Einleitung
Ich wollte hier nicht nur als Schraube leben", sagt Jemal Muktar.
Jemal war sieben Jahre alt, als seine Eltern auf dem Höhepunkt des Kosovo-Krieges im Frühjahr 1999 aus dem Roma-Viertel von Pristina, der Hauptstadt des Kosovo, flohen. Fragt man den schmächtigen jungen Mann in dem ordentlich gebügelten, blau-weiß karierten Hemd, das sorgfältig in die schwarze Jeans gesteckt ist, nach seinen Erinnerungen an das Herkunftsland seiner Eltern, lächelt er breit: "In unserem Viertel gab es nur Roma - überall war Verwandtschaft. Da wusste man, wo man herkommt und war sicher vor Abschiebungen." Jemals Vater arbeitete als Heizungsinstallateur, seine Mutter als Krankenpflegerin in einem Krankenhaus in Pristina. Eigene Bilder aus den Kriegswochen hat er kaum: "Als Kind fand ich es eher spannend, als eines Tages die Sirenen geheult haben, mein Vater uns in den Keller einer Nachbarin gebracht hat und dann die Bombardierung begann." Ansonsten, sagt Jemal, könne er "den Film vom Leben im Kosovo" nicht mehr in seinem Kopf abspulen. Aber die Erinnerung an den Tag, als die Flucht der Familie begann, ist nicht verblasst: Als die Albaner gekommen seien, hätten alle Roma ihre Wohnungen und Häuser verlassen müssen: "Die albanische Familie, die in unsere Wohnung einziehen wollte, stand schon vor der Tür."
Kindheit am Rand einer Universitätsstadt
Gemeinsam mit seinen Eltern und den beiden älteren Schwestern - sie waren damals 15 und 17 Jahre alt - begann der Siebenjährige den langen Weg zu Verwandten in Deutschland: Sie schliefen wochenlang in dreckigen Barackenlagern und reisten mit völlig überfüllten Verkehrsmitteln, deren verängstigte Passagiere rund 2000 Euro pro Person an Schlepper zahlen mussten. Besonders die Anfangszeit "im kalten Göttingen" war für die Familie "extrem schwer". "Wir haben zu fünft in einem Zimmer in dem Flüchtlingswohnheim in einer ehemaligen Kaserne gewohnt", erinnert sich Jemal. Dazu kamen Gemeinschaftsküchen, -toiletten und -duschen - Privatsphäre gab es dort für niemanden. "Damals begann unser Leben als geduldete Bürgerkriegsflüchtlinge." Jemal und seine Schwestern kamen in die Schule - und verstanden erst einmal gar nichts, zumal der Junge als Erstklässler im Kosovo gerade erst das Lesen und Schreiben mit kyrillischen Buchstaben gelernt hatte. "Drei Monate habe ich gebraucht, dann habe ich angefangen Deutsch zu verstehen - durch Freunde, das Fernsehen und die Schule, obwohl wir keinen speziellen Förderunterricht bekamen."
Nach zwei Jahren im Heim erhielt die Familie eine Sozialwohnung - im Rosenwinkel im Westteil der Universitätsstadt. "Deutschland ganz unten - Beobachtungen in einem Göttinger Ghetto" lautete der Titel einer Reportage von Spiegel-TV im Winter 2010 über das Viertel, in dem Jemal aufgewachsen ist und bis heute lebt. Auch die allermeisten der rund 500 Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien, die infolge der Bürgerkriege hierher kamen, leben in diesem Stadtteil aus mehrheitlich im städtischen Besitz befindlichen zwei- bis dreistöckigen Häusern. Viele der Wohnungen sind völlig heruntergekommen, Kohleöfen gehören hier noch immer zum Standard, in vielen Badezimmern stehen Holzbadeöfen. Eine Mischung aus Armut, Ausgrenzung, Drogen und hartem Überlebenskampf prägt den Alltag vieler BewohnerInnen. Experten kritisieren, die Stadt habe die Ghettoisierung bewusst herbeigeführt, da sie Flüchtlingen vor allem Wohnungen im Rosenwinkel zuweise - alternative Angebote gebe es kaum.
