Einleitung
Wenn in diesem Sommer die Frauenfußball-WM in Deutschland stattfindet, wird auch das Thema der gesellschaftlichen Emanzipation von Frauen im und durch den Sport in den Fokus rücken.
Sport ist und war zu allen Zeiten Abbild und Motor gesellschaftlicher Prozesse sowie Kultur bildender Faktor, wobei er in den verschiedenen Phasen seiner Entwicklung unterschiedliche Ausprägungen erfahren hat, aber immer in wechselseitiger Beziehung zu den komplexen politischen, ökonomischen, sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen steht. Inzwischen scheint er in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein: Nicht zufällig sprach Thomas Bach, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), anlässlich des 20. Jahrestags der Deutschen Wiedervereinigung von der "prägenden Symbolkraft" des Sports, fordert der Präsident des Deutschen Turner-Bundes (DTB) Rainer Brechtken, Bewegung als Bildung zu begreifen, oder wünscht sich Theo Zwanziger, der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), einen "werteorientierten Fußball". Dabei stellt sich in einer sich wandelnden Gesellschaft die Frage, vor welchen Forderungen und Herausforderungen der Sport und seine Akteure jetzt und in Zukunft stehen, um aktiv ihrer Verantwortung in der Gesellschaft gerecht zu werden und im und durch den Sport Zukunftsperspektiven zu schaffen.
Denn umgekehrt ist die Gesellschaft auch mitten im Sport angekommen, schließlich sollen alle relevanten gesellschaftlichen Probleme wenn nicht vom Sport gelöst, so doch mindestens im Sport abgehandelt werden. Die Probleme und Bruchstellen einer Gesellschaft, die unter dem zunehmenden Druck einer globalisierten und medialisierten Welt immer mehr Verwerfungen aufweist, zeigen sich auch - und teilweise vielleicht gerade - im Sport. Ob sich auch deren Lösungen hier zuerst finden lassen, ist eine andere Frage: In erster Linie handeln der Sport und seine Akteure innerhalb der Rahmenbedingungen und Erfordernisse, die der Sport selbst setzt. Darüber hinaus agieren sie aber als mehr oder weniger bewusste gesellschaftliche Akteure unter sich wandelnden Bedingungen.
Beispiel Fußball
Als im Oktober 2010 die Errichtung der "Manuel Neuer Kids Foundation" bekannt gegeben wurde, eine Stiftung, mit der der Schalke- und Nationalmannschafts-Torwart sozial schwache Kinder im Ruhrgebiet unterstützt, war die öffentliche Aufmerksamkeit vergleichsweise gering. Dabei ist das Engagement des jungen Fußballprofis bemerkenswert, bezieht sich der Stiftungszweck doch ausdrücklich auf das örtliche Umfeld des Spielers und noch dazu auf ein Thema, das im öffentlichen Diskurs häufig eine untergeordnete Rolle spielt. Manuel Neuer begründet seine Initiative so: "Ich weiß, dass ich zu den Privilegierten zähle und Glück in meinem Leben habe. Davon möchte ich etwas zurückgeben. Mit meiner Stiftung will ich der sozialen Verantwortung gerecht werden. Und zwar in meiner Stadt. Meine Heimatstadt Gelsenkirchen belegt in einer unrühmlichen Statistik einen Spitzenplatz. Nahezu jedes vierte Kind leidet unter Armut." Warum ist diese Initiative in der Öffentlichkeit so wenig bekannt?
Laut einer Anfang 2011 veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung zu sozialer Gerechtigkeit belegt Deutschland im internationalen Vergleich lediglich einen Rang im unteren Mittelfeld. Die größten Defizite gibt es beim Zugang zu Bildung und Arbeit sowie bei der Vermeidung von Armut, vor allem der Kinderarmut. Jedes neunte Kind in Deutschland wächst in armen Verhältnissen auf. Soziale Gerechtigkeit definiert die Studie als Teilhabegerechtigkeit, wobei dem Staat die Aufgabe des sozialen Ausgleichs als Gewährleistung von Teilhabechancen zukommt.
