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Belarus zwischen der EU und Russland: Ende der Schaukelpolitik | Belarus | bpb.de

Belarus Editorial Im dunkelsten Belarus Belarus? Uns doch egal! Eine Polemik Lukaschenka forever? Belarussischer Autoritarismus Planwirtschaft mit marktwirtschaftlichen Elementen Opposition und Zivilgesellschaft in Belarus Belarus zwischen der EU und Russland: Ende der Schaukelpolitik

Belarus zwischen der EU und Russland: Ende der Schaukelpolitik

Jörg Forbrig

/ 13 Minuten zu lesen

Nach der Präsidentschaftswahl 2010 ist Belarus im Westen erneut isoliert und in völliger Abhängigkeit von seinem östlichen Nachbarn. Damit endet eine lange erfolgreiche Schaukelpolitik.

Einleitung

Kaum ein Ereignis hat die spannungsgeladene Positionierung von Belarus zwischen der Europäischen Union (EU) und Russland so deutlich gemacht wie die Präsidentschaftswahl vom 19. Dezember 2010. Zwar unterschieden sich Abstimmung und Ergebnis nicht wesentlich von jenen in den Jahren 2001 und 2006: Die Wahl wurde von der OSZE als nicht-demokratisch eingestuft und war lediglich Ritual für die Verlängerung der autoritären Herrschaft von Aljaksandr Lukaschenka. Gleichwohl gab es vor und nach der Wahl wesentliche Entwicklungen, die veränderten Beziehungen von Belarus mit seinen großen Nachbarn im Osten und Westen geschuldet sind.

Im Verhältnis zu Russland wurden zunehmende Spannungen deutlich, als Moskau seinen politischen und wirtschaftlichen Druck auf Minsk verstärkte und das zerrüttete Verhältnis zwischen beiden Seiten offen zutage trat. Gegenüber der EU indes schienen die lange eingefrorenen politischen Beziehungen aufzutauen, begleitet von einer scheinbaren Liberalisierung der belarussischen Diktatur. Diese aus westlicher Sicht hoffnungsvolle Entwicklung fand mit der Wahl ein jähes Ende. Der unglaubwürdige Wahlsieg Lukaschenkas und die brutale Niederschlagung friedlicher Massenproteste haben gezeigt, dass Lukaschenka keineswegs gewillt ist, seine Macht durch demokratische Verfahren infrage stellen zu lassen.

Seitens der EU war die Reaktion auf diese Wende zum Schlechteren schnell und eindeutig. Die Unterstützung für die demokratische Bewegung in Belarus wurde ausgeweitet, und zunehmend wird der Ruf nach wirtschaftlichen Sanktionen laut. In jeglicher Hinsicht befinden sich die Beziehungen in einer neuen Eiszeit. Der Bruch mit dem Westen verstärkte die belarussische Abhängigkeit von Russland. Moskau ist sich seines gestiegenen Einflusses bewusst und drängt nun darauf, seine Interessen in Belarus durchzusetzen, vor allem die stärkere Einbindung in die russische Einflusssphäre und die Übernahme strategischer Wirtschaftszweige durch russisches Kapital. Dies weckt Befürchtungen, dass die staatliche Souveränität von Belarus einmal mehr gefährdet ist.

Gesellschaft auf Identitätssuche

Seit der Machtübernahme Lukaschenkas 1994 hat sich Belarus von einer Demokratie im Anfangsstadium zu einem autoritären Regime zurückentwickelt. Dieses ist auf den Präsidenten zugeschnitten, dem sämtliche Staatsinstitutionen untergeordnet sind, der die letzte Planwirtschaft Europas führt und seine Bevölkerung über monopolistische Staatsmedien beeinflusst.

