Wer in der kleinen Stadt Lüchow im Landkreis Lüchow-Dannenberg – im allgemeinen Sprachgebrauch meist auch "Wendland" genannt – günstig übernachten möchte, kann ein Zimmer in der "Wendenschänke" buchen. Die Pension wird in familiärer Atmosphäre geführt; Gruppen oder Einzelgäste bewirtschaften Küche und Speiseraum selbst. Jeder Zimmerschlüssel hat einen einzigartigen Schlüsselanhänger. Einer davon ist ein gelbes X aus dickem Filz. Es findet seine Entsprechung in meterhohen gelben X-en aus Holz, die an den Mauern der pittoresken Bauernhäuser lehnen oder auf zeithistorischen Baudenkmalen wie den Dömitzer Brücken prangen. Sie sind, kurz gesagt, überall im Landkreis zu sehen.
Seinen Ursprung hat das gelbe X auf einem Plakat der Anti-Atom-Bewegung aus dem Jahr 1984. Ikonografisch führt es mitten ins Herz der Bewegung – und damit, wie der Schlüsselanhänger der Wendenschänke zeigt, auch ins Herz der regionalen Identität des Wendlands. Die Geschichte ist bekannt: Am 22. Februar 1977 verkündete Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) via Fernsehübertragung, ein etwa 15 Kilometer großes Areal bei Gorleben sei als Standort für ein Nukleares Entsorgungszentrum (NEZ) ausgewählt worden. Doch anders, als erwartet, regte sich im Wendland, diesem unscheinbaren Zonenrandgebiet im östlichsten Zipfel der Bundesrepublik, sofort reger Protest. Getragen von einem breit gefächerten Widerstand aus der national und international gut vernetzten Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, Kulturschaffenden, LandwirtInnen sowie ortsansässigem Adel entwickelte sich in und um Gorleben eine der wirksamsten und bedeutendsten Umweltbewegungen der Zeitgeschichte.
Heute, über 40 Jahre später, ist die Suche nach einem Endlager für nukleare Abfallstoffe aktueller denn je, obwohl sich der öffentliche Diskurs vollständig verändert hat: Mit dem Inkrafttreten des Standortauswahlgesetzes von 2013 beziehungsweise 2017 und der im Herbst 2020 durch die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) beschlossenen Absage an Gorleben als Standort geht es inzwischen nicht mehr darum, sozioökologische Überlegungen gegen wirtschaftliche Interessen der Atomindustrie anzubringen, sondern vielmehr um einen möglichst verantwortungsvollen Umgang mit dem "atomaren Erbe" einer endenden Ära in der Energiepolitik. Dieser gesamtgesellschaftliche Aushandlungsprozess beeinflusst auch die Anti-Atom-Bewegung als solche sowie die Art und Weise, wie wir sie demokratiehistorisch wahrnehmen, bewerten und einordnen. Gorleben steht längst nicht mehr nur für medienwirksame Protestaktionen, für Polizei-Großeinsätze, Hüttendörfer und an Schienen gekettete Menschen. Es gewinnt zunehmend Anerkennung als Erinnerungs- und Lernort für politische Partizipation, wird ein Thema für Ausstellungen, Forschungsprojekte und Archive. Es wird immer weiter Teil einer Vergangenheit, die für die Zukunft bewahrt und weitergegeben wird – es wird zum kulturellen Erbe.
Anti-Atom-Bewegung und Identität im Wendland
Die Anti-Atom-Bewegung rund um Gorleben entwickelte eine ganz eigene "Strahlkraft" für die Region. Sie führte zu einer vollständigen Veränderung der Selbst- und Fremdwahrnehmung, zu einem Wandel der bundes- wie landespolitischen Strukturen und zu einem Wandel in der Bevölkerungszusammensetzung: Noch in den 1970er Jahren gehörte der Landkreis Lüchow-Dannenberg zu den am dünnsten besiedelten Landkreisen der Bundesrepublik; politisch stärkste Kraft war die CDU.
