Einleitung
Für die Popularisierung der "Gemeinschaftsaufgabe Organspende"
Denn trotz aufwändiger Initiativen scheint der Mangel an Organen ein chronisches Problem der Transplantationsmedizin zu sein: Zwischen dem Bedarf und dem "Organangebot" klafft eine große Lücke, die, wie der ehemalige Chefarzt der Medizinischen Klinik in Gladbeck Linus Geisler erklärte, dem System der Transplantationsmedizin selbst geschuldet ist. Zum einen erzeugt dieses System immanent einen immer größeren Bedarf an Organen - beispielsweise durch Organabstoßungen sowie Schädigungen anderer gesunder Organe von Empfängern infolge der immununterdrückenden Medikamente, was den Bedarf von weiteren Transplantaten potenziert. Zum anderen ist die Gefahr, einen Hirntod zu erleiden, sehr gering. Daher bleibt "die Illusion der 'leeren Warteliste' (...) immer eine Illusion".
Auch Ärzte haben Anstrengungen unternommen, um das Organaufkommen zu optimieren: 2008 wurde in den USA der Spenderkreis um eine vom Hirntod unabhängige Patientengruppe erweitert, die mittlerweile auch in einigen europäischen Ländern (Österreich, Schweiz, Niederlanden, Belgien, Spanien) als Organspender dient: die non heart-beating donors. Hierbei handelt es sich um Patienten mit einem Herzstillstand, der durch eine medizinische Behandlung durchaus reversibel sein kann. Dennoch wird ohne Reanimationsbemühungen mit der Organentnahme bei diesen Patienten schon zwei bis zehn Minuten nach der Todesfeststellung begonnen, wobei der Körper durch Beatmung und Herzmassage weiterhin für den Transplantationszweck versorgt wird.
Diese Tatsachen verweisen - so die These dieses Beitrags - auf ein ethisches Problem, das in der verpflanzungsmedizinischen Praxis begründet liegt. Es wurzelt in den durch eine Organentnahme berührten Tabus, deren ethisches Fundament mit der Organgewinnung aus dem Körper von Hirntoten kollidiert. Kurzum: Zwei sich widersprechende Ethiken stehen in einem konkurrierenden Verhältnis: auf der einen Seite geht es um die potenzielle Lebensrettung durch Organspenden, auf der anderen Seite sind damit Tabuüberschreitungen verbunden, die unsere Vorstellungen über Menschenwürde, medizinische Ethik und den sozialen Umgang mit einem sterbenden sowie toten Menschen aus den Angeln heben.
"Todeszeichen - Der Augenschein trügt"
1997 wurde Florian Lethen von einem Auto erfasst. Nachdem er am Unfallort reanimiert worden war, teilte eine Ärztin seiner Familie mit, dass sein Leben aufgrund einer Hirnblutung nicht zu mehr retten sei, und der Hirntod kurz bevorstünde. Bald darauf kam die Todesnachricht. Seine Angehörigen befürworteten eine Organspende. Auf einem Formular kreuzten sie jene Organe an, die sie zu spenden bereit waren: Herz, Lunge, Leber und Nieren. Florians Vater bereute später diese Entscheidung und erhob Vorwürfe gegen die Transplantationsmedizin.
Vergegenwärtigen wir uns das Prozedere einer Explantation: Für die Organentnahme wird der Körper des Spenders mit einem Schnitt vom Brust- bis zum Schambein geöffnet. Erst jetzt erleidet der Hirntote durch systematisches medizinisches Handeln jenen Tod, der uns durch seine Zeichen als Herztod bekannt ist - beispielsweise indem vor der Entnahme des Herzens mehrerer Liter der kardioplegischen (herzlähmenden) Lösung in die große Körperschlagader (Aorta) gegeben und so der Herzstillstand herbeigeführt wird.
Dieses Verfahren bezieht sich auf ein Körpermodell, das historisch auf die im 17. Jahrhundert begründete kartesianische Körpermaschine zurückgeht: Dem im menschlichen Gehirn verorteten Geist wurde ein entseelter und nach Gesetzen der Mechanik funktionierender Körper entgegengesetzt. Einen Höhepunkt dieser mechanistischen Anthropologie bildet die vom Hirntodkonzept abhängige Transplantationsmedizin. Auf der Methode der Körperzergliederung beruhend, setzt diese Therapieform die Logik der kartesianischen Körpermaschine hinsichtlich des Sterbeprozesses fort. Als Sitz der Person und daraus folgernd auch ihres Todes trennt das Hirntodkonzept das Gehirn vom Sterben des so verstandenen "noch überlebenden übrigen Körpers" ab,
Wie flexibel die Hirntodvereinbarung selbst ist, verdeutlicht ihre Geschichte: 1968 legte eine Kommission der Harvard Universität Kriterien für den Hirntod fest. Das Ausbleiben aller Reflexe war hier ein zentrales Todeskriterium, denn das Rückenmark wurde in dieser Definition morphologisch zum Gehirn gezählt.
An der Durchsetzung dieser Todesdefinition war der deutsche Neurochirurg Wilhelm Tönnis (1898-1978) maßgeblich beteiligt. In seiner Funktion als beratender Neurochirurg beim Chef des Sanitätswesens der Luftwaffe war seine Forschung in die medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus eingebettet.
