Auf einer Veranstaltung in der Evangelischen Akademie Loccum hielt Anfang März 1980 der Historiker Joachim Radkau einen Vortrag über die "eigentliche und die uneigentliche Kontroverse über Kernkraft". Bei der Debatte um die Kernenergie gehe es nicht nur um die "eigentlichen" Probleme der Kerntechnik, betonte er, sondern es würden anhand der Atomkraft in Wirklichkeit eine Vielzahl anderer, grundsätzlicherer, also "uneigentlicher" Themen verhandelt.
Aber stimmt das eigentlich? War Atomkraft wirklich von Anfang an umstritten? Wer waren die Befürworter, woher kamen die Kritiker, und welche Argumente führten sie ins Feld? Welche Konfliktlinien taten sich auf? Ab wann wurde die Frage der Entsorgung der abgebrannten Kernbrennstoffe wichtig, die uns noch heute umtreibt? Welche Rolle spielten die Anti-Atomkraft-Proteste? Und schließlich: Was können wir daraus lernen für mögliche zukünftige Bürgerproteste dort, wo der deutsche Atommüll auf ewig ruhen soll? Diese Fragen werden in diesem Beitrag ausgeleuchtet, in Form einer kurzen Geschichte der deutschen Atomkraft-Kontroverse, die ohne den internationalen Kontext aber nicht angemessen zu verstehen ist.
Zwischen Atomeuphorie und Atomkritik
In den 1930er und 1940er Jahren waren deutsche und österreichische Forscherinnen und Forscher führend bei der Entdeckung der Kernspaltung gewesen. Die Entwicklung von funktionierenden Reaktoren – und damit auch der Weg zur Bombe – war der deutschen Forschung unter den Kriegsbedingungen nicht gelungen. Dagegen hatten die USA mit riesigem technisch-industriellen Aufwand Atomwaffen entwickelt und sie im August 1945 in Hiroshima und Nagasaki auch eingesetzt.
Es ist Teil der pronuklearen Meistererzählung, dass die Assoziation mit der Bombe eine sachgemäße Diskussion um die Atomkraft verhindert und das Image der Kernkraft von Anfang an ruiniert habe. So hatte die von US-Präsident Dwight D. Eisenhower am 8. Dezember 1953 mit einer programmatischen Rede vor den Vereinten Nationen in New York eingeleitete "Atoms for Peace"-Kampagne das Ziel, die kriegerischen Assoziationen hinter sich zu lassen. Eine Wanderausstellung über die vielfältigen Vorteile der neuen Technik wurde um die Welt geschickt. Während ihrer Station im Deutschen Museum in München zog sie in nur drei Wochen mehr als 61.000 Menschen an.
In der politischen Debatte seit den späten 1950er Jahren wurde dagegen die "friedliche" Atomtechnik mit großen Zukunftshoffnungen verbunden. Die SPD beschwor 1959 in der Einleitung ihres Godesberger Programms die technikeuphorisch-prometheische Hoffnung, "daß der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann, wenn er seine täglich wachsende Macht über die Naturkräfte nur für friedliche Zwecke einsetzt".
Obwohl Atomtechnik von ihren Befürwortern als Inbegriff des Fortschritts präsentiert wurde, reagierten die Anwohner in der Nähe solcher Anlagen mit Eingaben und Protesten auf Bürgerversammlungen. An diesen beteiligten sich, wie auch an späteren Protesten von Wyhl bis Gorleben, für die damalige Zeit ungewöhnlich viele Frauen, die oft ihren Sorgen als Mütter Ausdruck gaben. Insbesondere durch die internationale Debatte um den "Fallout" von Atomtests, der sich besonders auf Kinder auswirkte, waren sie auf Atomrisiken aufmerksam geworden. Die Kritikerinnen waren gut informiert und verwiesen in Eingaben auf Atomunfälle in Großbritannien und den USA. Infolge dieser Proteste wurde das ursprünglich für Köln geplante Forschungszentrum schließlich im weniger dicht besiedelten Jülich eingerichtet. In Karlsruhe verlegte man das Forschungszentrum in den Hardtwald einige Kilometer außerhalb des Stadtzentrums.