Die Auswahl von Gorleben als Standort für ein NEZ sollte dies ändern. Mit dem geplanten Projekt erhoffte sich die Landesregierung wirtschaftlichen Aufschwung für den Landkreis; davon abgesehen deutete das konservative Wahlverhalten auf wenig Widerstand in der Bevölkerung hin. Weitere Gründe für die Standortbenennung, wie die Nähe zur DDR oder die geringe Bevölkerungsdichte, sind heute nach wie vor Gegenstand historiografischer und politscher Debatten. Die Frage, inwieweit der Standortauswahl wissenschaftliche Überlegungen zugrunde lagen und inwieweit Dynamiken zwischen Landes- und Bundesregierung, das Verhältnis zu VertreterInnen der Atomindustrie, das Verhältnis zur DDR-Regierung sowie eine zum Zeitpunkt der Entscheidung unvollständige Informationslage über die favorisierten Salzstöcke den Auswahlprozess beeinflussten, bleibt auch nach zeithistorischen Expertisen und parlamentarischen Untersuchungsausschüssen umstritten.
Zum Zeitpunkt der Standortbenennung hatte sich die anfängliche gesellschaftliche Euphorie gegenüber der Atomenergie im Lauf der 1970er Jahre jedoch weitgehend gelegt; eindrückliche Berichte von den Ausschreitungen rund um die geplanten Atomkraftwerke in Wyhl und Brokdorf hatten breite Teile der Öffentlichkeit für die Problematik sensibilisiert. Auch vor Ort formierte sich überaus schnell entsprechender Widerstand. Vor allem in den ersten Jahren handelte es sich bei dem Protest gegen das NEZ allerdings nicht um ein gesamtregionales Phänomen. Ob man nun für oder gegen Gorleben als Standort war, erzeugte vielmehr einen "Riss (…) durch die Familien, durch Beziehungen, Vereine".
Wie es für soziale Bewegungen kennzeichnend ist, entwickelte der wendländische Protest ein spezifisches kollektives Selbstverständnis, das insbesondere im Rahmen der Besetzung der Probebohrstelle 1004 vom 3. Mai bis zum 4. Juni 1980 – dem Hüttendorf "Freie Republik Wendland" – Konturen gewann. Für die regionale Identität des heutigen Wendlands ist die "Freie Republik" nicht nur deshalb entscheidend, weil hier die generelle Gewaltfreiheit des Widerstands und dementsprechend der zivile Ungehorsam als entscheidendes Mittel etabliert wurden, sondern vor allem, weil die Bewegung hier "wendisch" wurde – und mit ihr der "Landkreis" vermehrt zum "Wendland".
Die Bezeichnung als "Land der Wenden" rekurriert dabei auf die slawische Besiedlung des Gebietes im Mittelalter und war bis 1980 entweder historisierend oder abwertend verwendet worden.
Protest und Widerstand werden kulturelles Erbe
Vor diesem Hintergrund ist es kaum mehr verwunderlich, dass wir in einer Schänke der Wenden ausgerechnet ein gelbes X am Schlüsselbund finden. Letzteres verweist auf den Tag "X", der für die Bewegung am 25. April 1995 kam: An diesem Tag wurde erstmals hochradioaktiver Abfall – der erste Castor – nach Gorleben transportiert.
Vor diesem Tag hatte bereits 1984 das durch die Bürgerinitiative vertriebene Plakat "Tag X" gewarnt, das zur Blockade möglicher Transporte nach Gorleben aufrief. Kurz nach seiner ersten Verteilung war es verboten worden.
Seitdem gehört das gelbe X neben der Wendensonne zu den zwei wichtigsten Symbolen der Bewegung. Aber wie und wann wird aus – teils auch kriminalisiertem – zivilgesellschaftlichem Engagement etwas Bewahrenswertes? Wann wandert der Protest von der Straße ins Museum und wird so kulturelles Erbe? Längst ist Gorleben nicht mehr nur der Kristallisationspunkt atompolitischer Debatten. Vielmehr ist die Geschichte der Bewegung dadurch gekennzeichnet, dass sie "noch keine ist", da die Endlagerfrage für Deutschland nach wie vor ungeklärt ist. Demzufolge ist die Anti-Atom-Bewegung durch ihre Aktualität und ihre Historizität gleichermaßen gekennzeichnet. Ähnlich wie das Tag-X-Plakat durch Beuys’ Beschriftung seiner Alltäglichkeit enthoben wurde, rückt auch die Anti-Atom-Bewegung aus dem Alltag vermehrt in das kollektive Gedächtnis der Region. Sprechendes Zeichen hierfür ist der Verein Gorleben Archiv mit heutigem Sitz in Lüchow, an dem sich die Mechanismen und Logiken vererbender Prozesse beispielhaft nachvollziehen lassen.