Als die Republik Belarus vor 20 Jahren entstand, gab es kaum positive Anknüpfungspunkte für eigenständige Institutionen und Identitäten. Ein Erbe politischer Unabhängigkeit fand sich zwar im Großfürstentum Litauen (14. Jahrhundert) und seiner belarussischen Amtssprache, lag aber zu weit in der Vergangenheit, um für das postsowjetische Belarus konstitutiv zu wirken. Ähnliches gilt für die belarussische Nationalbewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand und in die Republik von 1918 mündete, die jedoch schon ein Jahr später von der Sowjetmacht ersetzt wurde. So waren es vor allem Negativerfahrungen, die am Beginn einer eigenständigen belarussischen Identität standen, so die jahrhundertelange Unterwerfung durch größere Nachbarn aus West wie Ost im polnisch-litauischen Staatsverband, dem russischen Zarenreich, schließlich in der Sowjetunion. Letztere verbindet sich mit dem Stalin'schen Terror, dem fast die gesamte gesellschaftliche Elite zum Opfer fiel. Noch stärker im Bewusstsein verankert ist der Zweite Weltkrieg, in dem ein Viertel der Bevölkerung umkam. Schließlich prägt die nukleare Tragödie im ukrainischen Tschernobyl bis heute das Leben in Belarus.

Aus dieser leidvollen Geschichte ergibt sich vor allem ein Bedürfnis nach Stabilität, das von Lukaschenka lange befriedigt wurde. Ihm wird angerechnet, dass es weder zum hemmungslosen Oligarchenkapitalismus Russlands noch zum politischen Chaos der Ukraine, nicht zu den gewalttätigen Konflikten des Kaukasus und nicht zu den schmerzhaften Reformen der neuen EU-Mitgliedsländer gekommen ist. Verstärkt durch staatliche Propaganda erschien vielen das "belarussische Modell" als schmerzfreie Alternative, die Lukaschenka breite Unterstützung eintrug.

Eint dieses Stabilitätsdenken die belarussische Gesellschaft, so spaltet sie die Position des Landes zwischen West und Ost. So stilisieren viele nationalorientierte Belarussen die Zwischenkriegszeit, als der Westen des Landes zu Polen gehörte, zur Blütezeit der belarussischen Kultur und argumentieren für eine Westbindung des Landes. Andere betonen, dass erst die Sowjetzeit das Land modernisiert habe, eine enge Anbindung an Russland daher geraten sei. So ergab das Meinungsbild der Belarussen lange keine eindeutigen Präferenzen. Im Jahr 2006 plädierten nur 31,5% der Belarussen für einen Beitritt des Landes zur EU, während 49,2% diesen ablehnten. Diese geopolitischen Orientierungen unterlagen aber in den vergangenen Jahren einer deutlichen Dynamik, wie die Ergebnisse derselben Meinungsumfrage vom März 2011 zeigen. Jetzt unterstützen bereits 48,6% der Belarussen eine EU-Mitgliedschaft, bei 30,5% Ablehnung. Es ist also zu einer deutlichen Europäisierung der öffentlichen Meinung in Belarus gekommen.