Während Jemal sich hier durch seine Schulzeit beißt - die zweite Klasse der Grundschule wiederholt er, weil seine Deutschkenntnisse noch immer nicht ausreichen; trotz Realschulempfehlung kehrt er freiwillig zur Hauptschule zurück und macht dort seinen Abschluss mit einem Notendurchschnitt von 2,5 -, verschlechtert sich der Zustand seiner Eltern zunehmend. Sein Vater verlor alle Zähne, und seine Mutter leidet seit Jahren an Diabetes. Sein Vater sei "krank geworden vom Sitzen", beschreibt der Teenager das Problem. Die Ursache ist für ihn klar: "Meine Eltern haben ein Jahrzehnt lang keine Arbeitserlaubnis bekommen, weil sie von einer Duldung zur nächsten leben mussten. Dabei waren sie doch noch jung mit Ende Dreißig, als wir hierher kamen." Jemal ist immer mitgegangen zur Ausländerbehörde, wenn die Duldung mal nach zwei Monaten, mal nach einem halben Jahr verlängert werden musste, "und immer wusste ich, dass die Chancen 50 zu 50 stehen, dass wir beim nächsten Mal den Ausweisungsbescheid bekommen und zurückgehen müssen".
Das ändert sich erst, als der damals 16-Jährige den Aushilfsjob seiner schwangeren Schwester bei einer großen Supermarktkette übernehmen kann. "Zwei Jahre bin ich gleichzeitig zur Schule gegangen und habe gearbeitet", sagt Jemal und wundert sich über die Verwunderung seiner Zuhörer. Sein Alltag: "Morgens um sieben Uhr aufstehen, bis 14 Uhr Schule, danach Hausaufgaben und Freizeit, und um 19 Uhr mit dem Bus zur Arbeit fahren, um im Supermarkt zu putzen bis 22 Uhr. Um 22.30 Uhr war ich dann wieder zuhause - auch samstags." 350 Euro verdient Jemal netto monatlich; er kann die Chefs seiner Reinigungsfirma überreden, auch seinen Vater und seine Mutter auf 350-Euro-Basis einzustellen. Sehr nüchtern sagt Jemal, über die Arbeit habe er den Duldungsstatus verlassen können - und, mit einem Lächeln fügt er hinzu, seinen Führerschein finanziert.
Tatsächlich gehören Jemal Muktar und seine Familie zu der Minderheit der Geduldeten, die durch ihre Arbeit als Reinigungskräfte nachweisen können, dass sie ihren Lebensunterhalt zumindest teilweise alleine absichern können - und so von der so genannten Altfallregelung der Großen Koalition aus dem Jahr 2007 profitieren konnten, mit der eigentlich die endlose Kette von Duldungen für Familien wie die Muktars beendet werden sollte. Doch vielen Geduldeten - vor allem in strukturschwachen Bundesländern in Ost- und Norddeutschland - gelang dieser Nachweis aufgrund von mangelnden Jobangeboten nicht. "Ein Freund von uns ist vor drei Jahren abgeschoben worden, obwohl es erst hieß, die Polizei wolle nur den Vater abschieben. Über Facebook wissen wir ziemlich gut Bescheid, wie schlecht es ihm im Kosovo geht." Jemal, der seit der Flucht der Familie nicht mehr im Kosovo war, sagt, er habe sich nicht gefreut, als er "die Duldung endlich los war. Ich habe gedacht, dass ich mir meinen Aufenthalt hier wirklich verdient habe." Fragt man Jemal nach seinen Träumen, unterscheidet er sich erst bei genauerem Nachfragen von seinen deutschen Freunden, mit denen er in seiner Freizeit Fußball spielt, Musik hört oder Party macht: "Ich will in Deutschland auf jeden Fall ein eigenes Haus haben - so wie meine Eltern damals im Kosovo ein Haus hatten -, und ich will selbstständig und auf keinen Fall auf den Staat angewiesen sein." Und: "Meine Kinder werden Deutsche, schließlich kann ich auch besser Deutsch als Romanes."
