Einleitung
Während die Europäische Kommission ihren Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 vorstellt, während unter der Ratspräsidentschaft Ungarns hochrangige Konferenzen zur Umsetzung eben dieser Strategien veranstaltet werden, marschieren zur selben Zeit rechtsextreme, gewaltbereite "Garden" und militante "Bürgerwehren" in Städten und Gemeinden auf, die Rassenhass gegen Roma propagieren, wie aktuell im ungarischen Gyöngyöspata.
Die Mitteilung der Europäischen Kommission eines EU-Rahmens für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020
Mit dem Beginn der letzten beiden EU-Erweiterungen war die Frage der Minderheiten erneut virulent geworden, nicht zuletzt wegen der Zahl der Roma in den neuen Beitrittsländern und deren befürchteter Migrationen gen Westeuropa. Der Schutz von Minderheiten überhaupt und die seit dem Beginn der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) erstmals in Kopenhagen 1990 ausdrücklich erwähnte Situation der Roma wurde für die EU im Laufe der Beitrittsverhandlungen zu einem Beitrittskriterium. In den Beitrittsverhandlungen für 2004 und zuletzt mit Bulgarien und Rumänien wurden Minderheitenrechte eingefordert, die innerhalb der EU nicht selbstverständlich sind: Frankreich, Belgien und Griechenland haben die einschlägigen Konventionen des Europarates nicht unterschrieben oder gar ratifiziert.
Es besteht die paradoxe Situation, dass einerseits in den meisten neuen Mitgliedstaaten ein formal weitaus besserer Schutz vor Diskriminierung besteht als in einigen der alten EU-Staaten und gleichzeitig Roma in den neuen Mitgliedstaaten massiver Diskriminierung und gewaltbereitem Rassismus ausgesetzt sind. Die Zwiespältigkeit der EU in Minderheitenfragen wird auch an anderer Stelle deutlich: Das Beispiel Kosovo zeigt, dass die EU-Minderheitenrechte nicht konsequent verfolgt und gegebenenfalls schlicht ignoriert werden. Vor dem Krieg lebten im Kosovo rund 120000 Roma, Ashkali und Kosovo-Ägypter, der Anteil der verschiedenen Minderheitengruppen lag bei zwölf Prozent. Heute leben nur wenige tausend Roma im Kosovo, der Minderheitenanteil liegt bei nur noch fünf Prozent. Bei den Verhandlungen über den künftigen Status des Kosovo blieben Roma ebenso wie andere Minderheitenvertreter ausgeschlossen.
Die Aufforderung der Europäischen Kommission an die Mitgliedstaaten, nationale Strategien endlich umzusetzen, ist auch ein Erfolg jahrzehntelanger Bürgerrechtsarbeit. Im KSZE-Abschlussdokument von Kopenhagen wurde 1990 erstmals in einem internationalen Dokument die Lage der Roma in einem besonderen Abschnitt erwähnt, nicht zuletzt aufgrund der intensiven Lobbyarbeit einzelner Roma-Vertreter. In der Folge wurde das Thema Roma ständiger Tagesordnungspunkt auf den Human Dimension Conferences der KSZE wie der späteren OSZE. Unter dem Dach der Organisation for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR) wurde 1994 der Contact Point on Roma and Sinti Issues (CPRSI) eingerichtet, der seitdem in der OSZE-Region in allen Politikfeldern, die Roma betreffen, aktiv ist. Bereits 2003 wurde ein umfangreiches Dokument, der Action Plan on Improving the Situation of Roma and Sinti Within the OSCE Area, beschlossen.
Der Europarat beschäftigt sich bereits seit den 1970er Jahren mit der Lage von Roma. In den 1990er Jahren wurde eine Expertenkommission
Roma als nationale Minderheiten
Die neuen und die ganz neuen Mitgliedstaaten der EU haben während und nach der EU-Erweiterung eine formale Einbindung von Minderheiten erreicht, die über dem Standard der meisten westeuropäischen Mitgliedstaaten liegt. Rumänien etwa garantiert den Minderheitenparteien mindestens einen Vertreter im Parlament; seit einigen Jahren gibt es an den Universitäten Quoten für Roma-Studenten in bestimmten Fächern (z.B. Pädagogik, Sozialpädagogik, Jura), um die Zahl der Roma-Akademiker zu erhöhen. Fast alle Regierungen der neuen Mitgliedstaaten haben auf Regierungsebene Gremien für die Beteiligung von Minderheiten geschaffen und entsprechende Strategien und Aktionspläne zur Verbesserung der Situation von Roma entwickelt.
Innerhalb der EU leben knapp 6,2 Millionen Roma, in Europa über elf Millionen; sie bilden damit eine der größten Minderheiten.