Russlands zunehmender Einfluss

Als Russland und Belarus, gemeinsam mit der Ukraine, im Jahre 1991 die Auflösung der Sowjetunion beschlossen, begann für beide Länder nach über 200-jähriger Zusammengehörigkeit eine selbstständige Entwicklung. Dennoch blieben sie eng miteinander verflochten, vor allem auf gesellschaftlicher Ebene, aber auch wirtschaftlich durch Belarus' Transitlage für russische Energielieferungen nach Westen und Russlands Position als Hauptabsatzmarkt für belarussische Exporte. Vor diesem Hintergrund entwickelten sich die politischen Beziehungen über mehrere Phasen. Belarus durchlebte zunächst eine kurze Phase der demokratischen Entwicklung und Öffnung gegenüber dem Westen, die aber bereits 1994 mit der Wahl Lukaschenkas zum Staatspräsidenten ihr Ende fand. Russland hingegen durchlief unter der Führung von Boris Jelzin eine Phase relativer Offenheit. Diese Demokratie der frühen Jahre war aber von massiven gesellschaftlichen Verwerfungen, Rechtlosigkeit, "Turbokapitalismus" und Schwäche auf internationalem Parkett gekennzeichnet, die es Russland erschwerten, seiner Nachbarschaft größere Aufmerksamkeit zu schenken. So blieben die Beziehungen eher formlos, abgesehen von der halbherzigen Gründung eines Unionsstaates im Jahre 1995, der bis heute ein Schattendasein führt. Dieses lose politische Verhältnis erfuhr erst mit dem Amtsantritt von Wladimir Putin im Jahre 2000 eine neue Dynamik. Dieser verabschiedete sich vom liberalen Entwicklungskurs des Landes, erneuerte die Macht der Zentralregierung, wandte sich gegen die Wirtschaftsmacht der Oligarchen und knüpfte verstärkt an die sowjetische Vergangenheit an. Im Innern glich sich Russland zusehends dem Autoritarismus Lukaschenkas an. Nach außen trat es mit neuem Selbstbewusstsein auf, das auf einer kritischeren Haltung gegenüber dem Westen fußte und sich aus seiner Bedeutung als Energielieferant speiste, vor allem aber eine aktivere Politik im postsowjetischen Raum einläutete.

In einer zweiten Phase von 2000 bis 2006 stand das Verhältnis zwischen Belarus und Russland wieder verstärkt unter politischen Vorzeichen. Russland erkannte Lukaschenkas Machtmodell als ähnlich "gesteuerte Demokratie" wie die eigene an, verteidigte die belarussische Regierung gegen internationale Kritik und förderte das Regime in Minsk wirtschaftlich. Belarus wurde zum Baustein der russischen Strategie, die von Moskau befürchtete "Einkreisung" durch westlich orientierte Demokratien abzuwenden, die man in den "Farbrevolutionen" in Georgien und der Ukraine wahrnahm. Damit konnte sich Lukaschenka der Rückendeckung Russlands sicher sein, vor allem bei den Präsidentschaftswahlen 2001 und 2006 sowie beim Referendum 2004, das die Begrenzung auf zwei Amtszeiten aufhob. Dazu kam ein wesentlicher wirtschaftlicher Aspekt, subventionierte doch Russland seinen Nachbarn durch billige Öl- und Gaslieferungen. Diese Preisnachlässe von jährlich rund sieben Milliarden US-Dollar, einem Drittel des belarussischen Staatshaushaltes, ermöglichten es Lukaschenka, seiner Bevölkerung einen bescheidenen Wohlstand zu sichern, und subventionierten seinen Sicherheitsapparat und die Staatspropaganda.

Schließlich erneuerten Russland und Belarus ihr Bekenntnis zur Integration beider Länder. Jedoch zog sich Lukaschenkas berechtigte Furcht, in diesem Staatsverbund nur Juniorpartner zu sein, durch alle folgenden Verhandlungsinitiativen, die entsprechend fruchtlos blieben. Diese Hinhaltetaktik und ein sich verschlechterndes persönliches Verhältnis zwischen Lukaschenka und Putin führte Moskau allmählich zur Einsicht, dass dem kleinen Nachbarn rein politisch nicht beizukommen war. Aus diesem Grunde schwenkte Russland in einer dritten Phase nach 2006 verstärkt auf wirtschaftliche Einflussnahme um, war dies doch die Achillesferse in Minsk. Einerseits war die Unterstützung für Lukaschenka unter vielen Belarussen maßgeblich mit Subventionen und Exporterlösen aus Russland erkauft, deren Entzug Aussicht auf politische Zugeständnisse versprach. Andererseits war der Kreml an strategischen Wirtschaftsunternehmen in Belarus interessiert, vor allem in den Sektoren Gastransit, Rohölverarbeitung und Maschinenbau, deren Übernahme einer Einschränkung der politischen Souveränität von Belarus und einer verstärkten Abhängigkeit von Russland gleichkam. Ein erster Paukenschlag war 2006 die Ankündigung von Gazprom, das Preisniveau für seine Gaslieferungen nach Belarus bis 2010 von 46 auf über 200 US-Dollar pro tausend Kubikmeter anzupassen. Dies zwang die Regierung in Minsk, Gazprom eine fünfzigprozentige Beteiligung an seiner Pipelinefirma Beltransgaz abzutreten, die etwa 20 Prozent der russischen Gasexporte nach Westeuropa abwickelt. Dieser Konflikt eröffnete eine Reihe wirtschaftlicher und in der Konsequenz politischer Auseinandersetzungen. So unterbrach Russland seine Öllieferungen nach Belarus jeweils im Januar 2007 und 2010. Scharfe Kritik an russischen Energiepreisen durch Lukaschenka veranlasste Moskau im Juni 2009, ein kurzzeitiges Importverbot gegen belarussische Milchprodukte zu verhängen, was Minsk mit Zollkontrollen an der Grenze zu Russland und dem Boykott eines gemeinsamen Sicherheitsgipfels beantwortete. Schließlich unterbrach Russland die Gaslieferungen nach Belarus im Juni 2010 wegen strittiger Fragen einer geplanten Zollunion.