Auch im Westen war die Errichtung der frühen Forschungs-Atomkraftwerke, zum Beispiel des ersten bundesdeutschen Kraftwerks im bayerischen Kahl am Main, das 1961 ans Netz ging, nicht von Protesten begleitet. Naturschutzverbände kritisierten meist nur die Beeinträchtigung von Landschaft, Naturräumen oder Wasserhaushalt. Der Bund Naturschutz Bayern begrüßte die Atomkraft ausdrücklich, weil man hoffte, dass damit der Ausbau der Wasserkraft mit ihren für den Naturschutz problematischen Folgen überflüssig würde. Lediglich der 1958 in Österreich von dem Schriftsteller Günther Schwab gegründete rechtskonservativ-völkische "Weltbund zum Schutze des Lebens" warnte vor genetischen Schäden durch Radioaktivität und sorgte sich vor allem um die "Erbgesundheit" des "deutschen Volkes". Die Lebensschützer waren bereits in den 1960er Jahren stets mit Flugblättern, Informationsschriften und Eingaben dort zur Stelle, wo Atomanlagen geplant waren.
Dass die Atomkraft eine große gesellschaftliche Kontroverse und Massenproteste auslösen würde, war Anfang der 1970er Jahre kaum absehbar. Alle der damals im Bundestag vertretenen Parteien befürworteten den massiven Ausbau der Kernenergie: Kernkraft erschien im Vergleich zur Verbrennung von Kohle und Öl modern, kostengünstig, emissionsarm und ressourcenschonend sowie unabdingbar, um den rasch steigenden Energiehunger zu stillen. Da man annahm, dass Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch in einem festen Zusammenhang standen, erschien eine stetig steigende Energieversorgung notwendig für Wachstum und Beschäftigung. Nach der Ölkrise kamen noch Versorgungssicherheit und Unabhängigkeit von Ölimporten als Argumente hinzu. Trotz Uranimporten präsentierte sich die Atomwirtschaft als heimische Energiequelle, die sicherstellte, "dass die Lichter nicht ausgehen", wie viele Befürworter warnten. Diese Argumente vertraten nicht nur die Politik, sondern einhellig auch Energieversorger und große Industrieunternehmen, von denen viele sich in der Atomtechnik engagierten. In die Öffentlichkeit trug diese Botschaft seit den 1960er Jahren das großzügig vom Bundesforschungsministerium geförderte Deutsche Atomforum. Bis in die frühen 1970er Jahre berichteten auch die Medien über Atomkraft bis auf sehr wenige Ausnahmen positiv.
Mehrere Faktoren beförderten dann aber einen kritischeren Blick auf Atomkraft. Erstens wurden ab den 1970er Jahren immer mehr und immer größere Leistungskraftwerke gebaut, sodass die bisherige "Vision Atomkraft" vor Ort Gestalt annahm und zunehmend Menschen von Standortentscheidungen "betroffen" waren, wie man es schon zeitgenössisch oft ausdrückte.
Zweitens veränderte sich mit der beginnenden Umweltdebatte und der Einführung einer Umweltpolitik ab 1971 die Sicht auf das Verhältnis von Technik, Mensch und Natur. Die Schattenseiten der im Godesberger Programm noch positiv hervorgehobenen menschlichen Naturbeherrschung, die Folgen von Wirtschaftswachstum und gestiegenem Massenkonsum – Luft- und Wasserverschmutzung, Müll und Lärm – wurden zunehmend problematisiert. Die Studie "Grenzen des Wachstums" des Club of Rome von 1972 warnte vor der Endlichkeit der Naturressourcen und stellte die kritiklose Wachstumsorientierung infrage.
Drittens entwickelte sich eine neue Form gesellschaftlicher Beteiligung. Bürgerinitiativen forderten staatliches Handeln ein, kritisierten und ergänzten es. Sie setzten sich nicht nur für selbstverwaltete Kindergärten und Spielplätze ein, sondern wandten sich gegen eine in ihren Augen rücksichtslose Modernisierung, wie Stadtsanierungen mit der Abrissbirne oder umweltschädliche Infrastrukturen. Zur veritablen "Studentenrevolte des deutschen Aktivbürgers", die das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" im November 1972 beschrieb, gehörten auch die binnen weniger Wochen gesammelten 50.000 Unterschriften der "Rheintal-Aktion" gegen ein in Breisach bei Freiburg geplantes Atomkraftwerk.
