Einleitung
Der andauernde Kampf Sankt Petersburgs und Moskaus gegen die belarussische (und ukrainische) Selbstständigkeit wurde in den vergangenen zwei Jahrhunderten
Hinter dem unverständlichen Gebrauch von "Weißrussland"
Die Tatsache, dass Belarus im Bewusstsein der meisten Deutschen fortdauernd eine irgendwie an Russland angekoppelte terra incognita darstellt, hat - neben Versäumnissen im schulischen Geschichts- und Geographieunterricht - zum beträchtlichen Teil mit der Trägheit der deutschen Ostpolitik zu tun. Diese hat auch gut zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer noch Probleme damit, die lange Tradition des (heute ökonomisch motivierten) nationalen Egoismus und der ausschließlichen Fixierung auf Russland zu überwinden. Die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die für die Zukunft des europäischen Projektes von großer Bedeutung sind, werden nicht angemessen berücksichtigt. Die staatsgläubige politische Kultur in Deutschland macht es zudem den hiesigen Belarus-Freunden schwer, an der falschen und inkonsequenten Sprachregelung wirksam Kritik zu üben (das Auswärtige Amt schreibt im internationalen Schriftverkehr doch "Belarus" vor).
Auch die hierzulande populäre Vorstellung von Belarus als der "letzten Diktatur Europas" kommt in erster Linie Russland zugute, dessen eigener Autoritarismus damit geflissentlich übersehen wird. Es sind gleichermaßen eine der angelsächsischen Literatur der frühen 1990er Jahre bedenkenlos entnommene deterministische Vorstellung von einer angeblichen "Demokratisierungswelle" nach dem Kommunismus und der Glaube an die Lippenbekenntnisse der autoritären Herrscher zur Demokratie, die in der deutschen Politikwissenschaft zu Überlegungen über vermeintliche osteuropäische Demokratien geführt haben, die lediglich "Defekte" aufwiesen.
Genuin posttotalitärer Autoritarismus
Für alle unübersehbar wurde die belarussische Opposition von der politischen Bühne ihres Landes verdrängt. Diese Einschränkung des politischen Pluralismus ist typisch für autoritäre Systeme. Wegen der eklatanten Schwäche der Opposition, die unter die Obhut konkurrierender Förderer aus Russland und dem Westen geraten ist, wirkt der belarussische Autoritarismus alternativlos und erinnert so mehr an Russland oder Turkmenistan als beispielsweise an Georgien oder die Ukraine. Obwohl auch in den beiden letztgenannten Ländern die politische Opposition von den Machthabern nicht mit Samthandschuhen angefasst wird, gibt es dort politischen Wettbewerb. In diesem Wettbewerbsautoritarismus kann es auf dem Wege der freien Wahlen zum Regierungswechsel kommen, was an sich schon Demokratisierungschancen in sich birgt.
Auch die außergewöhnliche Reichweite des politischen Systems fällt auf, die so an den kommunistischen Totalitarismus erinnert. Der Präsident plädiert unverblümt dafür, dass Politik erst vor der Privatsphäre Halt machen solle: "Jeder Mensch soll sich um sich selbst und um seine Familie kümmern. (...) Über alles andere soll die Führung der Unternehmen, der Regionen, der Städte, der Regierung entscheiden."
Die "Handsteuerung" der Volkswirtschaft führt wie im Kommunismus dazu, dass die Modernisierung des Landes pathologische Züge bekommt. Zum einen profitiert die zum großen Teil autarke Ökonomie nicht ausreichend von den Entwicklungen der Weltwirtschaft. Sie ist nicht innovativ, und ihre Produkte zeichnen sich oft durch eine Grobschlächtigkeit aus, die mit bloßem Auge zu erkennen ist. Zum anderen verhindert die nach dem Kommunismus ausgebliebene Expansion des privaten Wirtschaftssektors die Entstehung einer Mittelklasse, weshalb die bürgerliche Gesellschaft extrem unterentwickelt bleibt.
Wegen dieser Besonderheiten, zu denen auch der typisch postkommunistische Staatsbesitz der meisten Massenmedien gehört, könnte das politische System leicht als totalitär missverstanden werden, zumal Lukaschenka in den Jahren 2003 bis 2005 eine Staatsideologie entwickeln ließ und sie sogar dem Bildungssystem als obligatorischen Lehrinhalt vorschrieb. Dieses eklektische Ideenbündel, das der Präsident manchmal "belarussischen Konservatismus"
Autokratie, Populismus und Repression
Anders als in den meisten postsowjetischen Staaten hat sich in Belarus, wo eine große Privatisierung der Volkswirtschaft ausgeblieben ist, keine ins Zentrum der Staatsmacht vordringende Oligarchie herausgebildet. Vielmehr bekennt Lukaschenka offen, dem autoritären System eine autokratische Prägung gegeben zu haben: "Ich gewöhne euch schon seit Langem daran, dass es in diesem Land nur einen einzigen Politiker gibt - es ist der Präsident."