Unabhängig von den verschiedenen Ansätzen und Methoden beschreiben nationale und internationale Studien die Lage von Roma in Europa, besonders in den Beitrittsländern als desolat. Einige Studien warnen eindringlich vor der Gefahr, dass eine weitere Marginalisierung der Roma die soziale Desintegration ganzer nationaler Gesellschaften und massive Migrationen nach Westeuropa zur Folge haben können.
Damit sind die Zivilgesellschaften wie die Roma-Verbände mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert: Zum einen geht es um die Anerkennung ihrer Minderheitenrechte, zum anderen um die Durchsetzung ihrer sozialen Rechte. Doch bis zu welchem Grad sind Minderheitenrechte eine produktive Kraft in der Entwicklung von Minderheitengruppen? Minderheitenrechte werden in der Regel als "anti-negative Rechte" (Richard Hauser) eingefordert; die Frage ist, wie kann ein positiver Prozess der Teilhabe ermöglicht werden? Anders gefragt: Wie kann eine europäische Rahmenvorgabe via nationale Strategien tatsächlich umgesetzt werden?
Roma in Bulgarien
Die Lage der Roma in Bulgarien zeigt diese Problematik stellvertretend für eine Reihe von neuen Mitgliedstaaten auf. Besonders die Ansätze im schulischen Bereich belegen wie mühsam der Weg zu einer tatsächlichen Verbesserung der Situation ist.
In Bulgarien leben dem letzten Zensus nach 392000 Roma unter einer Bevölkerung von knapp acht Millionen Menschen - verlässliche Schätzungen gehen von einer Roma-Bevölkerung von etwa 700000 Menschen aus.
Die Schulen in den Roma-Vierteln sind heute oft in höchstem Maße vernachlässigt, sie sind schlecht ausgestattet, mit wenig qualifizierten Lehrern und in miserablem baulichem Zustand. Kinder von diesen Schulen haben keine Aussicht auf dem Arbeitsmarkt, es sei denn, als ungelernte Arbeiter. Die Rate von Schulabgängern ist hoch, und Analphabetismus unter jungen Roma nimmt rapide zu. Es gibt indes Beispiele, die zeigen, dass Roma ihre Chancen nutzen können: In Kavarna, einer kleinen Stadt an der Schwarzmeerküste, gibt es eine Roma-Gemeinschaft, die neben kleinen Hotels auch Unterkünfte in Privatwohnungen anbietet - innerhalb der dortigen Mahala. Diese Angebote werden von Touristen genutzt, die entweder keine Berührungsängste mit Roma haben oder schlicht nicht wissen, dass es sich um ein Roma-Viertel in der Stadt handelt. Bulgaren jedenfalls stellen häufig mit Erstaunen fest, dass europäische Touristen dort buchen. Inzwischen verfügt dieses Stadtviertel über die gleiche Infrastruktur wie die anderen Stadtteile, und die lokale Verwaltung und insbesondere der Bürgermeister unterstützen die weitere Entwicklung der Region.
In einer Vielzahl von Dörfern siedeln sich seit einiger Zeit Roma an, die dort preiswert Häuser und Land kaufen können (die Landflucht in Bulgarien ist massiv, der Zuzug nach Sofia und in andere Großstädte ungebrochen). Während anfangs die lokale Bevölkerung eher zurückhaltend war, sind jetzt positive Beziehungen entstanden, zum Beispiel schlicht dadurch, dass Kinder aus Roma-Familien in die lokalen Schulen gehen und so überhaupt den Fortbestand dieser Schulen ermöglichen, die sonst wegen der zu geringen Kinderzahl geschlossen würden. Die Schulen in Roma-Nachbarschaften haben oft einen Anteil von Roma-Kindern, der bei 100 Prozent liegt. Das Open Society Institute gab für 2001 die Zahl von 419 Schulen an,
Neben der Segregation in Form von Roma-Schulen gibt es andere Formen, vor allen Dingen die Einschulung von Roma-Kindern in Schulen für geistig oder körperlich Behinderte, oder die Abordnung in besondere Klassen für Lernbehinderte innerhalb der regulären Schulen; häufig gibt es Roma-Klassen innerhalb der regulären Schulen. In der Praxis bedeutet Desegregation: Roma-Kinder, die an den Programmen teilnehmen, werden mit Bussen zu integrierten Schulen gebracht, die oft weit von den Roma-Vierteln entfernt sind. Es gibt leider kaum eine längerfristige Untersuchung über die Bildungskarrieren von Kindern in Desegregationsprogrammen. Evaluationen von laufenden Programmen sind oft eher freundlich. In die integrierten Schulen sollen nicht mehr als 30 Prozent Roma-Kinder eingeschult beziehungsweise aufgenommen werden.
