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Grauzonen moderner Korruption | Korruption | bpb.de

Korruption Editorial Kleine Geschichte der Korruption Politik, ein schmutziges Geschäft? Korruption als Gegenstand der politischen Bildung Grauzonen moderner Korruption. Normative und soziale Bedingungen von Handlungen an der Grenze zu korruptem Verhalten Korruption und Antikorruption in Politik und Verwaltung Folgen von Korruption für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft Entwicklung, Wirtschaft(swachstum) und internationale Korruptionsbekämpfung Korruption im Sport – auch eine Gefahr für den Sport

Grauzonen moderner Korruption Normative und soziale Bedingungen von Handlungen an der Grenze zu korruptem Verhalten

Peter Graeff

/ 12 Minuten zu lesen

Angenommen, Sie würden auf der Straße von einem TV-Reporter vor laufender Kamera gefragt, ob Ihnen auch positive Seiten von Korruption in den Sinn kommen, was würden Sie antworten?

Vermutlich würde den meisten Befragten zunächst einfallen, dass Korruption nicht nur negativ konnotiert ist, sondern auch einen Straftatbestand darstellt und daher ein Verbrechen ist. Weil das Thema so negativ besetzt ist, könnten einige die Frage für eine Fangfrage halten und glauben, dass man indirekt nach eigenen Korruptionstaten ausgeforscht werden soll. Vermutlich würden aber alle den sozialen Druck spüren, dass man sich bei der Antwort nicht als Befürworter von Korruptionspraktiken darstellen sollte. Empirische Sozialwissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass bei Erhebungen zu dieser Thematik eine hohe "soziale Erwünschtheit" hinsichtlich einer (moralischen) Verurteilung von Korruption besteht. Das kommt daher, dass in Bezug auf Korruption sehr klare Normen bestehen, die sich auch an Strafgesetzestexten festmachen lassen. Diese Normen lehnen korrupte Praktiken ab. Antworten, die mit dieser Ablehnung einhergehen, sind in diesem Sinne sozial erwünscht, solche, die die Ablehnung in Zweifel ziehen, sind sozial unerwünscht.

Die Gesetzesnormen, die Korruption unter Strafe stellen, spiegeln den aktuellen juristischen Rahmen wider, der als korrupt zu nennende Handlungen ahndet. Dieser Rahmen verändert sich über die Zeit. Bisher erlaubte Handlungen werden unter Strafe gestellt, andere verschwinden aus der Liste der Straftaten, was allerdings bisher bei den Korruptionsdelikten in Deutschland weniger der Fall ist. Veränderte gesellschaftliche Perspektiven, neue technologische Entwicklungen, wirtschaftliche Modernisierungen oder eben auch gesamtgesellschaftliche Herausforderungen wie die aktuelle Pandemiesituation bringen neue Möglichkeiten hervor, missbräuchlich eigene Vorteile aus einer Vertrauens- oder Amtsposition zu ziehen. Als Beispiel kann die sogenannte Masken-Affäre der Unionsparteien gelten, in der es um die mögliche Bereicherung bei der Auftragsvergabe von Corona-Schutzmasken geht.

Schaut man in die ökonomische und sozialwissenschaftliche Literatur vor den 1990er Jahren, dann stellt man fest, dass die Einschätzung über die Folgen von Korruption aber nicht so eindeutig negativ war, wie sie sich vom heutigen Standpunkt aus darstellt. Was sind die Argumente, mit denen die damaligen Forschenden die Frage nach den positiven Seiten der Korruption bejaht haben?

Positive Seiten der Korruption

Die soziale Erwünschtheit von theoretischen wie empirischen Aussagen ist kein vorrangiges Kriterium bei deren wissenschaftlicher Beurteilung. Im Gegenteil – neue Perspektiven, die den gängigen theoretischen Vorstellungen widersprechen, gelten im Allgemeinen zunächst als interessant.

