Na ja, da waren natürlich, manche, die gehen mussten, dann ein bissel betröppelt, aber da konnten ja die nichts dafür, die überlebt haben. (...) Da ist eine Auswahl getroffen worden, meist eben von einem Vorgesetzten. Am Ende, ich konnte ja nichts machen dafür. Man hätte mehr protestieren können vielleicht, aber ich glaube, das hätte auch nichts mehr gebracht."
"Man wird getrieben"
Seit ein paar Jahren fällt ihm die Stahlbauschlosserei zunehmend schwerer, was nur auf den ersten Blick etwas mit dem Älterwerden zu tun hat. "Die Arbeit ist nicht schlecht, aber sie fällt mir doch schon schwer. 45 Jahre, da wird es Zeit, dass man zur Ruhe kommt, (...) also Zeit, immer in der Leistung stehen, dass man es schaffen muss." Herr Volkert erlebt seit Jahren einen steigenden Anforderungs- und Termindruck. Der Durchgriff vom Management auf die Ebene der Facharbeit erfolgt immer direkter, und die Termine für die Produktion werden stetig enger: "Wir haben jetzt grade wieder gehört, dass die Chinesen Schwerlastgeräte von uns haben wollen. Also wenn der Termin so kurz wie möglich gemacht wurde, also ein Jahr und länger nicht, dann geht es noch lange nicht los. Wenn dann alles mal da ist, dann geht es los, und dann muss man da hetzen, damit der Termin gehalten wird, weil sonst dann Vertragsstrafe bezahlt wird und so was."
Der Erfahrungsschatz seines langen Arbeitslebens reicht zunehmend weniger aus, um die komplexeren und kürzeren Arbeitssequenzen erfolgreich zu bewältigen, und so schleicht sich in seinen Facharbeiterstolz ein Gefühl der Überforderung: "Und das ist so das Schwierigste an der Sache, wenn man die Anforderungen nicht schafft, zeitmäßig, dann wird man getrieben, getrieben und dann macht man gleich was verkehrt, weil man getrieben wird und das ist das Nicht-Schöne im Arbeitsprozess. Man muss mit Ruhe arbeiten können."
Ein ehrenvoller Abgang in den Vorruhestand scheint die beste Lösung für dieses Anforderungsdilemma zu sein: "Na ja, aber das ist ganz normal, wenn man 45 Jahre hier so was gemacht hat, dann kann es nicht mehr gut gehen. Da wird es Zeit, dass man langsam zur Rente kommt. In zwei Jahren, da denke ich mir, dass ich dann ausscheiden kann in Altersteilzeit. Ich will dann raus."
Angesichts des Pflichtgefühls und des Arbeiterstolzes überrascht es, dass Herr Volkert seinem Abschied von 45 Jahren Arbeitsleben scheinbar ohne Bedauern und Trauer entgegensieht. Aber er erlebt, dass seine Zeit im Werk abgelaufen ist. Zwar produziert Lingner wie eh und je Schwerlastgeräte, aber der Arbeitsalltag hat kaum noch etwas mit dem Werk zu tun, in dem er sein Arbeitsleben als Lehrling begonnen hat.
Mit den Eigentumsverhältnissen hat sich auch das Betriebsklima gewandelt, insbesondere die Beziehungen zwischen den Arbeitern und der Geschäftsführung. Gerade das Verhalten des Geschäftsführers schneidet im Vergleich zum Werksleiter aus DDR-Zeiten deutlich schlechter ab: "Die [DDR-Direktoren] standen einem vielleicht ein bisschen näher. Die waren vielleicht nicht ganz so arrogant, wie sie heute sind. Der, den wir jetzt haben, das ist ein ganz ein Arroganter. Der grüßt nicht mal, wenn er durch die Halle geht. Das ist ein komischer Mensch. Da ist eher sein zweiter Vorstand noch patent, der grüßt wenigstens in der Werkstatt jeden. Früher, zu DDR-Zeiten, da haben wir auch den Chef nicht geduzt, aber es war kumpelhafter. Der Werksleiter hat mitgespielt in der Betriebsmannschaft. Und da waren wir sogar per Du. Und das war eben doch der Werksleiter. Der war echt prima. Der war eine Kapazität. Der war Mathematiker, ein großer Fuchs war das. Der hat sich aber so in der Masse, so unter den Arbeitern, trotzdem noch wohl gefühlt. Der hat nicht den Chef raushängen lassen. Es war, wie es eigentlich sein sollte, will ich mal sagen - eher gut. Aber heute! Das sind heute andere Zeiten. Ein Chef, dem die ganze Firma gehört und der Millionär ist, der lässt sich mit uns nicht ein. Das macht der nicht. Auch wenn wir mal zusammen Fußball gespielt haben. Es gab nämlich auch eine Betriebsmannschaft Fußball. Da waren wir mit dem Fußball spielen in D., irgend so ein Turnier, aber da kam er schon mit dem Privatauto. Wir sind alle mit dem Bus gefahren. Und der kam natürlich hinterher mit dem Audi gefahren und hat dann mitgespielt. Da hab ich dann auch Du zu dem gesagt beim Spiel, na wie's so ist beim Sport. Aber der kennt einen nicht mehr."