Trotz der juristischen Festschreibung als Leichnam ist nach wie vor der Umgang mit Hirntoten von Unsicherheit beherrscht, insbesondere bei Operationsschwestern und Anästhesisten. Sie sehen, wie der "überlebende Körper" auf seine Öffnung und auf die kalte Nähr- und Konservierungslösung reagiert, die dem Spender vor der Organentnahme gegen Verwesungsprozesse eingeflößt wird und das Blut ausschwemmt. Um irritierende Reaktionen auf diese Eingriffe (wie Bewegungen, Hautrötungen, Schwitzen, steigender Puls und Blutdruck) zu unterdrücken, werden dem Hirntoten Schmerzmittel und muskelentspannende Medikamente verabreicht.
"Justified Killing"
Die Transplantationsmedizin wird seit ihrem ersten großen Aufschwung, der durch die Hirntodvereinbarung von 1968 möglich wurde, von einer wissenschaftlichen Kritik an dem Todeskonzept seitens der Medizin, Philosophie, Soziologie, Rechtswissenschaft und Theologie begleitet. Körper und Person eines Menschen bilden in der Hirntodkritik eine Einheit, die weder medizinisch noch anthropologisch voneinander getrennt werden kann. So erklärte Joachim Gerlach, Professor für Neurochirurgie, 1969 die Hirntoddefinition als eine medizinische Kompetenzüberschreitung: Der Personenbegriff sei durch naturwissenschaftliche Methoden nicht nachweisbar, vielmehr handele es sich um eine philosophische, nicht aber um eine medizinische Kategorie.
Diese These wurde im Zuge einer in den USA seit 2008 wieder aufgeflammten Fachdiskussion über die wissenschaftlich nicht aufrechtzuerhaltende Identifikation des Hirntodes mit dem Tod eines Menschen bestätigt.
Diese Begründung bleibt doppeldeutig. Umso mehr Unsicherheiten entstehen im Krankenhausalltag. So orientiert sich der Todeseintritt an dem Zeitpunkt der letzten geleisteten Unterschrift (von insgesamt acht) des zweiten Hirntoddiagnostikers. Diese Handhabung liegt darin begründet, dass der Eintritt des Hirntodes selbst von einem ärztlichen Spezialisten unbeobachtbar ist. Das Kriterium der letzten geleisteten Unterschrift für den Todeszeitpunkt eines Patienten erzeugt, wie Gesa Lindemann an der zeitlichen Struktur der Hirntoddiagnostik verdeutlicht, ein flexibles Sterbedatum: So kann beispielsweise nach der ersten Todesfeststellung an einem Freitag die zweite aufgrund von Personalmangel nicht am Wochenende durchgeführt werden, so dass in diesem Fall der Patient erst am Montag verstirbt.
Dieser verwirrenden Logistik war auch Karolina Müller ausgesetzt. Die zweite Hirntoddiagnostik bei ihrem Ehemann erfolgte prompt an Heiligabend: "Für uns war die Zeit des Wartens so schrecklich, weil es für uns am besten gewesen wäre, wenn (...) er schnell gestorben wäre. (...) Und am 24. Dezember lag ja das Hirntodprotokoll vor, so dass das dann zu Ende war."
Pietät und Totenpflege
Die auf der "Leichenspende" beruhende Praxis der Organverpflanzung ist in der Geschichte der ärztlichen Tabuüberschreitung einzigartig, denn mehrere in unserer Kultur herrschende Normen, aber auch Verbindlichkeiten der medizinischen Ethik werden verletzt: Im Laufe der großen Operation einer Organentnahme gibt es nicht eine einzige medizinische Handlung, die im Sinne des Hippokratischen Eides dem Wohl eines Hirntoten verpflichtet ist. Egal, ob wir hirntote Organspender als Patienten, Sterbende oder Leichen betrachten: Alle sonst verbindlichen Normen sind während einer Explantation außer Kraft gesetzt. Als Tote gilt ihnen nicht die so bezeichnete "heilige Scheu".
In unserer modernen Gesellschaft wird die Totenpflege mit dem Begriff der Pietät umschrieben. Sie beinhaltet einen Schutz der Toten und der Trauernden: zum einen den würdevollen Umgang mit den Toten. Dieser ist in dem Recht auf Totenruhe verankert; zum anderen den Schutz der Angehörigen, denen ein pietätvolles Totengedenken als Rechtsgut zusteht. Die Transplantationsmedizin muss sich über diese Angehörigenrechte und Bestattungsbräuche hinwegsetzen. Einen Krankenpfleger überkam Ekel, als Gelenke eines Spenders explantiert wurden, "wenn sie mit Hammer und Meißel an einen Toten herangehen (...), das hat für mich noch eine andere Qualität."
Da die Transplantationstherapie auf der Nutzung des Körpers sterbender Patienten beruht, steht diese Medizin unter einem enormen Rechtfertigungsdruck. Sie muss dieses Faktum aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängen, und ihr scheint dies mit Hilfe der religiösen Fundierung der Organspende durch die Deutsche Bischofskonferenz zu gelingen: "Aus christlicher Sicht ist die Bereitschaft zur Organspende ein Zeichen der Nächstenliebe."
Die Aufforderung zur aktiven Beteiligung an der Verringerung dieses tödlichen Dilemmas durch einen Organspendeausweis beruft sich auf das religiöse Gewissen: Aus der Liaison der kartesianischen Körpermaschine mit dem christlichen Menschenbild erwächst eine Mischung aus Zweckrationalität und Altruismus. Egal, welchen moralisch hohen und pietätvollen Anstrich die Transplantationsmedizin sich zu geben vermag: Unsere ethischen Normen im Umgang mit Sterbenden und Toten, die Prämissen der medizinischen Ethik und schließlich das Tötungsverbot werden durch das Prozedere der Organgewinnung über Bord geworfen. Eine ethische Verpflichtung zur Organspende kann es daher nicht geben.