Ökonomische und sozialwissenschaftliche Überlegungen haben sich hinsichtlich der positiven Aspekte der Korruption vor allem auf die Überwindung von schlecht funktionierenden bürokratischen Prozessen konzentriert. Bezüglich wirtschaftlicher Modernisierung und Wachstum hat der Politikwissenschaftler Samuel Huntington die Essenz dieser Überlegungen Ende der 1960er Jahre prägnant ausgedrückt: "Das einzige, was vom Standpunkt des wirtschaftlichen Wachstums her schlimmer ist als eine starre, überzentralisierte und betrügerische Regierung, ist eine starre, überzentralisierte und anständige Regierung."

Diese Perspektive impliziert, dass die schädlichen Wirkungen staatlicher, wirtschaftshemmender Eingriffe durch Korruption ausgehebelt werden und damit legalen wirtschaftlichen und administrativen Prozessen überlegen sein können. Aus ökonomischer Sicht stehen bürokratische Vorgänge, die Marktbewegungen stören und mögliche Markgleichgewichte verhindern, auch heute noch mindestens unter dem Verdacht, gesamtgesellschaftliche Ineffizienzen zu produzieren. Verwaltungsprozesse, die wirtschaftliche Tätigkeiten regulieren, gelten als träge und langsam. Daher wurde insbesondere der Beschleunigung administrativer Vorgänge durch Korruptionszahlungen, dem sogenannten Speedmoney, auch nicht unbedingt etwas Schlechtes unterstellt.

Allerdings ergeben sich aus dieser künstlichen Beschleunigung Problematiken, die sowohl für die gesamtgesellschaftlichen Vorgänge als auch den konkreten Einzelfall bedenklich sind. So gehen Speedmoney-Beschleunigungen etwa bei vollen Terminplänen der Verwaltung notwendigerweise zulasten anderer Arbeitsvorgänge, die eigentlich hätten vorgezogen werden müssen. Speedmoney kann auch dazu führen, dass Qualitätsstandards vonseiten der Verwaltung außer Acht gelassen werden. Ohnehin kann sich die gewohnte Durchführung einer Handlung – Sozialwissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von der Normalisierung eines Verhaltens – auf Verwaltungsmitarbeitende in verschiedener Hinsicht negativ auswirken. Das bürokratische Arbeitsverhalten hat sich um eine Einnahmequelle erweitert, die möglicherweise noch attraktiver wird, je langsamer die eigene Verwaltungsarbeit wird. Das erhöht den Wert des Speedmoney und reizt noch mehr zur Bestechung an.

An dieser Stelle in der Argumentation haben die damaligen Forschenden typischerweise den Blick auf nicht-europäische Gesellschaften gerichtet, in denen Regierungen ihre Verwaltungen derart schlecht entlohnten, dass ein Zusatzeinkommen über korrupte Quellen geradezu notwendig erschien. Als Generalisierung dieses Arguments wurde eine zweite positive Seite der Korruption sichtbar, bei der es nicht um die Überwindung von (selbst geschaffenen) Bürokratiehemmnissen ging, sondern um das Überwinden gesamtgesellschaftlicher Negativeinflüsse. Hiermit sind beispielsweise wirtschaftsfeindliche Regierungspolitiken gemeint, die auf eine Verarmung der Bevölkerung hinauslaufen, aber auch menschenrechtswidriges Regierungshandeln.

Ein ökonomisch positiver Effekt könnte entstehen, wenn das durch Korruption zusätzlich erzielte Einkommen zur Kapitalstockbildung in dem betroffenen Land eingesetzt wird. Das würde aber nur dann zutreffen, wenn die korrupten Verwaltungsmitarbeiter dieses Geld im Inland investieren. Dieser mögliche "Vorteil" beruht auf einer Reihe von Bedingungen, die gleichzeitig erfüllt sein müssen. Dazu gehört, dass das Verschieben des Zusatzeinkommens ins Ausland an Kontrollbehörden vorbei mit hohen Transaktionskosten belegt sein muss, und dass man überhaupt bereit ist, im eigenen korrupten Land zu "investieren". Außerdem muss in Rechnung gestellt werden, dass alle Vorschriften, die Zusatzeinkommen ermöglichen, aus Sicht der Verwaltungsmitarbeiter erhalten und geschützt werden müssen. Verwaltungshandeln wird so von dem dahinter liegenden Recht entkoppelt, was für private Wirtschaftssubjekte die Kalkulierbarkeit ihres Handelns verringert. Diese fehlende Abschätzbarkeit schreckt private Investitionen und sonstige wirtschaftliche Tätigkeit möglicherweise mehr ab, als die Kapitalstockerhöhung an Vorteilen gebracht hat.