Es ist aber nicht nur das Führungsverhalten und die Distanz zu den Beschäftigten, die Herr Volkert am jetzigen Eigentümer beobachtet. Besonders kritisch sieht er dessen Betriebspolitik: "Seine Politik, die ist eigentlich, die ganze Produktion auszulagern. Nur das Glashaus, nur konstruieren und die Konstruktion verkaufen. Das alles woanders bauen lassen. Und dann wird nur noch unser Logo draufgeklebt. Das ist seine Philosophie. Das haben wir schon von Anfang an mitgekriegt. Der hat nicht so viel Interesse am Werk. Der will viel mehr Profit machen. Aber das geht nicht so einfach. Das hat er gemerkt, als er Aufträge ins Ausland gegeben hat. Aber das wäre hier sein Traum: Nur noch Bürogebäude, alles schön sauber und das alles wird vermietet. Da machen wir eine Kaufhalle rein, hinten einen Autohändler, so ungefähr. Das sind seine Gedanken. Er hat kein bisschen soziales Verständnis für die Leute hier. Dass er die Leute alle in Arbeit hat, dass es denen gut geht, dass die auch leben können. Das ist nicht seine Welt. Das ist jetzt ein ganz anderer Typ von Unternehmer. Mit Künstlern tut er sich verstehen. Die tut er auch sponsern, die Künstler. Da hat er eine ganze Halle hier zur Verfügung gestellt. Die Künstler lässt er hier umsonst wohnen. Da drüben wohnen auch Künstler oben in der Etage. So eine Dunkelhäutige, die bastelt auch irgendwas. Die ist schon zehn Jahre dort. Ich weiß nicht, was die macht, ob die Bilder aushängt oder was. Und Fotografen hat er auch schon gehabt. Hier am Kunstzentrum im Ort engagiert er sich so ein bisschen. Das ist das ehemalige Kino, da sind auch die Künstler dabei. Aber dafür gibt er Geld aus. Nur für das Soziale, für die Leute nicht. Mit den Künstlern, da kann er gut harmonieren. Da schleichen bestimmt 30, 20 Stück herum, die hier im Betrieb leben. Die leben hier. Die wohnen hier in der Halle, oben haben die ausgebaut so irgendwas."
Lediglich mit den jährlichen Betriebsfeiern wird ein wenig an DDR-Zeiten angeknüpft: "Das gibt's, ja. Jedes Jahr gibt's eigentlich ein Sommerfest. Da gehen wir immer Bowlen hier mit dem ganzen Betrieb und da gibt es schön zu Essen und so. Das muss man ihm zugestehen - fairer Weise." Die Distanz des "Millionärs" zu den einfachen Arbeitern ist für Herrn Volkert noch irgendwie nachvollziehbar. Aber dessen spezifisches Engagement im Kunstbereich kann er nur als unerhörte Missachtung gegenüber dem Werk, dem Produkt und den Arbeitern deuten. Hatte sich der "alte Chef", der das Unternehmen ursprünglich gekauft hatte, als klar gewinnorientierter, aber doch patriarchalischer Unternehmer erwiesen, verweigert sich "der Sohn" traditionellen Fürsorgeerwartungen. Dieser "ganz andere Typ Unternehmer" verkörpert für Herrn Volkert einen Verfall der Traditionen und der Kultur der Metallindustriebranche.
Mit Rückblick auf sein Arbeitsleben bereut Herr Volkert nicht, dass er nach der Schule ohne großes Nachdenken den Beruf des Stahlbauschlossers ergriffen hat. Für ihn und die damalige Zeit war das die richtige Entscheidung: "(...) und ich will mal sagen, ich hab's auch nicht bereut. Ich bin gut durch's Leben gekommen - bis jetzt." Müsste er sich jedoch unter den heutigen Bedingungen neu entscheiden, würde seine Wahl anders aussehen: "Na gut, nach den heutigen Erkenntnissen würde ich sagen, nein, da lieber was im Büro machen. Da muss ich mich nicht so schinden."