Zunehmend wurde wirtschaftlicher Druck zum Mittel der russischen Politik. Doch weder kam es zu wesentlichen Übernahmen belarussischer Unternehmen durch russisches Kapital, noch hat sich Minsk bislang auf eine enge politische Bindung an Moskau eingelassen. Dies liegt auch daran, dass Russland seine wirtschaftlichen Hebel nur vorsichtig eingesetzt hat, wusste man doch, dass ein Kollaps des belarussischen Diktators unabsehbare politische Folgen haben könnte. Dazu verstand es Lukaschenka, Russlands Druck durch Partnerschaften mit China oder Venezuela sowie durch Annäherung an Europa auszuweichen.

EU zwischen Isolation und Wandel durch Annäherung

Ähnlich stufenweise wie erfolglos entwickelten sich die Beziehungen zwischen der EU und Belarus. Anders als im Falle Russlands konnten diese kaum an existierende Verbindungen anknüpfen. Dennoch waren auch das Verhältnis und die Politik der EU von einem wachsenden Interesse und der Suche nach Instrumenten geprägt, die Entwicklungen in Belarus im europäischen Sinne mitzugestalten.

Während der 1990er Jahre galten die politische Aufmerksamkeit seitens der EU wie auch ihre Unterstützung für demokratische Reformen vor allem jenen Ländern Mitteleuropas, die direkt an die EU grenzten und denen man die besten Aussichten auf eine erfolgreiche Umgestaltung zumaß. Belarus hingegen fand sich nach einer kurzen Phase der Annäherung außerhalb des Interesses, nicht zuletzt mit der zunehmenden Entdemokratisierung nach Lukaschenkas Machtantritt. Die erste europäische Institution, die diese Entwicklung anprangerte, war der Europarat. Nach einem gefälschten Referendum, das 1996 Kompetenzen und Amtszeit des Präsidenten ausdehnte, schloss dieser eine EU-Mitgliedschaft des Landes aus und kritisierte seither Menschenrechtsverletzungen und Demokratiedefizite in Belarus. Die EU schloss sich dieser Haltung an, indem sie das 1995 unterzeichnete Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Belarus nicht ratifizierte und Brüssel die politischen Beziehungen mit Minsk 1997 einschrnkte. Die Beziehungen erreichten einen Tiefpunkt, als 1998 Belarus westliche Botschafter ihrer Residenzen verwies und 1999/2000 vier führende Oppositionelle spurlos verschwanden. Schließlich zeigte die Wiederwahl Lukaschenkas 2001, nach OSZE- wie EU-Einschätzung außerhalb demokratischer Normen, dass Europas passive Politik eingeschränkter politischer Kontakte und verbaler Kritik keinen Wandel in Belarus bewirkte.