Leistungsträger wie Manuel Neuer nutzen ihr großes Ansehen und ihr nicht minder großes Einkommen, um wohltätige oder gesellschaftliche Anliegen zu unterstützen. Auch Sportvereine und -verbände werden sich zunehmend ihrer sozialen Verantwortung bewusst und verstärken ihr gesellschaftliches Engagement - allen voran im Fußball. Selbstverständlich spielen auch andere Sportarten eine Rolle, und es wäre berechtigt, sie in den Mittelpunkt zu rücken. Aber Fußball ist nun einmal zu einem Massen- und Medienspektakel geworden, das in Deutschland so viele Menschen anlockt wie keine andere Sportart - sei es als Zuschauer oder Aktive in einer der vielen Ligen oder im Freizeitfußball.
Der DFB, mit 6,7 Millionen Mitgliedern größter Einzelsportverband der Welt, ist nicht nur seit Jahrzehnten karitativ und humanitär aktiv, sondern mischt sich in historisch gereiftem Wissen um seine gesellschaftliche Verantwortung, auf der Grundlage eines zunehmend differenzierten Bildes von der eigenen Geschichte und mit dem ohnehin vorhandenen Gewicht seiner Popularität in den vergangenen Jahren immer wieder in die öffentlichen Debatten um gesellschaftliche, soziale und ethisch-moralische Fragen ein - teilweise auf eigene Initiative, teilweise erst auf anhaltenden politischen oder medialen Druck, aber stets unter wohlwollender oder kritischer Beobachtung einer aufmerksamen Öffentlichkeit. Zu nennen sind die grundlegenden Fragen, denen sich der DFB im Nachgang zu seinem 100-jährigen Jubiläum im Jahre 2000 sowie in Vorbereitung auf die Fußball-WM 2006 in Deutschland stellen musste und stellte: Hierzu zählen die Aufarbeitung der eigenen Geschichte in der sogenannten Havemann-Studie,
Im November 2009 wurde DFB-Präsident Zwanziger hoch gelobt für seine viel beachtete Rede auf der Trauerfeier für den Nationalspieler Robert Enke, der unter Depressionen gelitten hatte, in der er den Umgang mit dieser Krankheit in unserer Leistungsgesellschaft kritisch ansprach. Kurz darauf aber wurde es manchem schon etwas zu viel des Guten, als Zwanziger sich auch noch dem Problem der Diskriminierung von Homosexuellen im Sport zuwandte und sich schließlich in der Affäre um Schiedsrichterobmann Manfred Amerell, der einen jüngeren Schiedsrichter sexuell genötigt haben soll, medial und moralisch zu verzetteln schien. Der Fußball war plötzlich für alles zuständig, er war gleichermaßen übermächtig wie überfordert.
Mit seiner jüngsten, im Rahmen des DFB-Bundestags im Oktober 2010 beschlossenen Initiative versucht der Verband nun als Reaktion auf die vielfältigen gesellschaftspolitischen Herausforderungen, seine sozialen Aktivitäten unter dem Schlagwort "Nachhaltigkeit" zu koordinieren. Interessanterweise wurde der DFB seinerseits 2009 mit dem Sonderpreis des Deutschen Nachhaltigkeitspreises für sein herausragendes Engagement für Integration und Jugendarbeit ausgezeichnet, womit beispielsweise das Projekt "Tausend Bolzplätze" oder das Konzept der mobilen Ausbildungszentren gewürdigt wurden.
Mit dem Projekt "Green Goal" zur WM 2006 ging der Verband auch einen ersten Schritt in Richtung ökologischer Ausrichtung, was öffentlich jedoch kaum wahrgenommen wurde und grundsätzlich die Frage aufwirft, ob sich nachhaltiges, umweltbewusstes Wirtschaften überhaupt mit Großereignissen wie Fußballweltmeisterschaften vereinbaren lässt. In Fortsetzung dieses ambitionierten Umweltprogramms hat auch das Organisationskomitee der Frauenfußball-WM 2011 gemeinsam mit dem Öko-Institut und gefördert durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt ein entsprechendes Konzept entwickelt.
Dem Dachverband der unangefochtenen Sportart Nummer eins in Deutschland geht es insgesamt aber auch darum, die eigenen gemeinnützigen und gesellschaftspolitischen Initiativen besser zu vernetzen. Dass in der DFB-Spitze ein entsprechendes Problembewusstsein vorhanden ist, belegt die Position seines Präsidenten: "Es gibt auch soziale Verwerfungen. Wir haben in unserem Land auf der einen Seite wachsenden Reichtum und auf der anderen Seite zunehmende Armut. Und an sozialer Gerechtigkeit zu arbeiten, das muss unsere gemeinsame Aufgabe sein, damit die Kluft zwischen Arm und Reich nicht zu weit auseinandergeht. Wir müssen die Balance wahren. Auch hier hat der Fußball Verantwortung und steht vor Herausforderungen."