Auf eine ähnliche Argumentation traf man, wenn es um die Reduktion von schädlichen Wirkungen handelsfeindlicher Regierungen durch Korruption ging. Wenn protektionistische Maßnahmen in großem Umfang eingesetzt werden, um die inländische Wirtschaft gegen internationale Konkurrenz zu schützen, sinkt damit üblicherweise auch der inländische Wettbewerb. Eine korrupte Zollverwaltung kann es Wirtschaftsteilnehmern ermöglichen, diese Hemmnisse zu umgehen, was den inländischen Wettbewerb stimulieren kann. Es ist aber klar, dass eine solche Vorgehensweise nicht effizient sein kann und allenfalls eine "Second-Best-Lösung" darstellt.

Diese damals vor allem ökonomisch geführte Diskussion um die positiven Aspekte von Korruption wird heute nur noch in Einzelfällen fortgeführt. Es gibt noch empirische Studien, die in diesem Sinne argumentieren, vor allem im Zusammenhang mit der Analyse asiatischer und afrikanischer Staaten. Allerdings hat sich die Diskussion vor allem um Menschenrechtsinhalte und damit um ethische Perspektiven erweitert.

Auch hier stehen wieder Negativeinflüsse von Regierungen am Anfang der Argumentationskette. Korruption wird dabei zugetraut, menschenrechtsverachtendes Regierungshandeln aushebeln zu können. Das könnte zum Beispiel für die Abschwächung von Diskriminierungserfahrungen von Minderheiten zutreffen, wenn diese etwa in der Lage sind, Bestechungsgelder aufzubringen und zu zahlen. Vor allem für asiatische Gesellschaften werden solche Beispiele berichtet, etwa, wenn es um Ausreise- oder Migrationsfragen geht. Aus historischer Sicht kommt für Deutschland das Beispiel der jüdischen Bevölkerung während der NS-Zeit in den Sinn, wenn diese sich notgedrungen Erleichterungen von Bürokraten "erkaufen" musste, die ihr von Rechts wegen nicht zugestanden hätten. Doch auch wenn sich hier "Vorteile" der Korruption in ihren Umrissen abzeichnen, dürfen die oftmals damit einhergehenden Nachteile nicht unerwähnt bleiben. Dazu gehören das geschmälerte Ansehen der Bürokraten und der Minderheiten bei der Mehrheitsbevölkerung und die damit auftretenden Verdächtigungen der korrupten Kollaboration. Wenn diese dann aufgedeckt und juristisch und medial aufgearbeitet werden, können Feindbilder verfestigt und auch neue geschaffen werden.

Fasst man die unterstellten Vorteile zusammen, dann wurde für diese oft angenommen, dass Korruption den Handlungsspielraum von privaten, wirtschaftlichen oder administrativen Akteuren (unter sehr eingeschränkten Bedingungen) erhöht und auf diese Weise einen "informellen Puffer" zwischen verschiedenen Sektoren einer Gesellschaft schaffen kann. Solche zum Teil recht abstrakten theoretischen Vorstellungen führten dann bei der Beurteilung der Folgewirkungen von Korruption dazu, dass zumindest ein ambivalentes Urteil gefällt wurde, das sowohl negative als auch positive Effekte denkbar machte.

Akzentverschiebungen in der Forschung

Neuere empirische Daten, die ab der Mitte der 1990er Jahre verfügbar wurden, führten zu einer Zäsur in der Korruptionsforschung. Die empirischen Resultate sprachen deutlich stärker für die negativen Folgen von Korruption; die Summe der Veröffentlichungen zeigte, dass Korruption negative gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Auswirkungen hat. Zur etwa gleichen Zeit wurden in Deutschland in der Strafgesetzgebung einige Änderungen für Korruptionsdelikte vorgenommen. Neue Strafdelikte kamen hinzu, wie beispielsweise 1994 der Tatbestand der "Abgeordnetenbestechung". 2012 wurde das Gesetz zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen verabschiedet. Das Thema Korruption rückte zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit und wurde auch in der Arbeit von Administrationen und Wirtschaftsunternehmen stärker berücksichtigt. Damit wurden aber auch jene Normen gestärkt, die Fragen und Antworten zum Thema Korruption mit einem höheren Grad an sozialer Erwünschtheit versehen.