In den letzten Berufsjahren erlebt Herr Volkert mehr denn je den Statusverlust der Arbeiter. Noch braucht das Management den Stahlbau, weil osteuropäische Zulieferer bislang nicht die nötige Qualität erbrachten. Das Damoklesschwert des Outsourcing schwebt weiter über dem Stahlbau und ebenso bleibt die Geringschätzung seitens des Unternehmers: "Eigentlich sind wir das fünfte Rad am Wagen, der Stahlbau, obwohl wir gut arbeiten und das immer ordentlich machen." Der Eigentümer verkörpert für den Stahlbauer Volkert die Missachtung traditionellen Produzentenstolzes und die Abkehr von einer langen Metall- und Techniktradition im Lingner Werk. Die Investitionen in Glas, Beton und Kunst lassen den vernachlässigten Stahlbau dabei noch schmutziger, unbedeutender aussehen.
Mit Herrn Volkert endet die stolze Facharbeitertradition in der Familie, denn geringes Ansehen des Stahlbauerberufs trotz nach wie vor körperlich schwerer Arbeitsbedingungen sind keine Basis für die berufliche Zukunft der Söhne: "Nein. Da haben wir abgeraten. Das ist mein Tipp gewesen oder sagen wir mal, der Tipp meiner Frau. Die hat gesagt, nicht ins Gewerbliche. Die werden immer arrogant behandelt, immer. Im Moment werden sie gesucht hier, aber behandelt werden sie immer wie die Letzten. Das ist eben so, der Kapitalismus, der ist so. Da ist der Gewerbliche der Letzte in der Reihe. Da gibt's nicht mehr viel, was noch dahinter kommt. Und so wird das auch gehandhabt - alles."
Frau Polz
Ich treffe mich mit der 46-jährigen Frau Polz in einem Café in ihrem Wohnort, der 20 Kilometer von ihrer Arbeitsstätte entfernt am Rande einer österreichischen Landeshauptstadt liegt.
Frau Polz hat eine Lehre als Handelskauffrau abgeschlossen. Sie begann 1985 bei M-Mode, einem traditionsreichen österreichischen Versandhaus, in der Retourenstelle zu arbeiten. Seit 23 Jahren arbeitet sie nun im gleichen Lager als "normaler Arbeiter", wie sie sagt. 1994 wurde M-Mode durch ein deutsches Versandhandelsunternehmen aufgekauft, das inzwischen zum größten Versandhandelskonzern der Welt expandierte ("Samson"). Die Lagerzentrale, in der Frau Polz arbeitete, wurde zur zentralen Retourenstelle ausgebaut. Die 20 Mitarbeiter/innen, die bei M-Mode in der Retourenabteilung beschäftigt waren, wurden auf 250 Beschäftigte aufgestockt. Daneben waren in dem Logistikzentrum auch der Versand für Österreich und ein privater Paketzusteller untergebracht, der ebenfalls zum Konzern gehört. Von den 400 Beschäftigten, die mehrheitlich im Schichtdienst arbeiteten, waren etwa 50 Leiharbeiter/innen.
Seit zehn Jahren engagiert sich Frau Polz in der betrieblichen Gewerkschaftsvertretung und ist seit zweieinhalb Jahren Vorsitzende des Arbeiterbetriebsrates. In dieser Funktion erhielt sie Einblick in die Auswirkungen der Veränderungen in der Organisationsstruktur des Betriebes und den stetig wachsenden Druck, mehr leisten zu müssen. Als besonders einschneidend erlebte Frau Polz die Veränderungen in Folge der Einführung der informatischen Erfassung der Waren. Einerseits vereinfachten sich durch die Computereingabe die Arbeitsabläufe, zugleich fand aber eine Intensivierung der Arbeit statt, denn mit dem Rationalisierungsprozess vervielfachten sich gleichzeitig die Stückzahlvorgaben, welche die Mitarbeiter/innen einzuhalten haben, und auch die Kontrolle der Arbeitsgeschwindigkeit nahm zu. Der dadurch entstehende Druck verschärfte sich zusätzlich durch die latente Drohung, bei Nichteinhaltung der Stückzahlen der nächsten Kündigungswelle zum Opfer zu fallen.
Für flexibilisierte Arbeitsverträge, Personalabbau und die Konzentration der Standorte wurde seitens der Konzernleitung der stetige Niedergang des Versandhandels verantwortlich gemacht. Gerade weil es dem Konzern schlecht gehe, verlangt die Leitung von den Beschäftigten mehr Leistung, und setzt das drohende Schicksal der Arbeiter mit dem des Unternehmens gleich. Aber: Für die 400 Beschäftigten bedeutet die drohende Schließung des Versandzentrums den Entzug der Existenzgrundlage, während der Konzern trotz der Krisenrhetorik Gewinnzuwächse verzeichnet.
Seit unserem Gespräch hat die Lage sich noch einmal drastisch gewendet. Das Verteilerzentrum in Österreich wurde 2010 geschlossen. Alle Mitarbeiter/innen des Lagers wurden entlassen.