Fragt man Jemal und seinen Freund nach Erfahrungen mit Rassismus und Ausgrenzung, schüttelt er vehement den Kopf und rutscht dann unruhig auf der durchgesessenen Couch im einzigen Zimmer des Roma Center Göttingen e.V. herum. "Vor kurzem hatten meine Eltern einen Zwischenfall bei der Arbeit, als sie jemand als 'Scheiß Ausländer' bezeichnet hat", sagt er dann leise. Kenan Emini, Vereinsvorsitzender und Großer-Bruder-Ersatz für Jemal Muktar und mindestens drei Dutzend weitere Göttinger Roma-Jugendliche, sagt, im Alltag von Roma-Teenagern wie Jemal seien rassistische Beleidigungen oder Ausgrenzungen tatsächlich eher selten. Schließlich würden sich die Jugendlichen auch auf den zweiten Blick kaum von ihren deutschen Altersgenossen unterschieden. Er selbst hingegen - lange schwarze Haare und Bart, Jeans und schwarzes T-Shirt - zählt die vielen Male, in denen er als "dreckiger Zigeuner" beschimpft wurde, längst nicht mehr, "aber angegriffen wurde ich in Göttingen nur drei Mal, in Serbien dagegen viel häufiger".
Ort des Austauschs
Kenan Emini kam vor mehr als zehn Jahren nach Deutschland - "obwohl ich nie hierher wollte". Sein Deutschland-Bild sei lange Jahre vor allem durch die Erzählungen seiner Großmutter und Ur-Großmutter väterlicherseits über die deutsche Besatzungszeit in Serbien während des Zweiten Weltkriegs geprägt worden, sagt der kräftige Mann mit einer überraschend leisen und sanften Stimme: "Eine gute Bekannte meiner Familie war Partisanin und hat uns Kindern immer erzählt, wie sie gegen die deutschen Soldaten und die Tschetniks gekämpft hat. Und gleichzeitig haben die Partisanen häufig die Leichen ermordeter deutscher Soldaten in Roma-Siedlungen geworfen, weil die Vergeltungsaktionen - 100 erschossene Zivilisten für einen deutschen Soldaten - dann die Roma trafen." Kenan Emini verbringt die Kindheit in Kroatien, wo seine wohlhabenden Eltern ein gut gehendes Teppichgeschäft betrieben, bis sein Vater sich und die Familie vor dem Kroatienkrieg 1991 im Kosovo in Sicherheit brachte und dort eine neue Existenz aufbaute - bis zum Ausbruch des Kosovokriegs acht Jahre später.
Kenan Emini kennt die Realität der Roma-Jugendlichen in Göttingen seit deren Kindheit; auch er hat im Flüchtlingswohnheim und selbst jahrelang mit dem Damoklesschwert einer möglichen Abschiebung gelebt: "Meine Eltern haben viel gearbeitet, und sie haben in zwei Kriegen alles verloren. Auf Googlemaps habe ich neulich gesehen, dass dort, wo früher unser Haus war, inzwischen ein Parkplatz ist." Doch der gelernte Elektrotechniker wollte sich nie damit abfinden, "still zu sitzen und nichts zu tun". Ebenso wie sein inzwischen verstorbener Vater engagierte er sich bald nach seiner Ankunft in Göttingen - als Übersetzer und zunehmend auch als Sozialarbeiter für diejenigen, die dringend Hilfe im Paragrafendschungel benötigten. Dabei sei ihm bewusst geworden, dass es in Göttingen eine reale Leerstelle gab: "Wir haben so viele Roma hier, hatten aber keinen eigenen Verein."