Aus heutigem Blickwinkel würde man also über die Frage nach den positiven Seiten der Korruption sowohl aus wissenschaftlicher wie aus (westlicher) Alltagssicht eher irritiert sein. Leser, die begründete Meinungen über die schädlichen Auswirkungen von Korruption haben, würden möglicherweise unterstellen, dass die Frage nach möglichen positiven Effekten der Korruption die Suche nach Gründen für die Beschönigung eines negativen sozialen Phänomens zum Ziel habe.

Die Forschungen der vergangenen beiden Jahrzehnte gehen allerdings von dieser dichotomen Positiv-negativ-Kategorisierung der Folgen beziehungsweise der Effekte von Korruption weg und versuchen eher, die Grauzonen gesellschaftlicher Handlungen zu beleuchten, bei denen die Grenzen zu korruptem Verhalten unscharf werden. Aus der Suche nach positiven Effekten von Korruption ist eher das Nachspüren nach positiven sozialen Elementen innerhalb eines an sich klar negativen Phänomens geworden.

Grauzonen der Korruption

Grauzonen der Korruption werden seit der Jahrtausendwende vor allem in der politikwissenschaftlichen Literatur behandelt. Das liegt nahe, weil die Grenzen zwischen der legitimen Vertretung von Partikularinteressen (etwa im Rahmen von Lobbyismus) und illegitimen Praktiken (für die es etwa noch keine juristische Handhabe gibt) oftmals fließend sind, insbesondere dort, wo eine Nachverfolgung oder ein Bekanntwerden dieser Schritte unwahrscheinlich ist.

Da Korruption notwendigerweise etwas mit der Durchsetzung von Partikularinteressen auf Kosten allgemeiner Interessen zu tun hat, sind Politiker beziehungsweise politische Vertreter, die mehrere, manchmal widerstreitende Partikularinteressen bündeln müssen – und dafür oftmals mit Nebentätigkeitsvergütungen entlohnt werden –, potenziell in der Lage, Grenzen zu überschreiten. Es gibt zwar inzwischen in vielen politischen Bereichen Ethikcodizes und Verhaltensregeln. Inwiefern diese greifen, hängt aber auch von sozialen Bedingungen ab. Neben den Grauzonen, die sich bei politischen Tätigkeiten zwangsläufig ergeben, gibt es auch eine soziale Logik, die korruptionsverschärfend wirken kann.

Die Grauzonen sind, zuweilen juristisch abgesichert, im politischen System selbst eingebaut. Der Gesetzgeber zum Beispiel lässt angesichts komplexer und komplizierter Sachverhalte, etwa der Ausgestaltung des Kostenabrechnungssystems im Gesundheitswesen, mitunter Partikularinteressen auf Kosten universalistischer Interessen zum Zuge kommen, sichert diese gegen eine öffentliche Diskussion und Adjustierung ab und immunisiert diese Grauzonen so. Auch die Beeinflussung der medialen Darstellung der Sachverhalte in Zeitungen oder Internetforen kann zur Immunisierung beitragen.

Wie sich korruptive Begünstigungen in der Phase des Gesetzgebungsverfahrens verhindern ließen, wird schon seit geraumer Zeit in staatswissenschaftlichen und ökonomischen Kontexten mit Blick auf legale (wie etwa dem sogenannten Rent-Seeking) oder illegale Vorgehensweisen (wie Betrug) diskutiert. Eine weitere wichtige Frage ist, wer bei korruptionseinschränkenden Maßnahmen eigentlich die Kontrolleure kontrolliert: Korruptionskontrollinstanzen sind naturgemäß ein hervorragendes Ziel für korrupte Angebote. Hinzu kommt, dass Maßnahmen gegen Korruption auch (meist unintendierte) Nachteile haben können, die die positiven Effekte der Korruptionsbekämpfung überwiegen.