Konfliktlinien und Kritikpunkte
"Wenn der Rhein dampft", überschrieb im April 1970 die Wochenzeitung "Die Zeit" einen dystopischen Bericht, der sich als einer der ersten kritisch mit den Folgen des massiven Ausbaus der Kernenergie auseinandersetzte. Da nicht nur die Bundesrepublik, sondern auch die Schweiz und Frankreich zur Kühlung ihrer insgesamt 16 entlang des Oberrheins geplanten Atomkraftwerke auf dessen Wasser zugreifen wollten, würde sich die Temperatur im Fluss in der Folge so stark erhöhen, dass dies die letzten Fische in der "Deutsche[n] Kloake" töten würde.
Für diese gab es immerhin mit Kühltürmen eine, wenn auch teure, technische Lösung. Die Sorge um die Folgen des Dampfs aus den Kühltürmen für das Mikroklima und den Weinbau am Kaiserstuhl, den die Experten der Landesregierung auf einer Planungsanhörung leichthin beiseite wischten, war ein zentraler Grund für den ersten lokalen Widerstand gegen das geplante Atomkraftwerk Wyhl. Dorthin, wenige Kilometer rheinabwärts, war der Energieversorger Badenwerk nach dem Widerstand gegen die Pläne für Breisach 1973 ausgewichen.
Die Bauplatzbesetzung in Wyhl von Februar bis Oktober 1975 gilt als Beginn der bundesdeutschen Anti-Atomkraft-Bewegung. Die Besetzung erfuhr ein massives Medienecho und wurde zum Vorbild für weitere Besetzungen und Besetzungsversuche in Deutschland und der Schweiz, sogar in den USA. Der Protest in Wyhl war eingebettet in die transnationale Kooperation der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen und nahm Anleihen aus französischen Protest-Traditionen, insbesondere der Platzbesetzung. Die Aktivitäten auf dem Bauplatz, unter anderem die "Volkshochschule Wyhler Wald", lieferten Gästen aus nah und fern Anschauungs- und Lernmaterial über Protest und die Probleme der Kerntechnik.
Allerdings bezogen sich viele der Konfliktlinien und Kritikpunkte auf das, was Radkau eher als "uneigentliche" Fragen deutet. Landwirte, Winzer, Männer und Frauen aus benachbarten Gemeinden sorgten sich vor allem um ihre Ernte und ihren Lebensunterhalt und lehnten die geplante massive Industrialisierung des Oberrheins ab. Sie suchten schlicht, die Natur und traditionelle Landnutzung vor Ort zu bewahren. Von der studentischen Linken, die sich rasch am Protest beteiligte, kam die Kritik am Wachstumsfetischismus und der Großindustrie sowie am sogenannten Atomfilz, also der Verquickung staatlicher und wirtschaftlicher Interessen – führende Landespolitiker, die über die Genehmigung von Kraftwerken entschieden, waren gleichzeitig Aufsichtsräte der landeseigenen Stromversorger.
Wichtig für die Mobilisierung am Oberrhein, aber auch später in Gorleben und Wackersdorf, waren zwei sich stark überlappende gesellschaftliche Konfliktlinien, nämlich die Gegensätze Stadt-Land und Zentrum-Peripherie. Ersteren Gegensatz inszenierten die Protestierenden ganz bewusst im Protest mit Traktoren und der Forderung, nicht die negativen Folgen für den überwiegend städtischen Nutzen tragen zu müssen. Zweiteren mobilisierten die Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen mit der Imagination des grenzüberschreitenden "Dreyecklands", dessen alemannische regionale Identität sowohl gegen die Landesregierung im schwäbischen Stuttgart als auch gegen die Pariser Zentralregierung gerichtet war. Diese Art kritischer Regionalismus lag in den 1970er Jahren im Trend. Auch die frühneuzeitliche Geschichte der Bauernkriege beschworen die Protestierenden als Nachweis der langen Traditionen des ländlichen Widerstands.
