Einleitung
Vor der Erfindung der Herz-Lungen-Maschine im Jahr 1952 galt der irreversible Kreislaufstillstand als Kriterium des Todes. Nach einem länger dauernden Kreislaufstillstand ist kein integriertes Funktionieren der kritischen Systeme des Organismus mehr möglich, und es setzt eine unaufhaltsame Desintegration aller Teilsysteme, einschließlich des Gehirns, bis zum Zerfall des Organismus ein. Während das Herz unabhängig vom Gehirn schlägt, bedarf die Atmung der kontinuierlichen Steuerung durch das Atemzentrum im Hirnstamm. Fällt dieses durch einen Hirnstamminfarkt oder ein Schädelhirntrauma aus, versagt die eigenständige Atmung. Durch Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzdruckmassage kann der drohende Kreislaufstillstand aufgehalten werden; mit Hilfe einer Herz-Lungen-Maschine kann der Kreislauf auch langfristig stabilisiert werden.
Nach einem Hirnstamminfarkt oder -trauma sind meist neben dem Atemzentrum auch weitere Funktionen des Hirnstamms betroffen, insbesondere solche, die für die Steuerung von Reflexen und absichtlichen Bewegungen notwendig sind. Aber sofern unter anderem die Hirnrinde (Kortex) noch funktioniert, kann der Patient noch bei Bewusstsein sein; dieser Zustand wird als Locked-in-Syndrom bezeichnet. Wenn in diesem Zustand außerdem das Bewusstsein fehlt und dieses Fehlen als dauerhaft eingeschätzt wird, wird angenommen, dass der Patient hirntot ist.
Der Begriff des Hirntods ist aufgrund der Möglichkeit des zeitlichen Auseinanderfallens von Herzversagen und Gehirnversagen durch die Herz-Lungen-Maschine geprägt worden. Ob ein vollständig gelähmter Patient bei Bewusstsein ist, ist schwer festzustellen. Die meisten Locked-in-Patienten können noch ihre Augen in vertikaler Richtung bewegen, da diese Bewegung von Nervenzellen gesteuert wird, die oberhalb des durch Hirnstamminfarkt betroffenen Gebiets liegen. Beim Super-Locked-in-Syndrom ist auch die vertikale Augenbewegung nicht mehr möglich, so dass alle klinischen Merkmale der Bewusstlosigkeit vorliegen. Dieses Syndrom ist nur mit funktioneller Bildgebung oder elektrophysiologischen Messungen vom Hirntod unterscheidbar.
Die "neurologische" Todesdefinition wurde 1968 vorgeschlagen. Anlass war die Verurteilung eines Arztes in Japan, der einem hirntoten Patienten Organe zur Transplantation entnommen hatte, wegen Mordes. Dadurch war das Problem der Rechtssicherheit in der Organbeschaffung akut geworden. Das daraufhin gegründete Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death schlug vor, das "irreversible Koma" als neues Todeskriterium zu definieren. Als dessen Merkmale wurden festgelegt: (1) keine Rezeptivität und Reaktivität, (2) keine spontanen Bewegungen und Atmung, (3) keine Reflexe und (4) flaches Elektroenzephalogramm (EEG).
Kritik am Hirntodkriterium
Kritiker der Gleichsetzung von Tod und Hirntod wie der Philosoph und Nobelpreisträger Hans Jonas halten am klassischen Todeskonzept fest. Sie plädieren dafür, den Komapatienten oder den Hirntoten im Zweifel so zu behandeln, als sei er noch auf der Seite des Lebens, da wir die exakte Grenze zwischen Leben und Tod nicht kennen, und der Mensch nicht von seinem Körper zu trennen oder im Gehirn zu lokalisieren sei.