In den vergangenen zehn Jahren wurde eine weitere – eine soziale – Grauzone immer wichtiger in der Korruptionsforschung. Diese schaut vermehrt mit einem veränderten Blick auf das Entscheidungsverhalten potenziell korrupter Akteure. Während in vielen Studien die Entscheidung für oder gegen eine korrupte Handlung mit der Entscheidung für oder gegen legales Verhalten gleichgesetzt wurde, betrachtet diese Literatur diese Entscheidung eher als eine Wahl zwischen Loyalität (zu bekannten Anderen) und Fairness (gegenüber fremden Anderen). Damit folgt sie einer anderen sozialen Logik, weil sowohl Loyalität als auch Fairness positiv konnotiert sind. Nach dieser Logik ist die Rechtfertigung für korrupte Entscheidungen zentral, daher wurde sie auch insbesondere für die Erklärung von Whistleblowing, also dem Anzeigen korrupter Taten Anderer, herangezogen. Folgt man dieser Literatur, dann befinden sich Whistleblower in dem Dilemma, die eigene Gruppe oder einzelne Gruppenmitglieder anzuschwärzen und damit den allgemeinen Gesetzen zu folgen, oder die Verstöße nicht anzuzeigen und damit Gruppeninteressen beziehungsweise das Interesse eines Gruppenmitglieds "gruppenloyal" zu schützen.

Wenn also in einer Arbeitsgruppe (etwa in einem Ministerium oder einem Wirtschaftsunternehmen) das korrupte Fehlverhalten eines Mitglieds durch einen Whistleblower aufgedeckt werden könnte, stehen die Funktionen allgemeiner Normen den Funktionen gruppenspezifischer Normen (wie Gruppenloyalität) entgegen. Allgemeine Normen und Gesetze ermöglichen die Bildung und Aufrechterhaltung einer "sozialen Ordnung" und geben Orientierung, wer sich innerhalb dieser Ordnung als fair oder kooperativ gegenüber der Allgemeinheit verhält – sofern nicht die zuvor beschriebenen Probleme der Korruption auf Gesetzgeberebene existieren. Allgemeine Normen und Gesetze motivieren gesellschaftlich kooperatives Verhalten über Gruppen hinweg. Gruppenspezifische Normen, wie beispielsweise Loyalitätsnormen gegenüber anderen in der Gruppe, dienen dem Erhalt und dem Schutz der Gruppe und führen zu einer hohen Binnenkohäsion. In Arbeitsgruppen wird damit die Loyalität gegenüber den Leitungspersonen und deren Autorität gesteigert. Auch erhöht sich auf diese Weise der Konflikt zwischen Gruppen (etwa in Wettbewerbssituationen). Da gruppenbezogene Normen wie Loyalität zu anderen Gruppenmitgliedern partikularistisch ausgerichtet sind und im Kontrast zu universalistischen Normen wie Gesetzen stehen können, können diese zu einer höheren Korruptionsanfälligkeit beitragen. Sie können aber auch dazu führen, dass begangene Korruptionstaten "unter den Teppich gekehrt" werden, dass also die Gruppenmitglieder einem "code of silence" folgen.

Folgerungen

Die theoretischen wie empirischen Forschungen zu dieser Perspektive auf Korruption legen einige Empfehlungen für die Eindämmung von Korruption in Administrationen und Wirtschaftsunternehmen nahe. Die Stärkung gruppenbezogener Normen wie Loyalität schafft günstige Bedingungen für korrupte und gruppendeviante Handlungen in Arbeitsgruppen. Daher müssen Organisationen und Unternehmen solche gruppenunabhängigen Normen betonen, bei denen klar wird, wie wichtig sie für die Gesamtorganisation sind.

Arbeitsgruppenverhalten sollte sich also an der Verantwortung für die Gesamtorganisation orientieren, was unmittelbar die Frage aufwirft, was passiert, wenn Korruption einzelner Mitarbeiter oder einzelner Gruppen auch der Gesamtorganisation nutzt, zum Beispiel, weil dadurch Aufträge für das Unternehmen gewonnen werden. Die Diskussion um solche Fragen ist noch längst nicht abgeschlossen. Die Debatte orientiert sich aber nicht mehr wie früher an Kategorien wie richtig-falsch, legal-illegal oder gut-böse. Vielmehr werden jetzt die moralischen Positionen, die sich zuweilen alle rechtfertigen lassen, gegeneinander abgewogen.