Der Verein wurde von TrägerInnen des örtlichen Widerstands 2001 gegründet. Im Sinne des Kulturwissenschaftlers Jan Assmann kann das Gorleben Archiv als ein Speichergedächtnis für all das gelesen werden, was Widerständige in 40 Jahren Anti-Atom-Bewegung zusammengetragen haben.
Dieser Gedanke gewinnt vor allem im Kontext der Gründung des Gorleben Archivs an Gewicht: Zwei Jahre zuvor, also 1999, ging der vielzitierte "Riss" im Wendland zwar kaum noch durch Familien, verlief aber nach wie vor zwischen Atomkraft-BefürworterInnen und -GegnerInnen. Als der Leiter des Museums Wustrow in dem Jahr ein Konzept für ein "Zentrales Gorleben-Archiv" veröffentlichte, zog dies eine monatelange öffentliche Debatte nach sich. Der Grund: Er war zu diesem Zeitpunkt nicht nur Leiter des Museums und Mitherausgeber von dessen Schriftenreihe, sondern auch im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der damaligen Deutschen Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern für Abfallstoffe (DBE) tätig.
Letztlich stieß die Idee, nach einer Ausstellung auch eine zentrale Dokumentationsstätte für die materiellen Artefakte des Gorleben-Konflikts einzurichten, auf deutlichen Widerstand. Die privaten und teils heiklen Unterlagen sollten nicht von einem DBE-Angestellten verwaltet werden. Es ging also nicht um die Archivierung der Bewegung als solche – wie die parallele Gründung des Gorleben Archiv e.V. beweist. Vielmehr ging es um die Frage, wessen kulturelles Erbe der Protest gegen Gorleben ist. Als das Museum Wustrow ab Februar 2002 die Sonderausstellung "Gorleben sammeln" zeigte, wurde diese von TrägerInnen der Bewegung deutlich kritisiert und teilweise auch boykottiert.
Dieser Konflikt zeigt deutlich, wie eng die Aushandlung von kulturellem Erbe mit der Konstruktion kollektiver Selbstverständnisse verknüpft ist und welche Bedeutung Erbe bei der Abgrenzung nach außen zukommt. Der Soziologe Stuart Hall fasste diese Beobachtung bereits 2004 unter der Frage "Whose heritage?" pointiert zusammen.
Ebenso zeigt sich, dass kulturelles Erbe nicht einfach vorhanden ist, sondern vielmehr in einem anhaltenden Inwertsetzungsprozess von Akteuren "gemacht" wird, die im Rahmen dessen immer wieder um Deutungsmacht ringen.
Das Gorleben Archiv firmiert vor diesem Hintergrund und aufgrund seines anhaltenden Engagements als bedeutender Erbe-Akteur im Wendland. Gleichzeitig markiert seine Gründung den Übergang der Anti-Atom-Bewegung von einem rein gegenwartsorientierten zu einem historisierenden Phänomen, das in dieser Form zunehmend breite gesellschaftliche Anerkennung findet. Unlängst, zwischen 2017 und 2018, wurde die Plakatsammlung des Archivs digitalisiert und in die Online-Plattform "Kulturerbe Niedersachsen" aufgenommen. Auch das von Joseph Beuys beschriftete Plakat zum Tag X ist dort einsehbar.
Das Beispiel zeigt auch auf, dass die klare Unterteilung in immaterielles und materielles Erbe, wie wir sie von der UNESCO kennen, oftmals wenig zielführend ist. Im Archiv werden zwar materielle Dinge gesammelt – Plakate, Zeitungen, persönliche Aufzeichnungen, Akten, Fotos. Aber diese Dinge werden eben gesammelt, um die damit assoziierten demokratischen Werte und Kompetenzen weiterzugeben und für die Forschung verfügbar zu machen.
Ähnlich ist auch das Konzept einer Ausstellung zu verstehen, die von März bis Juli 2019 im Historischen Museum Hannover gezeigt wurde: Anlässlich des 40-jährigen Jubiläums des "Gorleben-Trecks" zeigte das Museum die Sonderausstellung "Treck(er) nach Hannover. Gorleben und die Bewegung zum Atomausstieg". Parallel dazu entwickelte das Gorleben Archiv eine eigene, auf ZeitzeugInnen zentrierte Ausstellung zum Treck, die im Kreishaus Lüchow gezeigt wurde. Auch hier ging es von vornherein nicht darum, lediglich an den Treck als historisches Ereignis zu erinnern. Die Ausstellung sollte vielmehr Teil einer aktuellen Debatte über Möglichkeiten demokratischer Teilhabe und Protestformen werden. Am 17. Juni 2019 luden ExpertInnen und politische EntscheidungsträgerInnen denn auch zu einer Diskussion rund um die aktuelle Endlagersuche in das Historische Museum Hannover. Ziel war, interessierte BürgerInnen über den neuesten Stand des Standortauswahlverfahrens zu informieren. Der große Fehler von damals – die fehlende Beteiligung der Bevölkerung an der Standortauswahl für ein Endlager – sollte nicht wiederholt werden und stattdessen ein Dialog stattfinden.