Dagegen vertreten einige Bioethiker
Einige künstlich beatmete Hirntote zeigen noch eine körperliche Integration: Sie halten ihre Homöostase (Selbstregulierung) durch zahlreiche (endokrine und kardiovaskuläre) Funktionen aufrecht, regulieren selbstständig ihre Körpertemperatur, bekämpfen Infektionen (etwa durch Fieber) und Verletzungen, reagieren auf Schmerzreize mit Blutdruckanstieg, produzieren Exkremente und scheiden diese aus. Hirntote Kinder wachsen und können sogar ihre Geschlechtsentwicklung fortsetzen.
Hirntoddiagnostik
Laut deutschem Transplantationsgesetz (TPG) dürfen lebenswichtige Organe nur von Toten entnommen werden. Wie der Philosoph Ralf Stoecker bemerkt, ist die entscheidende Frage unbeantwortet geblieben, nämlich ob hirntote Menschen auch tatsächlich tot sind.
Die Bundesärztekammer hat 1998 den folgenden Ablauf für die Feststellung des Hirntodes vorgeschrieben:
Die von der Bundesärztekammer vorgeschriebene Diagnostik erfasst nur Teilbereiche des Gehirns: Bei Patienten, für die keine apparative Diagnostik vorgeschrieben ist, müssen nur Hirnstammfunktionen untersucht werden. Die Funktionen des Kortex sowie des Klein- und Mittelhirns werden dabei nicht untersucht. Denn ein Koma ist kein hinreichendes Symptom zur Diagnose einer Schädigung des Kortex; auch Störungen des retikulären aktivierenden Systems (RAS) im Hirnstamm können ein Koma verursachen.
Die klinische und die apparative Hirntoddiagnostik führen häufig zu unterschiedlichen Ergebnissen;
Es bestehen zahlreiche Unterschiede zwischen den Richtlinien zur Hirntoddiagnostik verschiedener Staaten. Diese betreffen vor allem Grenzwerte für die diagnostischen Tests (wie zum Pupillenreflex, zum Atemstillstand und zur Kerntemperatur) sowie Bestimmungen, unter welchen Bedingungen apparative Diagnostik eingesetzt werden muss.
Reaktionen von hirntoten Patienten bei der Organentnahme
Eine Untersuchung von Hans-Joachim Gramm et al.
Wie häufig Fehldiagnosen des Todes sind, ist unbekannt; sie werden selbstverständlich nicht in Fachzeitschriften publiziert. Allerdings wurden einige Fälle von "Hirntod-Mimikry" hochrangig publiziert. Deren Ursachen waren Pestizidvergiftung, eine Baclofen-Überdosis (Wirkstoff zur Muskelentspannung) beziehungsweise ein fulminantes Guillain-Barré-Syndrom (neurologische Erkrankung mit vollständiger Lähmung).
Trilemma in der aktuellen Debatte über den Hirntod
Die aktuelle Debatte über den Hirntod wird in renommierten medizinischen, ethischen und juristischen Fachzeitschriften geführt. Der President's Council on Bioethics (das US-amerikanische Pendant zum Deutschen Ethikrat) hat im Dezember 2008 das Grundlagenpapier Controversies in the Determination of Death publiziert.
Dieses Argument ist nach Auffassung des Rates nicht mehr aufrechtzuhalten. Das Gehirn sei nicht der Integrator der verschiedenen Körperfunktionen; vielmehr sei die Integration eine emergente Eigenschaft des ganzen Organismus.
Es werden drei Optionen als mögliche Konsequenzen aus der Erkenntnis, dass sich die Gleichsetzung von Tod und Hirntod naturwissenschaftlich nicht aufrechterhalten lässt, diskutiert: (1) eine neue Rechtfertigung der Gleichsetzung von Hirntod und Tod, (2) die Abschaffung der Tote-Spender-Regel, (3) der Verzicht auf Organentnahmen aus hirntoten Patienten. Der Rat selbst lehnte die zweite und die dritte Option ab: die zweite weil dadurch Qualität und Quantität des Organangebots reduziert würden, und die dritte wegen ethischer und rechtlicher Bedenken.