"Also jetzt zählt nur mehr das Stück, der Mensch nicht mehr"
Frau Polz: Es sind immer wieder starke Kämpfe. Wie ich angefangen habe [war's] eigentlich sehr sozial. Und das hat sich mittlerweile sehr geändert. Also jetzt zählt nur mehr ... das Stück, der Mensch nicht mehr. Also da muss man um jeden einzelnen "Kopf" ... sagen die Höheren, was mich immer so stört, das sind Köpfe, weil ich finde immer, es gehört auch ein Herz zum Menschen und nicht nur der Kopf! Aber da muss man um jeden Einzelnen kämpfen. (...)
Es ist viel stressiger geworden, weil wir jetzt mehr machen müssen in der gleichen Zeit. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll: Es ist sicher einfacher geworden, weil man ja durch den Computer jetzt leichter einen Fehler selber entdeckt. (...) Nur: Dadurch, dass man so eine hohe Stückzahl hat, schaut man nicht mehr so genau, und jetzt ist die Fehlerquote natürlich trotzdem da. Auf der einen Seite ist es natürlich gut, dass die Stückzahl so hoch ist, und auf der anderen Seite sollten halt keine Fehler sein. Weil der nächste Kunde hat auch keine Freude, wenn er eine ganz andere Jeans zum Beispiel kriegt als was er bestellt. Und dadurch ist es auch nicht leichter geworden mit dem Computer. Das Betriebsklima hat sich dadurch auch sehr verändert. Das hat damit zu tun, dass auch einfach eine größere Menge an Personal da ist. Wenn man mit 20 zusammenarbeitet, ist das anders, wie wenn man mit 250 zusammenarbeitet. Man kennt sich nicht mehr wirklich. Früher hat man immer so kleine Feiern gemacht, zu Weihnachten oder so, das gibt's nicht mehr, das kann man nicht mehr, bei so vielen ... und das kostet ja auch viel mehr! Das Familiäre verliert sich. (...) Und viele der Jetzigen kennen das auch gar nicht mehr. Wie gesagt, von vor 20 Jahren, da sind nicht mehr sehr viele, die noch drinnen sind. Ich gehöre zum alten Eisen. Es sind viele nicht mehr dabei, weil der Druck einfach zu groß ist. Der Verdienst nicht so ...
Gilles Reckinger: Und wie geht's Ihnen dabei?
Hmm ... wie soll ich sagen. Ich denke mir auch manchmal: wenn ich nicht so viel verlieren würde ... Und: was machen, mit 46? Weiß nicht, ob ich noch dort wäre. Ich habe mich inzwischen schon ein paar Mal umgeschaut um was anderes, aber ... es ist schwierig. Ich habe im Handel, also im Verkauf eigentlich nur meine Lehrzeit. Ich hab' keine Praxis. Und das ist ein Problem, jetzt fängt man von null an im Endeffekt. Wer will jemanden, der über 20 Jahre weg ist? Unqualifiziert trotz Lehre! (...) Wenn man ausrechnet, was man vorher in Schilling verdient hat und jetzt in Euro, ist es natürlich gestiegen, jedes Jahr um ein paar Prozent. Aber das ist nicht genug. Also wir Arbeiter verdienen ca. 1000 Euro netto. Mit dem Geld - für Vollzeit - ist nicht wirklich zu leben. (...)
Vom Betriebsrat aus machen wir nach wie vor Betriebsausflüge. Und Weihnachtsfeiern werden auch - bis auf letztes Jahr - immer wieder gemacht, von der Firma aus. Aber das ist ziemlich alles. Oder wenn so Jubiläumsfeiern sind, so wie vor zwei Jahren, da war 50 Jahre Samson. Aber ... es kommt drauf an, wie die Stimmung ist: Voriges Jahr zu Weihnachten sind, glaube ich, 100 von den Leuten, die zugesagt haben, gar nicht gekommen. Da war gerade so eine Arbeitszeitumstellung und sehr große Unzufriedenheit. Kündigungen ... und dann ist die Unzufriedenheit groß, und dann hat keiner mehr ein Bedürfnis zum Feiern. Und schon gar nicht mit der Geschäftsführung. Und es ist in Frage gestanden, ob man überhaupt in Österreich weitermacht oder nicht. Also ob's komplett geschlossen wird oder ... Im Moment ist das vom Tisch. Im Moment! Bis zur nächsten Vorstandssitzung. Werden wir sehen.
Die halten Sie die ganze Zeit so in der Schwebe ...
Ja, immer wieder das Gleiche! Und deswegen ist der Druck eben so groß. Und das zieht auch vieles mit sich. Weil man weiß: Wenn wir gewisse Sachen nicht erreichen, dass wir dann weg sind. Dann gibt's nicht einen Arbeitskollegen der unzufrieden ist, sondern 400, die wir sind. Das ist Erpressung, aber Tatsache!