Im Jahr 2006 gründete Kenan Emini gemeinsam mit Freunden den Verein Roma Center e.V., der inzwischen über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt ist. In dem Vereinsraum im Haus der Kulturen - einem riesigen Backsteinbau auf dem Gelände eines ehemaligen Zollamts nahe des Leineufers - haben sich die Jugendlichen ein Tonstudio eingerichtet; hierher kommen sie, wenn sie einen Ausbildungsplatz suchen oder einen Behördenbescheid bekommen haben, den sie nicht verstehen; hier üben sie, wie man eine Bewerbung schreibt, und hier organisieren sie - gemeinsam mit anderen Roma-Organisationen - die bundesweiten und inzwischen internationalen "Roma Terne" Treffen, wo Roma-Jugendliche aus dem ganzen Bundesgebiet und aus Süd- und Osteuropa zusammenkommen, sich austauschen, gemeinsame Projekte entwickeln und feiern. Vor dem Haus spielen sie Fußball, und immer wieder organisieren sie hier Proteste gegen drohende Abschiebungen - von Freunden und Unbekannten gleichermaßen. "Die Leute wissen inzwischen, dass sie sich direkt an uns wenden können, seitdem wir mit der Kampagne 'alle bleiben' vor zwei Jahren angefangen haben, ein bundesweites Netzwerk aus Partnern und UnterstützerInnen aufzubauen und bekannt zu machen", sagt Kenan Emini. Seine Vision sei mit den beiden Worten "alle bleiben" ziemlich genau zusammengefasst. "Es ist einfach nicht akzeptabel, dass die arbeitenden Kinder bleiben können, aber Eltern abgeschoben werden sollen, weil sie schon zu alt scheinen, um noch Leistungen für dieses Land zu erbringen."
"Jeden Tag verlieren wir jemanden"
Die Tatsache, dass mehr als 10000 langjährig in Deutschland geduldete Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien durch das "Rückführungsabkommen" zwischen der Bundesregierung und der Republik Kosovo seit dem 1. Januar 2011 von Abschiebung bedroht sind, treibt den energiegeladenen Mann an: "Wir haben nicht viel Zeit, denn wir verlieren jeden Tag jemanden durch die Abschiebungen."
Umso notwendiger sind aus Eminis Perspektive gesellschaftliche Bündnisse mit allen, die zuhören wollen - und ein Ende der Abgrenzungen zwischen alteingesessenen Sinti und den in den vergangenen zwanzig Jahren zugewanderten Roma. Natürlich kann er die Motive - Angst vor den weit verbreiteten Vorurteilen und Stigmatisierungen - verstehen; aber: "Die Situation von Roma verschlechtert sich zunehmend in ganz Europa - sei es in Ungarn, Rumänien oder Tschechien, oder in Westeuropa, wo Roma immer häufiger als Sündenböcke herhalten müssen. Darauf müssen wir gemeinsam reagieren." Für ihn ist zentral, dass Roma selbst initiativ werden, ihre Belange in die Hand nehmen und nicht darauf warten, dass andere etwas für sie tun; das sei "manchmal durchaus auch frustrierend", räumt Emini unumwunden ein.
Er kennt die Bilder und Berichte der frühen 1990er Jahre, als von Abschiebung bedrohte Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien die KZ-Gedenkstätte Neuengamme besetzten, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen - und setzt auf die Protestformen des 21. Jahrhunderts. Die vom Roma Center in Göttingen ins Leben gerufene Kampagne "alle bleiben" hat einen eigenen Facebook-Auftritt, T-Shirts, Buttons, Webbanner und regelmäßige E-Mail-Newsletter. Eine Kette von Fortbildungen und Vernetzungstreffen sowie regelmäßige Proteste bei den halbjährlichen Konferenzen der Innenminister der Länder gehören ebenso dazu wie die enge Zusammenarbeit mit Initiativen von FlüchtlingsunterstützerInnen, die sich in Göttingen wöchentlich zu offenen Plena treffen und im vergangenen Herbst mit Hilfe eines Kirchenasyls und viel Öffentlichkeitsarbeit mehrere Jugendliche und ihre Familien vor der Abschiebung "ins Nichts" bewahren konnten.