Nach der Ölkrise hatte die sozial-liberale Bundesregierung den Ausbau der Kernkraft verstärkt und betrachtete den Protest als Gefahr für diese alternativlos erscheinende Energiepolitik. Entsprechend dem unter Atomkraft-Befürwortern seit den 1950er Jahren gehegten Stereotyp, dass Kritik an der Atomkraft emotional und "psychologisch" und daher irrational sei,
Brennstoffzyklus-Visionen und Endlagerkonflikte
Neben den einzelnen Standorten von Kraftwerken nahm die Kritik an der Atomkraft ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verstärkt deren "eigentliche" Probleme in den Blick. Politisch relevant wurde vor allem die Frage der nuklearen Entsorgung. Mit dem vierten Atomprogramm hatte die Bundesregierung ein sogenanntes Entsorgungsjunktim eingeführt. Die Gerichte, die über Klagen gegen Kernkraftwerke zu entscheiden hatten, verbanden die Genehmigungsfähigkeit mit dem Nachweis sicherer Entsorgung, wie beispielsweise 1977 im Urteil zu Brokdorf des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg.
Unter "Entsorgung" verstand das Atomprogramm nicht nur Endlagerung, sondern auch die Wiederaufarbeitung. Um die damals knappen Uranvorräte zu schonen, wollte man den sogenannten Brennstoffzyklus schließen und abgebrannte Kernbrennstäbe wieder aufarbeiten. Der so gewonnene Brennstoff, also vor allem Plutonium, sollte in Brutreaktoren – wie dem heftig umstrittenen und nie eröffneten "Schnellen Brüter" in Kalkar – zum Einsatz kommen. Brüter sollten sogar mehr Kernbrennstoff erzeugen, als sie verbrauchten. In der Praxis ermöglichte der Brennstoffzyklus kein vollständiges Recycling. Im Gegenteil: Die komplexen chemischen Prozesse und die intensive Strahlung in den Wiederaufarbeitungsanlagen erzeugten weitere Abfälle. In den existierenden küstennahen französischen und britischen Anlagen, die ursprünglich zur Separierung von Plutonium für den Bombenbau entwickelt worden waren, wurden diese seit Jahrzehnten großzügig ins Meer geleitet. Auch Atommüll in fester Form versenkten viele Staaten auf See.
In der Bundesrepublik hatte man seit den 1960er Jahren einen anderen Lösungsweg entwickelt, nämlich die unterirdische Lagerung. 1971 verkündete das erste Umweltprogramm der Bundesregierung unter der Überschrift "Endlagerung radioaktiver Abfälle", "mit dem Salzbergwerk Asse bei Wolfenbüttel [sei] ein Endlager geschaffen, das nach vollem Ausbau die bis zum Jahr 2000 anfallenden etwa 250.000 Kubikmeter radioaktiver Rückstände sicher aufnehmen kann".
1974 einigte sich die Bundesregierung mit den relevanten Industrieunternehmen auf eine große Lösung für die Entsorgungsfrage. Eine "integrierte Entsorgungsanlage" sollte die Brennelemente von jährlich 45 bis 50 großen Kernkraftwerken wiederaufarbeiten und entsorgen können. Diese Anlage sollte oberhalb des geplanten Endlagers entstehen, um Transportrisiken zu vermeiden. Verschiedene Salzstöcke in Niedersachsen wurden geprüft. Da sich an allen anderen Standorten sofort heftige Kritik von Lokalpolitikern der in Niedersachsen regierenden CDU regte, entschied sich der damalige Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) für Gorleben im Landkreis Lüchow-Dannenberg im damaligen Zonenrandgebiet. Aufgrund der niedrigen Bevölkerungsdichte und weil die Anlage neue Arbeitsplätze für die strukturschwache Region versprach, erwartete man wenig Widerstand.
Trotz allem bildete sich im Landkreis Lüchow-Dannenberg eine lokal stark verankerte, aber auch regional, national und transnational intensiv vernetze Bürgerinitiative und Anti-Atomkraft-Bewegung heraus, die bis heute präsent ist und den Grünen für ländliche Räume außergewöhnlich hohe Wahlergebnisse beschert. Einige der Elemente, die bereits in Wyhl Erfolgsbedingungen waren, lassen sich auch hier aufzeigen, insbesondere die lokale Verankerung, also die Beteiligung lokaler Eliten, wie dem Großgrundbesitzer Graf Bernstorff, und der evangelischen Kirche vor Ort sowie vieler Einheimischer, vor allem Frauen. Landwirte beteiligten sich, weil sie negative Folgen für ihre Produkte und den Wochenendtourismus befürchteten. In den 1970er Jahren hatten sich wegen der ländlichen Abgeschiedenheit und Natur zahlreiche Hamburger und West-Berliner im Landkreis einen Zweitwohnsitz gesucht. Diese lehnten die nukleare Industrialisierung ihres Feriendomizils ab und bildeten eine Brücke zu städtischen Gruppen und Diskursen. Ähnlich wie in Wyhl rekonstruierte – oder konstituierte – der Protest auch alt-neue regionale Identitäten, wie die selbstbewusste Ausrufung der "Freien Republik Wendland" zeigt, die an die bis ins 17. Jahrhundert slawischsprachigen Wenden gemahnt.