Desegregationsprojekte finden gegenwärtig in einer Reihe von Städten in Bulgarien statt, nach wie vor wesentlich getragen von Nichtregierungsorganisationen. Damit sind gleichzeitig die Gemeinden als Schulträger davon entlastet, eigene Konzepte zur Schulentwicklung zu produzieren; die Projekte dienen oft als Beleg für das lokale Bemühen um Integration von Roma. Dabei können Desegregationsprojekte beliebig lange neben segregierten Schulen bestehen, offensichtlich ein System, von dem beide profitieren: das Schulsystem mit den lokalen und nationalen Trägern, die ihr Bemühen um Desegregation, wie von der EU und den politisch im Vordergrund stehenden Roma-Organisationen eingefordert, nachweisen können, und ebenso die lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen (Civil Society Organizations/CSO) der Roma, die langfristig mit Zuwendungen internationaler Organisationen wie dem Roma Education Fund oder jetzt zunehmend des Strukturfonds rechnen können.
Bislang richtet sich nur ein Desegregationsprojekt dezidiert an Kinder aus Schulen für Lernbehinderte in Normalschulen (Veliko Tarnovo); fast alle anderen arbeiten nur mit Schulen in Roma-Vierteln. Auch im ältesten Desegregationsprogramm in Vidin, das im September 2000 begonnen wurde, sind keine Kinder aus den Sonderschulen für geistig oder körperlich benachteiligte Kinder involviert: "There are no registered cases of transfer of Roma children from the special school to the mainstream schooling system in Vidin."
Daraus ergeben sich eine Reihe von Fragen, die bislang nicht hinreichend beantwortet sind. Die Erfolge der Projekte sind nicht messbar, oder es bleibt unklar, welche Kriterien für die Messung von Erfolg angewendet werden.
Unklar bleibt nicht zuletzt, was die intendierte Schließung von Roma-Schulen für die jeweiligen Stadtviertel bedeutet: den Abbau von weiterer Infrastruktur etwa, verbunden mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und einem Zentrum der Gemeinde. Mit der systematischen Vernachlässigung der Schulen in Roma-Vierteln, die mit der Begründung von notwendiger Desegregation fortgesetzt wird, läuft die Gefahr einher, genau das zu produzieren, was als Ursache der desolaten Schulsituation immer wieder beschrieben wird, nämlich die Intensivierung einer ethnischen Segregation, die das Wohnen und die Ausbildung umfasst.
Wenngleich die Ergebnisse von westeuropäischen Studien nicht ohne Weiteres übertragbar sind auf die besondere Lage der Roma in Südosteuropa und speziell in Bulgarien, so zeigen Untersuchungen aus Deutschland,
Grenzen des Minderheitenrechts
Allen Erziehungsprojekten der Moderne, seien sie auf Roma gerichtet oder nicht, war die Disziplinierung des Subjekts, die Zurichtung des Menschen auf die Anforderungen der modernen Arbeitswelt gemeinsam. Dies galt für die Projekte des Sozialismus, und dies gilt ebenso für die der aktuellen Zivilgesellschaft. Erziehung gilt gemeinhin als Kern der Zivilgesellschaft; Schule gilt als Voraussetzung für Selbstorganisation und Teilhabe. Die Anforderung an Roma lautet in der Regel, dass sie ihre vermeintliche Lebensform aufzugeben und sich der modernen Gesellschaft anzupassen hätten.
Diese Haltung findet sich auch in der aktuellen Diskussion über die Rahmenvorgabe der Europäischen Kommission ebenso wie in der Roma-Dekade: "There is a prevailing understanding among Bulgarians that Roma should not be confined to separate ghettos on the outskirts of urban and rural communities, inside which those traits and traditions, which hold back their social advancement, keep reproducing."
Damit komme ich zurück auf die eingangs gestellte Frage nach den Grenzen des Minderheitenrechts: die Annahme nämlich, dass Gerechtigkeit hergestellt werden könne durch normative Aktionen, durch das Einklagen von Nicht-Diskriminierung. Die vielfältigen Analysen der benachteiligten Situation von Roma bestätigen einerseits immer wieder den Befund (in anderen Worten, sich selbst), tragen aber kaum zur Verbesserung der Situation bei
Für die Minderheiten bedeutet das, dass zwar einerseits Minderheitenrechte ohne Zweifel unerlässlich notwendig sind, aber eben keineswegs hinreichend, um die oft desolate Lage von Roma-Gruppen nachhaltig zu verbessern. Es wird Aufgabe der Roma-Organisationen selbst ebenso wie die der Politik und der Zivilgesellschaft sein, Konzepte zu entwickeln, die Minderheiten in die Entwicklung der Gesamtgesellschaft systematisch einbinden. Die Europäische Kommission verfügt mit ihrer grundsätzlich auf mainstreaming ausgerichteten Politik gegenüber Minderheiten durchaus über Fördermöglichkeiten.