Wie funktioniert das bei Ihnen dann mit den Kündigungen? Frühpensionierung oder stellen die einfach nicht mehr ein, kündigen sie auch oder ...
Alles! Durch die Bank. Ist alles passiert. Alle die eben so vertrags-gearbeitet haben, die haben alle müssen aufhören. Die haben den Vorschlag bekommen von einer Leihfirma, über die Leihfirma bei uns zu arbeiten. Damit ersparen sie sich, wenn es schlechter geht, die Kündigungen. Also die arbeiten im Endeffekt gleich weiter, nur: Sie sind nicht über Samson angestellt. Und natürlich: Die sind nicht so zufrieden. Weil die sagen sich auch: Im Grunde genommen machen sie das Gleiche, aber sie haben gewisse Vorteile nicht. Zum Beispiel zu Weihnachten kriegen wir Gutscheine. Das kriegen die Leiharbeiter nicht. Wir können Minusstunden machen und Überstunden machen, das gibt's bei den Leiharbeitern nicht. Also zumindest bei der Firma nicht. Also die Stunden, die die machen, die kriegen sie bezahlt. Machen sie mehr, dann kriegen sie in dem Monat mehr, machen sie weniger, kriegen sie in dem Monat weniger. Ist keine Arbeit, werden die als Erstes nach Hause geschickt. Und dann: keinen Urlaub.
Und der Betriebsrat greift dann auch nicht für die Leiharbeiter ...
Also ich versuche schon auch denen zu helfen, und sie kommen auch zu mir. Ich habe nur die Schwierigkeit, dass ich keine Ansprechperson hab' für sie! Das ist das Problem. Nur, wenn's um Gesetze geht und so ... die Information, die versuche ich ihnen weiterzugeben. Die Entsolidarisierung, die spürt man bei uns sehr. Und die Stimmung wird natürlich noch verschlechtert. Noch mehr. (...)
Weil Sie gesagt haben, die können das so einrichten, dass jemand freiwillig geht: Gibt es Leute, die kündigen und sagen: "Ich halte das hier nicht mehr aus"?
"... halte den Druck nicht mehr aus." Ja, sehr viele. Viele! Immer wieder. Also das hat's früher nicht so gegeben. Das nimmt zu. Der Stress und der Druck ... Ich glaube, das ist auch, weil's eben so unfamiliär geworden ist. Es wird nicht mehr gelobt. Es wird nicht mehr geschätzt, was man an Leistung bringt. Es wird nicht mehr gesagt. Und das fehlt. Es wird immer nur Druck weitergegeben, aber nie, dass was Positives kommt. Also das Beste, was wir machen können, ist, dass wir das Soll erreichen, und wenn nicht, dann werden's halt geschimpft. Die Psyche leidet darunter. Und dann ... geht man halt. Was machst du? Und das wird immer mehr, dass eben aus psychischen Problemen Krankheiten entstehen und dann die Leute eben gehen, weil sie sagen, das können sie nicht mehr. Burn-out sagt man in den höheren Kreisen, aber das gibt's auch bei den Arbeitern! Dass sie sich der Situation nicht mehr gewachsen fühlen.
Wie geht es Ihnen dann, wenn Sie von der Arbeit kommen, wie fühlen Sie sich da?
Fertig! (...) Ich lasse es auf mich zukommen. Ohne Hoffnungen. Ohne Ängste. Das habe ich gemerkt: Dass das eh nichts bringt. Was kommt, kommt eh. Was soll's? Ob sie zusperren oder ob ich bis zur Pension unten bin ... Der Umsatz ist halt nicht gut. Umso größer wird der Druck. Wenn der Umsatz funktioniert, dann wird sehr vieles in Kauf genommen. Und auch die ganze familiäre ... wie's vorher war. Das hat die jetzige Geschäftsführung nicht mehr. Gut, wir haben früher auch positive Zahlen gehabt. Dann hat's einmal ein Glas Sekt für jeden gegeben. Oder ... so Kleinigkeiten ... das macht keiner mehr. Es wird dann schon immer gesagt: "Nur durch euch haben wir überhaupt das erreicht." Und am nächsten Tag werden dann Zehne wieder entlassen. Das nimmt dann niemand mehr ernst.