Der Zerfall der Sowjetunion hatte die meisten Belarussen mit der Grunderwartung in die Unabhängigkeit entlassen, der Staat habe vorrangig für soziale Sicherheit zu sorgen, wofür ihm Loyalität der Untertanen gebühre. Diese Art "impliziter Gesellschaftsvertrag"
Besonders Präsidentschaftswahlen dienen dazu, den "Gesellschaftsvertrag" zu erneuern. Die Tatsache, dass Wahlergebnisse dreist gefälscht werden, ändert daran nichts. Denn bei der Inszenierung von Wahlen kommt es ausschließlich darauf an, welches Wahlergebnis sich der Amtsinhaber "leisten kann". Wenn er seinen offensichtlich "übertriebenen" Wahlsieg erklärt und dafür keine Proteste erntet, gilt er als legitimiert. Protestieren die Menschen aber gegen die Wahlfälschung, muss ihnen mit der entschlossenen Niederschlagung der Demonstrationen die Angst vor dem Regime wieder aufs Neue eingeflößt werden.
Auch in der Zeit zwischen den Wahlen ist Lukaschenka darum bemüht, der paternalistischen Kultur seiner Untertanen gerecht zu werden. Er stilisiert sich als der um das Volk besorgte bat'ka (Vater) und zeigt keinerlei Skrupel, wenn es darum geht, Sicherheitsdienste und den politisch gefügigen Justizapparat gegen die angeblich verräterische Opposition einzusetzen. Gleiches trifft auf die ihm gefährlich erscheinenden Angehörigen der Herrschaftselite zu, wobei er mit gezielter Personalpolitik die Herausbildung von autonomen Machtzentren verhindert.
Außengestützter Autoritarismus
Es reicht nicht aus, den Dauererfolg Lukaschenkas ausschließlich mit seinem ausgeprägten populistischen Instinkt und seiner Brutalität zu erklären. Die Stabilität des Regimes hängt zumindest ebenso stark davon ab, ob er trotz der ineffizienten Staatsökonomie die Versprechen des "impliziten Gesellschaftsvertrags" halten kann.
Schon vor seinem ersten Sieg bei der - noch demokratischen - Präsidentschaftswahl 1994 trat Lukaschenka für enge Beziehungen mit Russland ein. Als er während seines beinahe gewaltlosen und mit einem Referendum nachträglich "legitimierten" Staatsstreichs im November 1996 die konstitutionellen Staatsorgane demontierte und die ganze Macht im Staat an sich riss, unterstützten ihn die Abgesandten Boris Jelzins, des damaligen russischen Staatsoberhauptes.
Bereits am 2. April 1996 hatten beide Präsidenten, die menschlich einander sehr zugetan waren, einen Vertrag über eine belarussisch-russische Union unterzeichnet, die von beiden Völkern mehrheitlich als der erste Schritt zur lange ersehnten "Wiederherstellung der Union" begrüßt wurde. Hinter der Idee "der Union" verbarg der Kreml freilich die Vorstellung von Belarus als seinem Satellitenstaat in etwa nach dem Vorbild der früheren "Volksdemokratien". Besonders mit ihren Pipelines und ihrer militärischen Infrastruktur
Trotz dieser unterschiedlichen Motivationen ist ein Deal zustande gekommen. Lukaschenka zedierte informell einige souveräne Rechte des belarussischen Staates auf Russland: Er ließ seine Streitkräfte de facto in die russische Armee integrieren und wahrscheinlich auch Teile der belarussischen Sicherheitsdienste den russischen Stellen unterordnen. Die gemeinsame Waffenproduktion wurde wiederbelebt (was allerdings für den Waffenhandel nicht gilt - den belarussischen kontrolliert der Präsident selbst).
Die Realität der Union, die zwei qualitativ unterschiedliche Wirtschaftssysteme umfasste und politisch ohnehin ein Papiertiger war, kam dem andauernden Feilschen um Preise, Zölle und Steuern gleich. Die russische Unterstützung hat aber dennoch die von Lukaschenka erwünschte Wirkung gezeigt. Die Wirtschaft wurde konsolidiert und begann sogar stark zu wachsen, ohne dass der Bevölkerung wie in den Nachbarstaaten schmerzhafte Reformen zugemutet werden mussten. Das Staatsoberhaupt konnte sich sodann als der wahre bat'ka präsentieren, der dem ökonomischen und sozialen Niedergang der ersten Unabhängigkeitsjahre ein Ende zu setzen vermochte.
Krise im Verhältnis zu Russland
Innenpolitisch beschritt Lukaschenka nach 1996 noch entschlossener als zuvor seinen "Weg zurück in die Zukunft". Rücksichtslos und durchaus einfallsreich ging er gegen unabhängige politische und gesellschaftliche Akteure vor, wobei einige seiner Gegner "verschwanden".