Die Aura von Authentizität und Volkstümlichkeit des Protests, die dessen Glaubwürdigkeit in Politik und Medien steigerte, zeigte sich besonders im "Treck der Lüchower Bauern nach Hannover" vom März 1979, bei dem Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder auf Treckern und Fahrrädern sowie Fußgänger ikonisch das Bild bestimmten. Dies sollte bewusst ein Gegenbild zu den mit Gewalt überschatteten Bauplatzerstürmungen wie etwa in Brokdorf oder Grohnde abgeben. Unter dem Motto "Albrecht, wir kommen" marschierten Atomgegner von vielen Orten aus der ganzen Bundesrepublik nach Hannover, wo die Landesregierung gerade eine mehrtägige Expertenanhörung abhielt. Treck und Anhörung erhielten eine neue Dynamik, als die Nachricht von der Havarie im US-amerikanischen Atomkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg eintraf. Ministerpräsident Albrecht zog die Schlussfolgerung, dass das nukleare Entsorgungszentrum mit der Wiederaufarbeitungsanlage politisch nicht durchsetzbar sei, hielt aber am Endlager fest.
Die Proteste in Gorleben gingen über Jahrzehnte weiter. So wurde etwa Anfang der 1980er Jahre die geplante Tiefbohrstelle für die Salzstockerkundung besetzt und das Hüttendorf errichtet, das als "Freie Republik Wendland" bundesweit eine große Öffentlichkeit erreichte. Als in den 1980er Jahren die bayerische Landesregierung den Staffelstab für eine Wiederaufarbeitungsanlage übernahm und plante, eine solche Anlage im nach dem Ende des Kohlebergbaus von Arbeitslosigkeit bedrohten oberpfälzischen Wackersdorf zu bauen, entstanden auch dort rasch lokal verankerte Proteststrukturen, bei denen sich ebenfalls Zentrum-Peripherie-Konflikte gegen die Landesregierung im fernen München mobilisieren ließen. In Wackersdorf gab es wie in Brokdorf oder Grohnde große gewalttätige Auseinandersetzungen am Bauzaun.
In der Folge der Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 verstärkte sich der Protest in der Bundesrepublik, mehr als in den meisten anderen europäischen Staaten, gerade gegen die Entsorgungsstandorte: So führte 1988 eine Protest-Prozession "Kreuzweg für die Schöpfung" von Wackersdorf nach Gorleben. 1989 gaben die privaten Betreiber der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf das Projekt auf und ließen die Wiederaufarbeitung im französischen La Hague durchführen. Während so der Konflikt in der Oberpfalz beendet war, köchelte er in Gorleben weiter, wo mittlerweile ein Zwischenlager entstanden war. Ab den späten 1980er Jahren entwickelte sich mit den Blockaden gegen die Castor-Transporte mit Atommüll nach Gorleben auch bundesweit neuer Protest.
Nach Tschernobyl formierte sich auch in der DDR im Rahmen der Kirchen und der Berliner Umweltbibliothek Kritik an der Nutzung der Atomkraft. Lange Zeit hatte diese als technisch-industrielle sozialistische Errungenschaft und gegenüber der Braunkohleverstromung als sauberere Alternative gegolten. Der Uranabbau durch die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut in Sachsen und Thüringen stand eher im Fokus der Kritik als das kaum bekannte Endlager im Salzstock Morsleben direkt auf der Ostseite der Zonengrenze. Für die DDR war Entsorgung ein kleineres Problem, weil die Sowjetunion die abgebrannten Brennstäbe wieder zurücknahm. Mit Verweis auf ihre sowjetische Bauart wurden die DDR-Kraftwerke 1990 noch vor der Wiedervereinigung abgeschaltet. Das Endlager Morsleben dagegen erlebte in den 1990er Jahren eine zweite Karriere, ehe es endgültig geschlossen wurde.