Seit 2002 verstärkt daher die EU ihr Engagement. Zwar beließ sie es bei eingefrorenen politischen Kontakten, signalisierte jedoch, dass sie bei konkreten Demokratisierungsschritten seitens der belarussischen Regierung zu einer Annäherung bereit sei. Dieser Benchmark-Ansatz begann mit vier prinzipiellen OSZE-Forderungen: Stärkung des Parlaments, Entsendung von Oppositionsvertretern in die Wahlkommissionen, Medienzugang für Oppositionskandidaten und Reform des Wahlrechts entsprechend internationaler Standards. Forderungen und Angebote an Belarus konkretisierte die EU. Es wurden zwölf Bedingungen formuliert, darunter die nach freie Wahlen, Meinungs- und Medienfreiheit, Freilassung politischer Gefangener, unbehinderter Zivilgesellschaft und nach Rechtsstaatlichkeit. Deren schrittweise Erfüllung würde die EU mit Reiseerleichterungen, grenzüberschreitender Zusammenarbeit, verstärkten Wirtschaftsbeziehungen und Hilfe beim Aufbau demokratischer Institutionen honorieren.

Jedoch zeigte sich Minsk nicht willens, auf Forderungen und Angebote der EU einzugehen. Die Parlamentswahl und das Referendum von 2004, mehr noch die Präsidentschaftswahl von 2006 und die brutale Niederschlagung friedlicher Proteste machten deutlich, dass dieser Ansatz der EU erfolglos blieb. Stattdessen musste die EU auf Wahlmanipulationen und Repressionen mit Sanktionen antworten. 2004 wurde ein Einreiseverbot gegen sechs hochrangige Regimevertreter verhängt, das 2006 um Lukaschenka und weitere 30 Personen erweitert und um das Einfrieren persönlicher Vermögen ergänzt wurde.

Mit dem Scheitern der Anreizstrategie wurde 2008 die Forderung nach Wandel durch Annäherung laut. Dieser erhielt Auftrieb, als Lukaschenka politische Gefangene freiließ, bei der Parlamentswahl milde Konzessionen an die Opposition machte und zwei unabhängige Zeitungen zuließ. Darauf machte die EU wesentliche Zugeständnisse an Belarus, in der Hoffnung, dass weitere Schritte der Regierung in Minsk folgen würden. So wurden im Herbst 2008 die Sanktionen außer Kraft gesetzt, gefolgt von der offiziellen Einladung an Belarus, ab 2009 an der Östlichen Partnerschaft der EU teilzunehmen. Dazu wurden politische Kontakte erneuert, nicht zuletzt durch Staatsbesuche Lukaschenkas in EU-Ländern und Besuche europäischer Regierungsvertreter in Belarus.

Währenddessen entwickelten sich die wirtschaftlichen Beziehungen stetig. Im Jahre 2009 war die EU Hauptexportpartner mit einem Anteil von 44 Prozent (Russland: 32 Prozent). Ausfuhren nach Europa bestehen zu drei Vierteln aus Ölprodukten, gefolgt von Maschinen und Düngemitteln. Der rege Handel hat freilich eine politische Dimension, liefert doch die EU einen Großteil der belarussischen Staatseinnahmen und stärkt das Regime. Diese Doppelbödigkeit in der Haltung der EU ist ein Kritikpunkt seitens der Opposition im Lande: zu Recht, wie sich bei der Wahl 2010 zeigen sollte.

Präsidentschaftswahl 2010 als Zäsur

Die Dynamik einer sich wandelnden öffentlichen Meinung, steigenden Drucks aus Russland und wachsenden europäischen Engagements beschleunigte sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahl vom 19. Dezember 2010. Vor allem seitens der demokratischen Opposition wuchs die Hoffnung, dass diese Wahl die festgefahrene Situation in Belarus endlich in Bewegung bringen könnte. Lukaschenka schien unter Zugzwang zu geraten.