Sport für alle
Seit Sport als eigenständiges Teilsystem unserer Gesellschaft existiert und sich immer weiter entwickelt hat, erfasst er immer breitere Kreise der Bevölkerung. Seit der Aufklärung ist das Betreiben von Leibesübungen nicht länger ausschließlich exklusiver Zeitvertreib gehobener Schichten, sondern steht prinzipiell allen zur Verfügung. Seinem Wesen und der Überzeugung "Turnvater" Jahns nach - der mit seiner ursprünglich patriotisch ausgerichteten Bewegung nicht zuletzt auf das Engagement des Staatsbürgers für das Gemeinwesen abzielte - sollte das Turnen öffentlich sein in dem Sinne, dass es für alle Altersgruppen und sozialen Schichten offen ist (zu seiner Zeit allerdings noch nicht für Frauen). Freilich war und ist die Einbeziehung der Bevölkerung in das gesellschaftliche Teilsystem Sport genauso wenig vollständig wie in andere Teilbereiche.
Der breit angelegte Aktionsplan "Sport für alle", der am 2. Juli 2009 vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde, soll unter anderem die bessere Integration von zugewanderten Menschen in die Sportvereine fördern und vor allem die gesellschaftliche Bedeutung des Sports stärken. Derzeit ist der organisierte Sport mit einer Million Vorstandsmitgliedern sowie 1,1 Millionen Trainern, Übungsleitern und Schiedsrichtern der quantitativ bedeutsamste Träger bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland - allerdings scheinen diese Zahlen aus verschiedenen Gründen rückläufig zu sein. Laut Sportentwicklungsbericht 2007/2008 des Bundesinstituts für Sportwissenschaft und des DOSB sind die gegenwärtigen Hauptprobleme der Sportvereine die Gewinnung und Bindung von ehrenamtlichen Funktionsträgern. Im Vergleich zu 2005 gab es hierbei einen Rückgang um etwa 20 Prozent, während die Arbeitsbelastung der Aktiven um 13 Prozent auf monatlich 17,6 Stunden anstieg. Das Engagement im Verein wird mit einer jährlichen Wertschöpfung von 6,6 Milliarden Euro beziffert.
Aber noch weit darüber hinaus ist der Sport Träger, Förderer und Instrument gesellschaftlichen Engagements, was sich in vielfältigen Aktivitäten nicht nur von Vereinen, sondern auch beispielsweise von Stiftungen zeigt, welche die integrierende, gesundheitsfördernde, pädagogische oder auch kommunikative Kraft des Sports in ihrer Förderarbeit nutzen. Alles das macht den Sport zu einem bedeutenden zivilgesellschaftlichen Akteur und wesentlichen sozialen Faktor, der kaum zu unterschätzende gesellschaftliche Bindungskräfte freisetzt. Aus diesem Grunde muss der Sport verstärkt eine Vorstellung davon entwickeln, wie er seine Stellung festigen und ausbauen sowie den Herausforderungen bei der Bewältigung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben von Staat, Markt und Zivilgesellschaft in Deutschland begegnen will.
Der Sport muss idealerweise seine Rolle im Ensemble der Kooperationspartner einer neuen Bürgerlichkeit definieren, die umfangreiche Unterstützung von staatlicher Seite legitimieren und die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Akteuren unter veränderten Rahmenbedingungen ausgestalten. Dabei muss er sich auch weiter in Richtung anderer, vielleicht noch nicht in Betracht gezogener Handlungsräume, Betätigungsfelder und Mitspieler bewegen, nicht zuletzt in Richtung der privaten Wirtschaft, um auf dem Wege der Corporate Social Responsibility engagierter Unternehmen neue Ressourcen zu erschließen.