Die Atomkraft-Kontroverse veränderte ab Anfang der 1980er Jahre das bis dahin die Kernkraft unisono unterstützende westdeutsche Parteiensystem. 1983 übersprang die aus der Anti-Atomkraft-Bewegung entstandene Partei Die Grünen die Fünfprozenthürde und zog in den Bundestag ein. In der Opposition wandte sich die SPD in den 1980er Jahren endgültig von der Atomkraft ab. Als 1998 eine rot-grüne Koalition die Regierungsgeschäfte übernahm, unterstützten beide Parteien den Atomausstieg. Erst 2001 erreichte die Regierung einen Kompromiss mit den Kraftwerksbetreibern: Im Gesetz von 2002 war ein Ende der Atomstromproduktion nach einer "Regellaufzeit" von 32 Jahren pro Kraftwerk vorgesehen.
Doch bereits acht Jahre später beschloss eine christlich-liberale Koalition eine Laufzeitverlängerung für die Kernkraftwerke, die sie als sogenannte Brückentechnologie verteidigte. Dies wirkte wie eine Verjüngungskur auf die Anti-Atomkraft-Bewegung. Die Protestinfrastrukturen und Netzwerke um Gorleben spielten dabei eine wichtige Rolle. Der unerwartet starke Protest gegen die Laufzeitverlängerung trug nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011 auch zur Entscheidung der Bundesregierung bei, diesmal endgültig aus der Kernenergienutzung auszusteigen. 2022 soll das letzte Kernkraftwerk geschlossen werden. Das Problem der Endlagerung der in der Zwischenzeit angefallenen nuklearen Abfälle aber bleibt.
Atomkraft-Kontroverse und Anti-Atomkraft-Bewegung
Die Debatte um die Atomkraft begann nicht als Kontroverse: Bis in die 1960er Jahre lautete das kaum hinterfragte Credo, die Atomkraft habe eine große Zukunft und werde helfen, den Energiehunger sauber, günstig und modern zu stillen. Kritik an der sogenannten friedlichen Atomnutzung gab es nur sehr punktuell und bezog sich auf einzelne Standorte, zum Beispiel von Forschungsanlagen. Nur die Lebensschützer vom Weltbund zum Schutze des Lebens bezogen sich durchweg auf die "eigentlichen" Risiken, vor allem die biologischen Folgen radioaktiver Strahlung. Erst mit dem massiven Ausbau der Atomkraft in den 1970er Jahren und vor dem Hintergrund sich wandelnder gesellschaftlicher Einstellungen und Mobilisierungsformen veränderte sich die weitgehend stille Akzeptanz zur Kontroverse, in der neben den eigentlichen Fragen von Strahlung, Unfallrisiko und Atommüll viele andere "uneigentliche" Fragen diskutiert wurden – "Atomfilz" und "Atomstaat", regionale Identitäten, lokale Verbundenheit, historische Verantwortung und der Schutz traditioneller Agrarlandschaften und Lebensweisen.
Diese Gemengelage bot viele Anknüpfungspunkte und Mobilisierungsressourcen für eine breite Anti-Atomkraft-Bewegung sowie natürlich auch Bruchpunkte, etwa als es in den späten 1970er Jahren um die Gründung einer Grünen Partei ging. Ironischerweise war es aber die Entsorgungsfrage, der Streit um Gorleben und Wackersdorf, also eine nach Radkau "eigentliche" Frage, die die Kontroverse auf Dauer am Köcheln hielt, und damit – anders als in vielen anderen europäischen Ländern – die Anti-Atomkraft-Bewegung über Jahrzehnte aufrecht erhielt. In der Geschichte der sozialen Bewegungen ist dies eine Besonderheit, und es bleibt abzuwarten, wie sie fortwirkt. Für sich selbst hat die Bewegung in Anspruch genommen, Schule einer fundamentalen Demokratisierung jenseits der repräsentativen Demokratie zu sein, die staatliches Handeln stärker hinterfragt und bereit und sogar moralisch verpflichtet ist, sich diesem zu widersetzen.