Gypsy Business - nein danke
Hamze Bytyci teilt viele der Visionen, die Kenan Emini antreiben. Die beiden arbeiten bei verschiedenen Vernetzungstreffen zusammen - auch wenn der 1982 in Prizren geborene und seit fünf Jahren in Berlin lebende Schauspieler und Theaterpädagoge auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein könnte als sein Freund in Göttingen. Vor dem Rroma Aether Klub Theater in einer Seitenstraße in Berlin-Neukölln, wo an kleinen Cafétischen Nachbarn und Touristen nebeneinander in der Sonne sitzen und Tee, Kaffee, Flaschenbier oder Club Mate trinken, fällt der zierliche Mann mit dem Kurzhaarschnitt und dem karierten Hemd kaum auf; dennoch wird das Gespräch immer wieder durch Begrüßungen und Verabschiedungen unterbrochen. "Kultur ist mein Baby", sagt der 29-Jährige, der als Einzelfallhelfer und Theaterpädagoge in Familien und Schulen in Berlin-Neukölln arbeitet und in "Rosas Höllenfahrt" und "Leyla" seine ersten Filmrollen hatte. Den Weg dahin hat er sich hart erarbeitet: Elf verschiedene Flüchtlingsheime hat er als Schulkind in Deutschland mit seinen Eltern erlebt, die das Kosovo 1989 während der Studentenunruhen verließen.
Als absoluten Tiefpunkt bezeichnet er sein erstes Weihnachts- und Neujahrsfest in Deutschland im Winter 1991: "Gemeinsam mit vielen anderen Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien waren wir im Kirchenasyl in Tübingen in Baden-Württemberg. In der Kirche war es so kalt, und meine Mutter hatte nicht einmal mehr Windeln für meinen damals gerade einmal zwei Monate alten kleinen Bruder, und dann ist sie einfach zusammengebrochen." Die größte Angst: in ein Heim in das Ostdeutschland der unmittelbaren Nachwendezeit verlegt zu werden. Und dennoch verbindet er mit diesem Tiefpunkt auch Positives: "Ich habe immer noch Kontakt mit einigen Leuten aus der Unterstützergruppe aus Tübingen, die uns damals geholfen haben." Immer wieder sind es deutsche Freunde, die ihm helfen, seine Träume zu verwirklichen: zum Beispiel, als er nach der Schule und immer noch in einem Freiburger Flüchtlingsheim lebend beschließt, Schauspieler zu werden und tatsächlich den Sprung auf die Freiburger Schauspielschule schafft. Und auch als er das erste Roma Kulturfest in Freiburg organisiert, ist es ein internationaler Freundeskreis, der das Projekt gemeinsam umsetzt und anschließend Amaro Drom e.V. gründet. Dessen Schirmherr: der ehemalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt Gernot Erler.
In Freiburg dreht Hamze Bytyci auch seinen ersten Film: über eine Roma-Familie im Kirchenasyl. Und er arbeitet mit den Jugendlichen der Roma-Familien aus dem Kosovo und Mazedonien, mit deren älteren Geschwistern er im Flüchtlingswohnheim groß geworden ist. Bei denen habe es immer geheißen "Hamze tickt anders", sagt er im Rückblick. Aber die Idee, die Jugendlichen beispielsweise über eigene Aktivitäten zum Internationalen Roma-Tag Anfang April über ihre Geschichte zu informieren, haben trotzdem viele unterstützt.