Dafür sorgte vor allem Russland. Von Juli 2010 an strahlte das russische Fernsehen eine Dokumentarreihe unter dem Titel "Der Pate" aus, die Lukaschenka der Beteiligung am Verschwinden prominenter Regimegegner, der staatlich sanktionierten Korruption und der psychologischen Unzurechnungsfähigkeit beschuldigte. Zudem verlautete aus dem Kreml, dass man sich Alternativen an der Spitze von Belarus vorstellen könne. Und schließlich empfing man in Moskau einige Oppositionskandidaten, von denen zumindest einer auch finanzielle Unterstützung aus Russland erhielt. Zum ersten Mal schien es so, als ob Russland des eigenwilligen Diktators im Nachbarland überdrüssig geworden sei.

Europa seinerseits übte sich in Reisediplomatie, Ermahnungen zu kleineren Verbesserungen im Wahlablauf und in finanziellen Anreizen. Diese gipfelten im gemeinsamen Besuch der Außenminister Polens und Deutschlands in Minsk im November 2010, bei dem sie Wirtschaftshilfe in Milliardenhöhe versprachen, sollte Lukaschenka die Abstimmung liberaler gestalten und sich bei Repressalien zurückhalten. Die Taktik schien aufzugehen: Die Wahlkampagnen der Oppositionskandidaten konnten sich relativ frei entfalten, beschränkter Zugang zu den staatlichen Medien wurde gewährt und sogar eine Fernsehdebatte zugelassen, bei dem die Gegner Lukaschenkas ihre Kritik offen äußerten.

Kurz vor der Wahl kam jedoch die radikale Umkehr. Am 9. Dezember 2010 unterzeichneten Belarus und Russland, zusammen mit Kasachstan, einen Vertrag zur Gründung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes. Damit signalisierte Moskau, dass es eine Wiederwahl Lukaschenkas mittragen würde. Minsk ließ die liberale Maske fallen, manipulierte die Präsidentschaftswahl massiver als je zuvor und reagierte auf die Proteste von Zehntausenden am Wahlabend mit ungekannter Härte, hunderten von Verhaftungen und einer breit angelegten Verfolgungswelle. Die EU wurde von dieser Wende überrascht. Vom belarussischen Diktator vorgeführt reagierte Europa mit seltener Entschiedenheit und Geschwindigkeit. Der unmittelbaren Verurteilung von Wahlbetrug und Staatsterror folgte binnen Monatsfrist die Wiedereinführung und Ausweitung von Sanktionen gegen Lukaschenka und über 150 seiner Führungskräfte. Gleichzeitig wurden europäische Hilfen für Opfer politischer Gewalt, für die Zivilgesellschaft und für freie Medien erhöht. Russland dagegen erklärte die Ereignisse vom Dezember 2010 zur inneren Angelegenheit von Belarus und erkannte die Wiederwahl Lukaschenkas an.

Die Rechnung dieser Politik Russlands wie der EU zahlen die Demokraten in Belarus. Von diesen hatten viele die EU davor gewarnt, sich auf einen Dialog mit Lukaschenka ohne Einbeziehung der Opposition einzulassen, und vorhergesehen, dass Minsk Europa einmal mehr betrügen würde. Mancher Oppositionskandidat setzte zudem übergroße Hoffnungen in die Bereitschaft Russlands, eine politische Öffnung von Belarus mitzutragen. Die tragische Folge dieser Fehlkalkulationen, oder besser der Naivität Europas und des Zynismus Russlands, ist die systematische Zerschlagung der Demokratiebewegung in Belarus seit Dezember vergangenen Jahres.

Ausblick

Außenpolitisch hat der "Blutsonntag" vom Dezember 2010, wie ihn belarussische Demokraten nennen, dramatische Konsequenzen. Im Westen hat Lukaschenka jede Glaubwürdigkeit verspielt. Damit befindet er sich in fast völliger Abhängigkeit von seinem Nachbarn im Osten. Im Ergebnis dürfte es ihm unmöglich werden, seine lange Zeit erfolgreiche Schaukelpolitik fortzusetzen. Stattdessen wird ihm aus Russland die Rechnung für die Anerkennung der Wahl präsentiert. Forderungen nach Übernahme des Fahrzeugbauers MAZ durch den russischen KAMAZ-Konzern und die völlige Abtretung von Beltransgaz wurden bereits laut. Zudem machte Moskau einen Stabilisierungskredit von Wirtschaftsreformen und Privatisierungen abhängig.