In diesem Zusammenhang haben Experimente gezeigt, dass die moralische Rechtfertigung für das Melden oder Verschweigen von Korruptionstaten nicht nur in und gegenüber Gruppen bedeutsam ist. Vielmehr spielt es auch für die Beurteilung und das Rechtfertigen des eigenen Verhaltens eine Rolle. So konnte gezeigt werden, dass Individuen ihre moralischen Standards bei anderen höher ansetzen als bei sich selbst – sie sind "moralische Heuchler, die moralische Werte verfechten, wenn sie über andere urteilen, während sie diese aktiv ignorieren, wenn es um ihre Eigeninteressen geht". Dieses Ergebnis passt auch zu der sozialen Erwünschtheit, mit der man auf Fragen nach den positiven Seiten von Korruption antworten würde. Und es verweist darauf, dass viele Grauzonen korrupter Aktivitäten aus sozialen Vorgängen entstehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Samuel P. Huntington, Political Order in Changing Societies, New Haven 1968, S. 69.

  2. Vgl. Blake E. Ashforth/Vikas Anand, The Normalization of Corruption in Organizations, in: Research in Organizational Behavior 25/2003, S. 1–52.

  3. Neuere derartige Studien sind fast ausschließlich ländervergleichender Natur. Siehe z.B. Razvan Hoinaru et al., The Impact of Corruption and Shadow Economy on the Economic and Sustainable Development. Do They "Sand the Wheels" or "Grease the Wheels"?, in: Sustainability 12/2020, S. 481–498.

  4. Vgl. Bo Rothstein/Aiysha Varraich, Making Sense of Corruption, Cambridge 2018.

  5. Vgl. Neil J. Smelser, Stabilität, Instabilität und die Analyse der politischen Korruption, in: Christian Fleck/Helmut Kuzmics (Hrsg.), Korruption. Zur Soziologie nicht immer abweichenden Verhaltens, Königstein/Ts. 1985, S. 202–228.

  6. Für den deutschsprachigen Raum gibt es eine Vielzahl von Veröffentlichungen, die sich dieser Thematik annehmen. Vgl. z.B. Ekkehard Darge, Korruption in der Bundespolitik Deutschlands. Fälle und Bekämpfungsstrategien, Oldenburg 2009.

  7. "Rent-Seeking" bezeichnet den Versuch, durch Einflussnahme auf politische Entscheidungen dauerhafte Vorteile und Privilegien zu erlangen. Vgl. Anne O. Krueger, The Political Economy of the Rent-Seeking Society, in: American Economic Review 3/1974, S. 291–303.

  8. Vgl. Carolyn M. Warner, Institutionen der Korruption oder Korruption der Institutionen? Betrug in der Europäischen Union, in: Jahrbuch für Europa- und Nordamerika-Studien 3/1999, S. 225–250.

  9. Für eine Gegenüberstellung dieser Vor- und Nachteile vgl. Sebastian Wolf/Sabine Fütterer, Politikwissenschaftliche Korruptionsforschung, in: Peter Graeff/Tanja Rabl (Hrsg.), Was ist Korruption? Begriffe, Grundlagen und Perspektiven gesellschaftswissenschaftlicher Korruptionsforschung, Baden-Baden 20192, S. 103–122.

  10. Vgl. Julia Kleinewiese/Peter Graeff, Ethical Decisions between the Conflicting Priorities of Legality and Group Loyalty: Scrutinizing the "Code of Silence" among Volunteer Firefighters with a Vignette-Based Factorial Survey, in: Deviant Behavior 2020, DOI: 10.1080/01639625.2020.1738640.

  11. Vgl. James Dungan/Adam Waytz/Liane Young, Corruption in the Context of Moral Trade-offs, in: Journal of Interdisciplinary Economics 1–2/2014, S. 97–118.

  12. Vgl. Jonathan Pinto, Organizational Corruption: Its Characteristics, Antecedents, and Consequences, in: Graeff/Rabl (Anm. 9), S. 59–76.

  13. Dungan/Waytz/Young (Anm. 11), S. 98.

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ist Professor für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. E-Mail Link: pgraeff@soziologie.uni-kiel.de