In einer Liga mit Wohlfahrtsverbänden und Kirchen als bedeutenden sozialen Trägern spielt der Sport schon lange. Bereits seit 1965 gibt es einen verbindlichen Austausch sowie seit 1975 die gemeinsamen Spitzengespräche "Kirche und Sport", in denen die beiden großen Kirchen auf der einen und der DOSB auf der anderen Seite gesellschaftspolitische Themen und Positionen austauschen. 2007 veröffentlichte die "Gemeinsame Kommission Kirche und Sport" das Ideenheft "Gemeinsam Gesellschaft gestalten". Dass es darin um mehr als nur hehre Anliegen und fromme Wünsche geht, zeigen die beschriebenen Projekte sowie die Erkenntnis: "Kirche und Sport sind in der Gesellschaft tief verwurzelt, sie machen Angebote und verfügen über Räume, in denen sich Menschen unterschiedlicher Nationalität, Religion, Kultur, sozialer Herkunft oder Hautfarbe begegnen können." Unter dem Titel "Zum Wohl der Menschen und der Gesellschaft" folgte 2009 ein gemeinsames Grundsatzpapier.
Sport ist mehr
Mehr als nur ein weiterer Partner ist das Bildungssystem. Immerhin beginnt sich langsam die Erkenntnis durchzusetzen, dass Schule und Sport nicht notwendig in Konkurrenz zueinander zu sehen sind. So veröffentlichte der DOSB im Jahre 2008 das Grundsatzpapier "Chancen der Ganztagsförderung nutzen", das den Vereinen Ängste nehmen und auf die Chancen hinweisen soll, welche die Ganztagsförderung an den Schulen gerade für den organisierten Sport bietet. Doch noch darüber hinaus sollte Sport als elementarer Teil von Bildung, ja als Bildung selbst begriffen werden.
Auch die Vermittlung von sozialen Kompetenzen ist hier an herausragender Stelle zu nennen, erfordern doch die zahlreichen Handlungsoptionen in einer multikulturellen und von mannigfaltigen sozialen Milieus geprägten Bürgergesellschaft zunehmend Fähigkeiten, die - nebenbei oder gezielt - im Rahmen und am Rande sportlicher Aktivitäten eingeübt werden können. Wer in einem Verein aktiv ist, erfährt, erlebt und ermöglicht für sich und andere den Mehrwert des Sports in Hinblick auf Integration, Sozialisation, Demokratie, Gesundheit, Ökonomie und dergleichen mehr. Im Sport werden die soziokulturellen Grundlagen der Gesellschaft, ihre Wertvorstellungen, Umgangsformen und sozialen Netze permanent revitalisiert. Darüber hinaus schafft er eine Vielzahl und Vielfalt an Gelegenheiten zur Mitentscheidung und -gestaltung und trägt somit zur sozialen Integration von benachteiligten Menschen und mittels Symbolen, Ritualen und Inszenierungen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei (erinnert sei etwa an den Fähnchen schwenkenden Party-Patriotismus bei der Fußball-WM 2006). Und der Bedarf an der Bereitstellung dieser Ressourcen wächst angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen.
Vor dem Hintergrund der im Spätsommer 2010 aufbrechenden Debatte fand gerade das Thema Migration und Integration großen medialen Widerhall. Es nützt wenig, marktschreierisch die integrative Kraft des Fußballs zu beschwören und den jungen Nationalspieler Mesut Özil als neuen Messias einer multikulturellen Gesellschaft zu verklären. Genauso wenig hilft es aber, die Bemühungen des DFB pauschal als Luftblase zu diskreditieren oder so zu tun, als dienten sämtliche Maßnahmen allein der Imagepflege. Demgegenüber sind der seit 2007 verliehene Integrationspreis, die Ernennung einer Integrationsbeauftragten und viele unterstützte Programme und Projekte mehr als nur symbolische Akte, auch wenn auf der anderen Seite immer noch genug zu tun bleibt und es auch an Ideen nicht mangelt: Beispielsweise wäre eine Bildungsoffensive denkbar oder verstärktes Engagement in präventiver Arbeit wie die Umsetzung eines Moduls zur interkulturellen Sensibilisierung in der Trainerausbildung.
Das gesellschaftliche Engagement des Sports und seiner Akteure, seiner Vereine und Verbände ist ohne Alternative, der angestoßene Prozess unumkehrbar und die zunehmende Übernahme von sozialer Verantwortung nicht hintergehbar. Dafür sprechen - und dafür sorgen - schon die vielfältigen Facetten des gesellschaftlichen Wandels, der sich derzeit vollzieht.