1. Option: Neudefinition von Leben und Tod:
Um am Hirntodkriterium festhalten zu können, hat der Rat eine neue "philosophische" Definition des lebenden Organismus formuliert. Danach wird als notwendiges Kriterium für das Leben eines Organismus die Arbeit der Selbsterhaltung durch Auseinandersetzung mit der Umwelt bestimmt. Diese setze drei fundamentale Fähigkeiten voraus: (1) Offenheit für die Welt, (2) die Fähigkeit, auf die Welt einzuwirken, und (3) die gefühlte Notwendigkeit, die zum Handeln antreibt, um zu erlangen, was man braucht und als verfügbar erkennt. Diese Fähigkeiten zeigten sich in Anzeichen von Bewusstsein oder Wachheit, in Schmerzreaktionen und im spontanen Atmen. Dies entspricht genau den Kriterien des Hirntod-Konzepts.
Der philosophische Kunstgriff einer Neudefinition des Lebens, die deutlich vom Lebensbegriff der Biologie abweicht (und nach der Embryonen nicht leben), ist ein Zugeständnis einerseits an das Tötungsverbot, andererseits an die Transplantationsmedizin. Dies drängt den Eindruck einer interessengeleiteten Ethik auf, die überdies das wissenschaftliche Prinzip der Falsifizierbarkeit missachtet.
2. Option: Abschaffung der Tote-Spender-Regel:
Dieter Birnbacher, Philosoph und Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer, stellt fest, dass "der Hirntod als Kriterium des organismischen Todes klarerweise ungeeignet" ist. "Bei der Explantation von Organen von Hirntoten werden (...) diese Organe einem lebenden menschlichen Individuum entnommen."
Allerdings ist in der Ethik die Abstufung der Schutzwürdigkeit von Lebewesen aufgrund wertbegründender Eigenschaften wie Bewusstsein eins der am erbittertsten umkämpften Prinzipien. Daher fordern auch mehrere Bioethiker und Mediziner
Ob eine Aufweichung des Tötungsverbots bei ausdrücklicher Zustimmung des Patienten ethisch akzeptabel und rechtlich möglich ist, ist eine schwierige Frage. Je nachdem wie eine gesetzliche Regelung hierzu konkret ausgestaltet würde, könnte diese implizieren, dass auch das Verbot aktiver Sterbehilfe fallen müsste. Allerdings bestehen zwei wesentliche Unterschiede zwischen der Tötung eines hirntoten Patienten durch Organentnahme und der aktiven Sterbehilfe: Im ersten Fall wird keine Hilfe zum oder beim Sterben geleistet, sondern das Sterben verlängert und erschwert. Das Leben wird also verlängert, wenn auch nicht zum Wohl des Patienten, während es durch aktive Sterbehilfe verkürzt wird. Damit entfällt ein wichtiger Grund, warum eine Tötung ein Unrecht darstellt. Wenn die Organentnahme auf ausdrücklichen Wunsch des sterbenden Patienten geschieht, wird seine Autonomie respektiert; damit entfällt ein weiterer wichtiger Unrechtsgrund. Wären die einzigen Unrechtsgründe der Tötung eines Menschen, dass dadurch dessen Recht auf Selbstbestimmung missachtet und ihm Lebenszeit weggenommen wird, dann wäre eine Tötung durch Organentnahme mit Zustimmung des Patienten kein Unrecht.
Wenn die Tote-Spender-Regel für Organentnahmen aus Hirntoten aufgegeben werden soll, aber die zentralen medizinethischen Prinzipien des Respekts vor der Patientenautonomie und des Nichtschadens beachtet werden sollen, müssten für jeden Einzelfall folgende Fragen streng geprüft werden: Hat der Patient tatsächlich zur Organentnahme im Falle eines Hirntodes eingewilligt? Leidet er nicht bei der Explantation? Dazu wären folgende Veränderungen gegenüber der gegenwärtigen Praxis erforderlich: Die Organentnahme aus hirntoten Patienten wäre nur dann legitim, wenn der Patient rechtsverbindlich zur Organentnahme im Falle eines Hirntodes zugestimmt hat.