Doch nicht nur von außen wird die wirtschaftliche Basis von Lukaschenkas Macht infrage gestellt. Von innen droht seit Anfang 2011 eine akute Wirtschaftskrise. Die Finanzreserven sind durch Lohnerhöhungen vor der Wahl dezimiert. Es kam zu Panikkäufen von Devisen und Konsumgütern, die jedoch zunehmend teurer und rarer wurden. Die Wirtschaft kam weitgehend zum Stillstand, und schon im April 2011 hatten Staatsbetriebe rund 600000 Angestellte, etwa 13 Prozent aller Arbeitskräfte, zwangsbeurlaubt. Dies untergräbt das Vertrauen vieler Belarussen in das von Lukaschenka propagierte Modell, und Unmut macht sich breit.

Europa sucht unterdessen weiterhin nach Wegen, Druck auf Lukaschenka auszuüben. Mehrere Länder, so Polen, Schweden und Deutschland, sprechen sich für Wirtschaftssanktionen aus, um die materielle Basis des Regimes weiter zu schwächen und ihn zu einem Ende der Repressionen zu zwingen. Dagegen sind jedoch andere EU-Mitglieder, und ein Konsens wird schwer zu erreichen sein. Letztlich ist es der Handel mit Europa, der Lukaschenkas politisches Überleben bislang mit ermöglicht hat.

Dessen ungeachtet sind die Tage des belarussischen Diktators gezählt. Die Kritik von innen wird in dem Maße zunehmen, wie Lukaschenka die Bedürfnisse seiner Bevölkerung, ganz zu schweigen von denen seiner Nomenklatura, nicht mehr befriedigen kann. Doch auch von außen wird die politische Zukunft des Landes maßgeblich mitbestimmt. Hier sind Russland und Europa gemeinsam gefragt, ist doch Belarus Teil beider Nachbarschaft und seine Stabilität, hoffentlich auch seine endlich demokratische Entwicklung, im gemeinsamen Interesse der Nachbarn in Ost wie West.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. David R. Marples, Belarus: a Denationalized Nation, Amsterdam 1999.

  2. Vgl. Independent Institute of Socio-Economic and Political Studies, Nationwide Public Opinion Poll, Vilnius, March 2011.

  3. Vgl. Joerg Forbrig/Pavol Deme (eds.), Reclaiming Democracy, Washington, DC 2007.

  4. Vgl. Dmitri Trenin, Russia's Policy towards Belarus: A Tale of Two Presidents, in: Joerg Forbrig/David R. Marples/Pavol Deme (eds.), Prospects for Democracy in Belarus, Washington, DC 2006, S. 79-84.

  5. Vgl. Stefan Meister, Die Ökonomisierung russischer Außenpolitik. Eskalation im Streit zwischen Russland und Belarus, DGAP Standpunkt, Berlin, September 2010.

  6. Vgl. Dov Lynch (ed.), Changing Belarus, Chaillot Paper Nr. 85, Paris 2005.

  7. European Commission, What the European Union could bring to Belarus, Non-Paper, Brüssel 2006.

  8. Vgl. Denis Melyantsov, Belarus-EU: Protracted normalization, in: Belarusian Institute for Strategic Studies (BISS) (ed.), Belarusian Yearbook 2009, Vilnius 2010, S. 64-73.

  9. Vgl. European Commission, DG Trade, EU Bilateral Trade and Trade with the World: Belarus, Brüssel, 17.3.2011.

  10. Vgl. BISS, International Monitoring: January 1-April 1, 2011, Vilnius 2011.

Dr. phil., geb. 1972; Senior Program Officer beim German Marshall Fund of the United States, Oranienburger Straße 13-14, 10178 Berlin. E-Mail Link: jforbrig@gmfus.org