Also ich habe jetzt durch meine Betriebsratstätigkeit den Gerhard Samson überhaupt selber kennengelernt. Sehr interessant, so jemanden kennen zu lernen. Und dass er ein ganz ein normaler Mensch ist. Wir haben natürlich über die Firmensituation gesprochen, und er hat mir klipp und klar ins Gesicht gesagt - ich meine, man muss es irgendwie verstehen -: "Wir machen seit zehn Jahren ein negatives Geschäft." Und ich sehe es eh selber: das Geschäft läuft nicht. Wir haben ja so viel probiert, woran's liegen kann: Mit dem Internet haben sie es probiert. Dass man schneller wird im Internet und besser, aber ... es ist der Kundenstock nicht mehr da. Und durch die Sparmaßnahmen was ein jeder persönlich haben muss, so wie's jetzt ist, mit den Ölpreisen, Benzinpreisen und so weiter. (...) Weil, wo spare ich, außer bei der Kleidung, Möbeln, Elektroartikel und so? Und das wird natürlich immer schlechter, je schlechter die Lage für jeden Einzelnen wird. Und weil der Verdienst, den man hat nicht mehr wirklich reicht! Ich finde ... Mittelschicht, das gibt's ja gar nicht mehr!
Ganz ehrlich jetzt: Wenn man mit 1000 Euro alles erhalten muss, da bleibt nix mehr, so wie früher, dass du sagst, jetzt leiste ich mir mit dem Weihnachtsgeld oder mit dem Urlaubsgeld etwas. Mit dem Weihnachtsgeld oder mit dem Urlaubsgeld muss ich schauen, dass ich das Öl kaufen kann! Dass man solche Zahlungen macht, die größer sind. Und da hat man sich früher einmal etwas geleistet. Und das fällt ja jetzt auch alles weg. Es fällt der Mittelstand ... und die Reichen, die kaufen nicht beim Versand! Oder? Die Gegensätze werden größer.
Candy M.
Candy M. ist seit 36 Jahren im privaten Dienstleistungsbereich tätig. Wir treffen sie abends nahe ihrem Arbeitsort.
Die Deregulierung und Kriminalisierung von Sexarbeit (wie durch die Sperrgebietsverordnung
Der Stadtteil, in dem Candy und etwa 450 andere Frauen in der Straßenprostitution arbeiten, ist ein Sperrgebiet. Das ProstG hat auf ihre aktuelle Arbeitssituation deswegen keinerlei Auswirkung. Der Anteil migrierter Sexarbeiterinnen beläuft sich auf etwa 60 Prozent.
In unserem Gespräch mit Candy wird deutlich, dass ein massiver Preisverfall stattgefunden hat. Allerdings versuchen viele Sexarbeiterinnen, an einem Preisniveau von 20 bis 30 Euro festzuhalten: "Also was ich jetzt total scheiße finde, Entschuldigung, dass ich das mal sage, ist, wenn man hört, dass manche ohne Kondom machen. Und dann die Preise runterhauen. So wie 15 oder 20, also das ist total daneben. Früher war es ab 50. Und wir haben auch alle früher immer mit Kondom gemacht. Aber jetzt, kannst du alles vergessen. (...) Und was ich jetzt ein paar Tage gesehen habe, kann nix mehr machen, ich hätte mir sehr gerne gewünscht, dass es mir so geht wie früher. Dass man in normalen Regeln arbeiten tut. Und nicht einer so, einer so und einer so. Zum gleichen Preis aber nur mit Kondom. Manche machen ohne Kondom, manche nur für 15, manche nur für 10 und so. Und da habe ich keinen Bock drauf."
Mit dem Preisverfall sind die Forderungen von Kunden an Candy und ihre Kolleginnen, unsafer zu arbeiten, gestiegen: Verstärkt wird das Ausführen sexueller Dienstleistungen ohne Kondom und gefährlicher Sexualpraktiken gefordert. Candy und ihre Kolleginnen sehen sich mit dem Problem konfrontiert, für niedrige Löhne ihre Gesundheit und oft auch ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Aufgrund der bestehenden Machtasymmetrie zwischen Freiern und Sexarbeiterinnen ist es für Candy und ihre Kolleginnen schwierig, ein für sie akzeptables Preisniveau einzufordern: "Also ganz einfach, ich passe mich an die Preise an. Okay, einer von euch oder zwei kommen jetzt zu mir und ich sage euch: 'So ist der Preis. Ohne Kondom nicht.' Und wenn man erwartet ohne Kondom, dann gibt es Probleme. (...) Wenn viele Mädchen damit anfangen. Dann guck doch mal, ein Beispiel: Das sind jetzt die teuren Mädchen ja, das sind die billigsten Mädchen. Also, als Mann, wo gehst du hin? Zu den Billigsten. Wieso sollen die anderen zu den Frauen gehen, die was mehr nehmen, wenn sie was billiger kriegen. So ist das. Also nur auf die Straße."