Er selbst habe sich erst am Anfang der Pubertät eingestanden, Roma zu sein, sagt Bytyci - auch dies eine Erfahrung, die er mit Kenan Emini teilt. Der sagt, es sei die Lektüre von Hermann Hesses Roman "Siddhartha" und der Wunsch gewesen, die Brücke zwischen Indien und der Roma-Kultur von heute zu finden, die ihn bei seiner Suche nach der eigenen Identität geprägt haben. Er habe vor allem die Geschichten hinter den unhinterfragten Traditionen verstehen wollen, sagt Hamze Bytyci. Konsequent wendet er sich seitdem gegen romantisierende Roma-Stereotype und Kitsch - "es sei denn, sie werden bewusst und als Provokation eingesetzt", fügt er hinzu - sowie gegen eine Trennung von Sinti und Roma: "Unser Verein versteht sich als eine Plattform von jungen Sinti und Roma in Deutschland."
Innerhalb der vergangenen zwei Jahre hat vor allem Amaro Foro, der Berliner Landesverband des Vereins, seine Aktivitäten sprunghaft ausgebaut: Nach dem Konflikt zwischen Politik, Verwaltung und Flüchtlingsunterstützern um eine Gruppe von rumänischen Roma, die mangels anderer Quartiere im Sommer 2009 im Görlitzer Park in Kreuzberg lebten, finanziert der Senat nun eine "Mobile Anlaufstelle für europäische Wanderarbeiter/innen und Roma. Konfliktintervention gegen Antiziganismus". "Erst wollte der Senat die Anlaufstelle ohne die Selbstorganisationen betreiben," erinnert sich Hamze Bytyci, dann habe er beim Senat interveniert, und nun wird die Anlaufstelle gemeinsam von Amaro Drom e.V. und dem Südost-Europa-Zentrum betreut. Hinter dem langen Namen verbirgt sich ein knapp zehn Quadratmeter kleiner Raum im Rollberg-Viertel in Berlin-Neukölln, wo sowohl Beratungen als auch alle Büroarbeiten stattfinden: "Dank der Mund-zu-Mund-Propaganda und vieler Kontakte zu anderen Anlaufstellen finden die Menschen inzwischen schneller zu uns. Dabei geht es fast immer um die elementarsten Bedürfnisse: Wohnungen, Gesundheitsfragen und die Befreiung aus Zwangsverhältnissen, die durch ungeklärte Aufenthaltsfragen erst möglich sind."
Hinzu kommen das internationale Jugenddemokratieprojekt "Youth in Action for Roma Participation", ein neuer Film über die Realität von jungen Roma in Berlin-Neukölln und immer wieder Veranstaltungen in den eigenen Räumlichkeiten oder mit Partnern aus Bezirken oder befreundeten Gruppen. "Wir haben als Jugendorganisation angefangen, und jetzt haben wir einen Gemischtwarenladen mit einer breiten Angebotspalette", fasst Hamze Bytyci die Vereinsaktivitäten zusammen. Ihm ist es wichtig, lediglich ehrenamtlich die Öffentlichkeits- und Kulturarbeit für den Verein zu machen. "So bewahre ich mir die Unabhängigkeit, politisch zu intervenieren - zum Beispiel, wenn wir den Eindruck haben, dass mal wieder auf dem Rücken von realen Menschen 'Gypsy Business' gemacht wird, Lehrerstellen für Integrationsklassen nicht besetzt werden oder eben eine Anlaufstelle für Roma ohne die Selbstorganisationen gegründet werden soll."
Hamze Bytyci sagt, er habe sich noch nie in ein Klischee einpassen wollen: "Als ich in Freiburg zum ersten Mal in einem Roma-Märchenstück am Theater auf der kleinen Bühne spielen sollte, hab ich gesagt: Damit wollen wir auf die große Bühne - und da waren wir dann auch." Er habe mehr als zwanzig Jahre seines Lebens in Deutschland verbracht, sagt der Vater eines vierjährigen Sohnes, und irgendwann "sollte ich das Recht haben, mich als Deutscher zu fühlen, auch wenn mein Pass mich immer noch als Kosovare ausweist - ich habe kein anderes Zuhause." Dieses Recht will er gemeinsam mit anderen für alle Betroffenen erkämpfen, dabei Filme und Theaterstücke machen und für ehrenamtliches Engagement in der eigenen Community werben.