Aus für Gorleben als Ende oder Neuanfang?
Wie das anhaltende Ringen um "das Erbe Gorleben" verdeutlicht, ist die Absage an den Ort als Endlagerstandort weit davon entfernt, ein Ende zu markieren. Dementsprechend endet auch nicht die Arbeit des Archivs selbst. Jedoch ändert sich nun dessen Bedeutung. Aktuelle Tätigkeiten wie die Mitgestaltung der Ausstellung "Treck(er) nach Hannover" weisen darauf hin, dass das Archiv nicht nur als Speicherort für das kommunikative Gedächtnis der Bewegung fungiert, sondern zunehmend als Ort der historisch-politischen Bildung. Es ist nicht zuletzt ein Ergebnis der jahrzehntelangen politischen Wandlungsprozesse, dass Themen der Bürgerbeteiligung an diskursiver Bedeutung gewonnen haben und ihre historische Aufarbeitung dementsprechend öffentlich-finanziell gefördert wird.
So beauftragte das BASE im Mai 2020 neben weiteren Institutionen das Gorleben Archiv, um das staatliche Handeln zwischen 1974 und 1983 und dessen Bedeutung für das heutige Standortauswahlverfahren am Beispiel des "Bürgerdialogs Kernenergie" zu analysieren. Dies ist auch insofern bemerkenswert, als das BASE Ergebnis des aktualisierten Standortauswahlgesetzes ist, das in Paragraf 4 Absatz 2 das Amt als Träger für die Öffentlichkeitsbeteiligung festlegt. Die Situation ist damit eine grundlegend andere als vor 40 Jahren: Demokratisches Bewusstsein und demokratische Teilhabe sind nicht nur in die regionale Identität des Wendlands eingeflossen, sondern werden auch im größeren Kontext der Endlagersuche verhandelt. Verhandlungssache bleibt sie jedoch, weil die Erbe-Werdung Gorlebens und die damit verbundene Anerkennung als historisch und gesellschaftlich bedeutsames Phänomen nicht gleichzusetzen sind mit einer vollständigen oder konfliktfreien BürgerInnenbeteiligung an der aktuellen Endlagersuche. Insbesondere der Grad der tatsächlichen Beteiligung und die Möglichkeiten, die Suche nachhaltig mitzugestalten, werden nach wie vor stark kritisiert.
Dementsprechend endet auch nicht das politische Engagement der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, die sich zum Ziel gesetzt hat, insbesondere die aktuellen Teilgebietskonferenzen kritisch zu begleiten und so mitzugestalten, dass breite zivilgesellschaftliche Beteiligung am Auswahlprozess möglich wird.
Dennoch lässt sich der skizzierte Deutungswandel auch darauf zurückführen, dass es nun darum geht, ein Ende, einen Ausstieg aus der Atomkraftnutzung zu gestalten. Wirtschaftliche Interessen stehen weit weniger im Vordergrund, als es 1977 bei der Standortbenennung Gorlebens noch der Fall war. So markiert das Gorleben-Aus einen generellen Wandel im Atomkraft-Diskurs, der auch durch die zunehmende Erbe-Werdung des Atomkonflikts markiert wird: Jüngst äußerte die ukrainische Regierung die Idee, das Gebiet rund um Tschernobyl zum UNESCO-Welterbe zu ernennen – was auch noch einmal das Prestige und die kulturökonomische Bedeutung offiziellen Kulturerbes verdeutlicht.
Die Endlagerthematik als vererbenden Prozess zu beleuchten, zeigt letztlich: "Gorleben" ist nicht nur eine Protestgeschichte, deren demokratische Werte von den Akteuren selbst als Teil ihres kollektiven Selbstverständnisses weitergegeben werden. "Gorleben" ist nach wie vor aktuell, denn der Prozess der Endlagersuche dauert noch an – nach wie vor mit potenziellen Standorten in der niedersächsischen Umgebung.