"Preise sollen Preise sein"
Der Preisverfall ist in unserem Gespräch mit Candy ein wichtiges Thema, auf das sie immer wieder zu sprechen kommt. Er ist deswegen so problematisch, weil er unmittelbar ihr Selbstwertgefühl beeinträchtigt, denn der Preis ist in diesem Berufsfeld die einzige Quelle sozialer Anerkennung. Mit ihrer Forderung "Preise sollen Preise sein" verweist Candy also nicht nur auf ihre Einkommenssituation, sondern vor allem auch auf diese Anerkennungsdimension des Preises. In der Preisforderung werden somit ihre Anerkennungs- und Respektabilitätsbemühungen deutlich, die sich in ihrem Arbeitsethos "wenn man schon arbeitet, muss man sich selbst respektieren" widerspiegeln. "So wie die das machen, geht nicht. Okay, ich habe öfters mit denen allen geredet. Aber vielleicht geht es da rein und da raus. (...) Kapieren tun die so und so nicht. Und ich habe es aufgegeben." Die Frage, ob es eine Zusammenarbeit unter den Sexarbeiterinnen gibt, verneint Candy: "No, no, und zusammenhalten auch nicht. Ist nicht so wie im Eros-Center oder wie in einer Bar oder wie jetzt angestellt, das ist nicht so. Kannst du alles vergessen."
Insgesamt ist Candy durch die zunehmenden restriktiven staatlichen Regelungen einer stetig wachsenden Konkurrenz und einem verstärkten Preisdruck ausgesetzt, die mit den veränderten Kundenforderungen zu einer Prekarisierung ihrer "selbstständigen" prostitutiven Tätigkeit auf dem Straßenstrich und zu einer fremdbestimmten Flexibilisierung führen. Das wird vor allem vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen in der "Appartement-" und "Bordellprostitution" mit Zuhälter deutlich. Diese Form der Sexarbeit geht zwar häufig mit Ausbeutung, Entmündigung und Abhängigkeit einher, bietet dafür aber verbindliche Regeln, Einbindung und einen minimalen Schutz.
Auch ermöglicht die Figur des Zuhälters ein vertikales Feindbild, was wiederum die Solidarität unter den Sexarbeiterinnen befördern kann: "Also, wo ich da gearbeitet habe, haben die Preise gestimmt. Erst war ich im Crazy-Love und da war auch ein Mädchen, die hat ... Wir sitzen und wundern uns, wo die ganzen Idioten bleiben, und wir rauchen Zigarette. Und dann haben wir irgendwie gemerkt, die Freier gehen alle weiter hoch. Und dann meinten wir am nächsten Tag, was ist denn da oben los, weil die alle da hoch gehen ja. Und dann habe ich gefragt: 'Gibt es da irgendwas umsonst oder habt ihr noch nie ein Zimmer angeguckt?' 'Nee wieso, die machen für 20 Euro. Ihr seid uns zu teuer.' Ja, wo ich das gehört habe, habe ich den Mädchen gesagt: 'Hey, da oben läuft ein anderes Programm.' (...) Und dann sind wir ins Zimmer gegangen und dann meine ich: 'So, hallo, ihr könnt wieder runter gehen. Das Programm ist jetzt hier beendet. Dir wurde doch gesagt, die Preise sind so und so, was nimmst du denn jetzt für Preise?' Da meinte das Mädchen (...): 'Ich arbeite.' Und da meinte ich: 'Und du, du ziehst dich an und ich sage dir das in Ruhe, ich sage das in Ruhe, andere sagen das nicht in Ruhe, hast du doch gerade gehört, du anziehen, Klamotten packen und durch die Tür. Hast du verstanden?' (...) Guck mal, im Eros-Center, wenn da jetzt jemand ein Problem hat, dann tun wir uns alle zusammen und wir regeln das. (...) Und da gab es auch ein Frühstück und Mittagessen oder so, warmes Mittagessen und so. Da war eine Frau, die hat gekocht. Ist ja auch okay, mit 120 Miete ist man schnell fertig."
Ob Candy es besser fand, in der Wirtschaft mit einem Zuhälter zu arbeiten, beurteilt sie differenziert: "Das kommt drauf an. Okay, wenn du einen Zuhälter hast, der was echt cool ist und der was nicht auch, wenn du jetzt nicht so viel verdient hast, was auf die Fresse. So ein Typ war er nicht, weil er selber verstehen kann, wenn Fußball ist oder so, da ist nichts los und dann ist eben nichts los. Okay, ich habe ja immerhin bei ihm in der Wohnung geschlafen und so. Und er hat auch gesagt zu mir: 'Pass auf Nummer eins, wenn nix los ist, keine Panik. Ich schlage dich nicht. Ich bin nicht der Typ, der da jetzt kommt ey und so, das sind für mich billige Typen. Du wohnst jetzt bei mir und wenn du nicht so viel hast, kein Problem. Hauptsache, du hast immer die Mieten und das.' Und wenn du jetzt, sagen wir mal, ja durchschnittlich war dann neunhundert bis zehnhundert. Ja okay, war aber schnell gemacht, doch, muss ich sagen. (...) Wir waren immer ein gutes Paar. Bis sie ihn auf der Strae umgebracht haben."