Das setzt sein informiertes Einverständnis zur Prozedur der Hirntoddiagnostik und der Organentnahme voraus. Die Zustimmung zur Organentnahme "nach der ärztlichen Feststellung des Todes", wie es in den heute in Deutschland üblichen Organspendeausweisen heißt, ist nicht ausreichend, da diese sich auf einen allgemein geteilten Begriff des Todes bezieht, nicht auf den speziellen und umstrittenen Begriff des Hirntodes. Die Zustimmung zur Tötung darf keinesfalls durch die Einwilligung von Dritten ersetzt werden. Die erweiterte Zustimmungslösung, die derzeit in Deutschland gilt, dürfte danach nicht für Hirntote, sondern höchstens für Patienten nach irreversiblem Herzkreislaufstillstand gelten. Schließlich müsste die Organentnahme so durchgeführt werden, dass dem Patienten mit Sicherheit kein Leid zugefügt wird. Dies impliziert Vollnarkose.
3. Option: Verbot von Organentnahme aus
hirntoten Patienten:
Soll am absoluten Tötungsverbot festgehalten werden, muss die Explantation von Organen aus hirntoten Patienten verboten werden. Die Organentnahme wäre dann nur noch zu erlauben, wenn Hirntod und Herzstillstand nachgewiesen worden sind. Das hätte allerdings zur Folge, dass die "besten Organe" nicht mehr für Transplantationen zur Verfügung stünden, insbesondere keine Herzen.
Der Kardiologe David W. Evans und der Philosoph Michael Potts lehnen die Abschaffung der Tote-Spender-Regel ab.
Fazit
Das Argument des "Organmangels" ist keine Rechtfertigung, um billigend in Kauf zu nehmen, dass Organe aus sterbenden Patienten entnommen werden, deren Einverständnis dazu nicht gegeben ist. Da die Bewertung eines nur noch organismischen Lebens als weniger schützenswert sowohl unter Ethikern als auch in der Bevölkerung umstritten ist, sollte eine solche Wertentscheidung nicht zur Grundlage der Gesetzgebung werden, sondern der Entscheidung jedes Einzelnen überlassen werden. Konkret heißt das, dass jede Bürgerin und jeder Bürger entscheiden dürfen sollte, ob sie oder er zur Organspende bereit ist oder nicht, und falls ja, ob dafür die Hirntoddiagnose ausreichen soll oder zusätzlich der Herzstillstand eingetreten sein muss.
Es sollte sicher ausgeschlossen werden, dass potenzielle Organspender gegen ihren Willen durch die Organentnahme getötet werden und dabei leiden. Daher sollten EEG, Angiographie und in ungeklärten Fällen funktionelle Bildgebung zur Sicherung der Hirntoddiagnose sowie Vollnarkose für die Entnahme gesetzlich vorgeschrieben werden. Eine Organentnahme sollte nur erlaubt sein, wenn ein schriftliches Einverständnis vorliegt. Das bedeutet, dass die derzeit in Deutschland geltende erweiterte Zustimmungslösung durch die enge Zustimmungslösung ersetzt werden sollte.
Die Kluft zwischen Organnachfrage und -angebot sollte nicht durch ethisch fragwürdige Maßnahmen zur Erhöhung des Organangebots überbrückt werden, sondern vorrangig durch Maßnahmen zur Verringerung der Nachfrage wie Präventionsmaßnahmen gegen Übergewicht, Medikamentenmissbrauch, Alkoholismus, Drogenmissbrauch oder Hepatitis. Die Transplantationsmedizin wird vielleicht in einigen Jahren als Brückentechnologie betrachtet werden, die gebraucht wird, bis ethisch und medizinisch bessere Lösungen - wie vollimplantierbare Kunstherzen und Organe aus dem Labor