Möglichkeiten, wie der Sport dem begegnen könnte, gibt es viele. Zu denken wäre etwa an neue Angebotsstrukturen, die dem demografischen Wandel Rechnung tragen - dies umso mehr, als sich allmählich die Erkenntnis durchzusetzen beginnt, dass sich dieser nicht erst in ferner Zukunft, sondern bereits gegenwärtig vollzieht und auswirkt. Ebenfalls sinnvoll schiene auch eine verstärkte Zusammenarbeit von Sportvereinen und -verbänden mit kommunalen und staatlichen Stellen. Es kommt darauf an, sozialraumorientiert und lebensweltbezogen Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen oder ins soziale Abseits zu geraten drohen, zu fördern, zu befähigen und zu ermächtigen - damit Handlungsräume eröffnet sowie soziale und kulturelle Armutsbarrieren überwunden werden können, und damit Teilhabe in gesellschaftlich relevanten, subjektiv bedeutsamen Lebensbereichen und Teilsystemen gelingen kann, zu denen selbstverständlich eben auch der Sport gehört.
Teilhabe durch Sport
Seit die Verbesserung, die Erhaltung oder die Wiedererlangung der körperlichen Leistungsfähigkeit und der eigenen Gesundheit als potenzielles Ziel sportlicher Übungen auch als vermarktbar erkannt und in diesem Sinne seitens verschiedener Akteure instrumentalisiert wurden, ist der Sport als selbstverständlicher Bestandteil individueller Lebensgestaltung kaum mehr wegzudenken - im Gegenteil: Je stärker Autonomie und Selbstwirksamkeit sowie körperliche Leistungsfähigkeit und Gesundheit als wichtige Merkmale eines gelingenden Lebens definiert werden, umso größere Bedeutung scheinen sportliche Aktivitäten im Leben vieler Menschen zu erlangen.
Die Frage, inwiefern das Ideal der Einbeziehung aller Menschen - ungeachtet physischer, psychischer oder sozialer Kriterien - in das Teilsystem Sport realisiert werden kann, führte 1975 zur Verabschiedung der Europäischen Charta "Sport für alle". Ihr Ziel ist es, Bedingungen zu schaffen, die es der gesamten Bevölkerung ermöglicht, regelmäßig Sport zu treiben, und zwar ohne Berücksichtigung von Geschlecht, Alter, Beruf oder Einkommen (Art. 1: "Jeder Mensch hat das Recht, Sport zu treiben"). Jenseits der großen Organisationen des Sports existieren zahlreiche Projekte und Initiativen, die sich derer annehmen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Beispielsweise fand parallel zur Fußball-WM 2006 in Deutschland die Streetfootball-WM in Berlin statt, ein Turnier weltweiter Entwicklungsprojekte, die Fußball nach eigenen, sozialen "Fairplay"-Regeln spielen. Die Deutsche Straßenfußball-Meisterschaft wiederum wird seit 2006 ausgerichtet vom Verein "Anstoß! Bundesvereinigung für Soziale Integration durch Sport", die auch die deutsche Beteiligung am Homeless Worldcup organisiert.
Wie weitreichend die Überlegungen hinsichtlich einer Beteiligung aller am Sport gehen können (und gehen müssen), zeigt das Beispiel des Sports von Menschen mit Behinderung. Wird Behinderung nicht mehr als Defizit, sondern als soziale Benachteiligung im Sinne einer Einschränkung von Teilhabechancen betrachtet, und werden Menschen mit Behinderung nicht länger als Objekte der Fürsorge, sondern als mit Bürgerrechten ausgestattete, selbstbestimmte Subjekte begriffen, reicht es nicht, spezielle Angebote für Menschen mit Behinderung (bis hin zum Leistungssport) zu schaffen. Vielmehr kommt es darauf an, durch die Entwicklung und Organisation von inklusiven sportlichen Angeboten und Veranstaltungen Menschen mit und ohne Behinderung miteinander in Bewegung kommen zu lassen.