Candy hat sich entschieden, selbstständig auf der Straße zu arbeiten, weil sie die tägliche Miete für das Zimmer nicht mehr verdienen konnte. Mit ihrem angeblich "ausländischen" Aussehen entsprach sie nicht den Wünschen der Freier und hatte dementsprechend weniger Kunden. "Hier brauchst du keine Mieten zu zahlen. (...) Was nützt das, du bist im Eros-Center und nutzt das auch. So 100 Euro musst du jeden Tag abgeben. Wenn du 100 Euro nicht hast, heute nicht, morgen nicht und so und so nicht. Ja was denn, das ist doch blöd auch. Und dann ist es besser, man trennt sich."
Die aus einer Notwendigkeit gewählte "selbstständige" Tätigkeit als Sexarbeiterin auf dem Straßenstrich bedeutet eine Kommodifizierung von Candys Arbeitskraft, das heißt es kommt zu einer verstärkten Abhängigkeit vom Markt. Die massiven Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen für Sexarbeiterinnen sind ein markantes Zeichen der Transformation dieser Arbeitswelt. Candys Arbeitsraum ist durch eine verschärfte Konkurrenz und eine Ausweitung der Zumutungen gekennzeichnet. Niedrigere Löhne und ein höheres gesundheitliches Risiko sind Ausdruck dieser neuen Prekarität.
Candy hat keine Hoffnung, dass sich ihre Arbeitsbedingungen wieder verbessern. Sie zeigt sich gegenüber den Zumutungen widerständig, indem sie auf ihrem Preis und der Benutzung von Kondomen beharrt. Mit dieser letzten Grenze verteidigt sie ihre Würde und damit ihren Subjektstatus sowie ihre Mindestanforderungen an gute Arbeit. Deutlich werden hier auch ihre Professionalität und ihr Berufsethos: "Und dann hatte mir aber ein Mädchen ja gesagt (...): 'Dann machst du immer mit Kondom, musst du immer aufpassen. Und dann immer die Preise so, wie wir dir das gesagt haben. Sonst, wenn du runtergehst, dann endest du als Leiche.' Habe ich auch immer so weiter gemacht. Ich habe immer gefragt, wie die Preise sind. Haben sie mir alle gesagt. Also wenn ich neu bin, frage ich dich oder sie jetzt, wie sind die Preise. Und das ist, das ist erst mal respektvoll, wenn du arbeitest wie die Mädchen."
Für das Festhalten an ihrem Berufs- und Selbstverständnis zahlt Candy einen hohen Preis: längere Stehzeiten oder Einnahmeausfälle. Aber sie will lieber "stehen bleiben und korrekt arbeiten". "Ich will mich auch nicht so kaputt machen lassen, wie die jetzt. Jetzt ohne Kondome. Ich kann es nicht. Ich würde mich dabei ekeln. Ich würde denken, ey sag mal, bin ich schon ganz kaputt oder was. Ich meine, man muss da schon Respekt haben, wenn man schon arbeitet, muss man sich selbst respektieren. (...) Wenn man schon in diesem Gewerbe macht - Nummer eins: respektiere dich, Nummer zwei: Kondom, und Nummer drei: man lässt sich nie was unterbringen, sonst kann jeder machen, was mit dir will. (...) Es gibt welche Ausnahmen, die sagen: 'Ja guck mal, ich habe nur 30.' (...) Okay, das ist was anderes. Aber für 15 oder für fünf? Nee. Also da sehe ich gar nichts ein. Ich würde auch niemals für jemanden mit fünf Euro ins Zimmer gehen. Die Treppen hoch- und runtergehen, ja, aber nicht im Zimmer und sich alles ausziehen oder für 15 alles ausziehen. Nee, da wirste schon als ne Leiche gestapelt."
Aufgrund fehlender Alternativen geht Candy, wie viele Menschen, trotz verschlechterter Arbeitsbedingungen weiter ihrer gewohnten Arbeit nach. Candy nutzt ihre eingeschränkten Wahlmöglichkeiten und organisiert ein hochkomplexes und schwieriges Leben. Auf die Frage, ob sie einen Wunsch habe, antwortet sie: "Ja, ein Ticket Richtung Jamaika."
Die vier Kurzporträts sind gekürzte und bearbeitete Versionen aus: Franz Schultheis/Berthold Vogel/Michael Gemperle (Hrsg.), Ein halbes Leben. Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch, Konstanz 2010.