Mit dem Rückenwind der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, welche die Bundesrepublik 2009 ratifiziert hat, wird auch im Sport sehr viel aktiver als bislang mit dem Ziel der Inklusion gearbeitet werden müssen
Sport hat Zukunft
Das Phänomen Sport hat in seiner Geschichte tiefgreifende Wandlungen und unterschiedliche Deutungen erfahren. Seit der Begründung der Turnbewegung vor 200 Jahren haben sich Praxis und Verständnis von Leibesübungen und Körperkultur stetig weiterentwickelt, mit dem Aufkommen neuer Sportarten rückten andere Bewertungen und Wertigkeiten in den Mittelpunkt. Zu allen Zeiten hatte Sport Zukunft - nur ob der Sport in Zukunft genau so aussieht, wie er sich gegenwärtig darstellt, ist eine offene Frage.
Niemand weiß, ob in 20, 30 Jahren die Bemühungen des DFB, dem Frauenfußball eine breitere Basis zu verschaffen, Erfolg gehabt haben werden - oder ob sich bis dahin nicht sogar gänzlich andere Fußball-Varianten stärker etabliert haben könnten. Denkbar ist auch, dass die heute "großen" Sportarten und ihre Verbände von anderen Sportarten verstärkt Konkurrenz bekommen. Neben dem Vereinssport hat sich ein weitgehend kommerziell orientierter Sportbetrieb etabliert, der mit seinen Fitness-Centern, Sportschulen und dergleichen mehr Millionen Deutsche anzieht. Keineswegs sind diese viel besuchten, privaten Sportstätten nur Ausdruck von Individualismus, Jugendwahn und Kommerz und damit gleich die Totengräber der traditionellen Sportvereine. Aber für viele ist der Sport im Verein mit seinen festgelegten Übungszeiten aufgrund beruflicher Belastungen und wechselnder Arbeitsorte nur schwer möglich. Für andere ist das breite Angebot verlockend, das von Fitness bis Wellness reicht und sich rasch auf die Wünsche der Kunden und die jeweiligen Moden einstellt. Damit stehen die kommerziellen Studios ebenso für eine weitere Differenzierung von Freizeitverhalten, Körperkultur und Sport wie neue (Trend-)Sportarten; sie illustrieren beispielhaft eine von zunehmenden Fliehkräften gekennzeichnete Gesellschaft. Der Sport ist also einer ständigen Wettbewerbssituation innerhalb der Sportarten und den mannigfachen Trends der Körperkultur ausgesetzt und bedarf schon aus diesem Grunde eines immanenten "Entwicklungspotenzials" und der permanenten Selbsterneuerung.
Von entscheidender Wichtigkeit ist jedoch, dass der Sport seine Rolle erweitert definiert und sich neben der Hauptarbeit - dem Sport an sich - zunehmend auch gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Aufgaben stellt. Seine Zukunft ist dann gesichert, wenn er der sozialen Verantwortung in einer sich wandelnden Gesellschaft gerecht wird. Selbstverständlich kann der Sport nicht einzelne, schon gar nicht alle gesellschaftlich relevanten Probleme lösen, erst recht nicht im Alleingang. Im Gegenteil produziert er manche Probleme erst, oder er macht sie wie in einem Brennglas sichtbar. Wohl aber birgt er ein nicht zu unterschätzendes Potenzial, als Motor gesellschaftlicher Prozesse darauf hinzuwirken, dass Teilhabe für immer größere Teile der Bevölkerung realisiert werden kann - dieses gilt es zu entdecken und zu fördern.
Sport prägt uns
Der (organisierte) Sport als Ganzes sollte stärker als bisher nicht nur als Teil, Spiegelbild oder bestenfalls Vorbild der Gesellschaft wahrgenommen werden, sondern als einflussreicher gesellschaftlicher Akteur. Es gilt, ihn nicht nur rhetorisch wohlfeil als "Kulturgut" oder als "Teil der Kultur" zu verklären, sondern ihn als Kultur bildenden und Gesellschaft prägenden Faktor wertzuschätzen.
Sport bildet und prägt uns - auch, aber nicht allein durch seine vielfältigen Vernetzungen und Verflechtungen, seine politischen, ökonomischen, sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Wirkungen und Bezüge. Er tut dies, indem er mannigfache Gelegenheiten bietet, individuelle und kollektive Identitäten auszubilden und zu leben. Und er tut dies, indem er zwischen Individuen und Gruppen Begegnungen ermöglicht, soziale Beziehungen stiftet und gesellschaftliche Bindungskräfte freisetzt. In diesem Sinne besitzt er tatsächlich integrative, ja inklusive Kraft. Es ist zu wenig, von "Teilhabe durch Sport" zu sprechen. Sport ist Teilhabe.