Obwohl sich Russland seit der Machtübernahme durch Präsident (nach 2008 Premierminister) Wladimir Putin im Jahre 2000 immer mehr in dieselbe Richtung entwickelte, mehrten sich die Anzeichen einer Krise im gegenseitigen Verhältnis. Denn das neue russische Staatsoberhaupt wurde der politischen Ambitionen und der andauernden ökonomischen Forderungen des kleinen "Unionsstaates" schnell überdrüssig. Um die Idee der belarussisch-russischen Union zu begraben, schlug Putin im August 2002 öffentlich vor, das westliche Nachbarland der Russländischen Föderation anzugliedern. Diesem unter diplomatischen Gesichtspunkten einmaligen Affront folgte eine Reihe von offenen Konflikten, wobei beide Präsidenten in ihren Auseinandersetzungen um Gas- und Ölpreise selbst Lieferunterbrechungen an mehrere EU-Staaten in Kauf nahmen.
Als sich von 2007 an das von der globalen Finanzkrise schwer angeschlagene Russland schroff weigerte, Belarus weiterhin im bisherigen Ausmaß zu subventionieren, wandte sich Lukaschenka überraschend der von ihm bis dahin verpönten Europäischen Union (EU) zu. Zugleich ging er gegen die polnische Minderheit vor, um in den Verhandlungen mit der EU ein wichtiges Pfand zu haben. Er verweigerte Russland nach dessen Georgien-Krieg vom August 2008 die Anerkennung der "Unabhängigkeit" von Abchasien und Südossetien, ließ politische Gefangene frei und drehte die Repressionsschraube zurück. All das ging seinen EU-Partnern verständlicherweise nicht weit genug, und sie forderten zusätzlich den Einzug der Opposition ins Parlament. Der Präsident erklärte im belarussischen Fernsehen nach der Parlamentswahl im September 2008, weshalb er diesem Wunsch nicht nachkommen wolle: "Selbst wenn wir irgendwelche Kontakte zu bestimmten Oppositionellen usw. haben, das bedeutet doch nicht, dass Lukaschenka diese ins Parlament setzt, damit sie dort wie früher sitzen und was treiben."
Trotzdem vermittelte die EU von Januar bis Juni 2009 beim Internationalen Währungsfonds einen Kredit für Belarus in Höhe von 3,5 Milliarden US-Dollar. Das deutsch-polnische Außenminister-Tandem Guido Westerwelle und Radosaw Sikorski stellte bei seinem Besuch in Minsk Anfang November 2010 im Namen der EU weitere drei Milliarden in Aussicht, sollte die für den 19. Dezember anberaumte Präsidentschaftswahl demokratisch ablaufen. Es schien tatsächlich so, als hätte sich der Präsident in den vergangenen zwei Jahren an mehr politische Konkurrenz in seinem Land gewöhnt, denn der Wahlkampf verlief weitgehend frei, wenngleich es der zerstrittenen Opposition (sie stellte neun Kandidaten auf) nicht gelang, den Autokraten ernsthaft herauszufordern.
Die Perspektive einer engen Zusammenarbeit eines frei gewählten belarussischen Präsidenten mit der EU mag die russische Führung aufgeschreckt haben. Anfang Dezember schien der Kreml im Streit mit Minsk nachzugeben: Er stellte Belarus wieder niedrige Preise für Öl und Gas, weitere Kredite sowie den Bau eines Atomkraftwerks in Aussicht. Im Gegenzug setzte Lukaschenka seine Unterschrift unter 17 Dokumente, die ab 2012 die Einrichtung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes von Belarus, Russland und Kasachstan regeln sollen. Damit war die kurze Liberalisierung vorbei. Am Wahltag wurde verkündet, Lukaschenka habe knapp 80 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten (nach unabhängigen Schätzungen sollen es ca. 65 Prozent gewesen sein). Die rund 20000 in Minsk gegen die Wahlfälschung protestierenden Demonstranten wurden von Sicherheitskräften verprügelt. Während die EU darauf und auf die Verhaftung von mehr als 600 Menschen, unter denen sich einige misshandelte Präsidentschaftskandidaten befanden, mit Entsetzen (und Ratlosigkeit) reagierte, gratulierte der russische Präsident Dmitrij Medwedew am 25. Dezember 2011 seinem belarussischen Kollegen zur Wiederwahl.
Unabhängiges und freies Belarus?
"Ich biete Russlandfreundschaft nicht auf dem Markt an", versicherte Lukaschenka vor der Parlamentswahl im September 2008.
Lukaschenka positioniert sich als Wächter des russischen Imperiums und fordert dafür vom Kreml Geld. Dieser will vom Imperium keinen Abschied nehmen und - zahlt. Nun ist Russland weder ein zuverlässiger noch ein allzu starker Partner. Die russische Führung zahlt nur widerwillig, zumal rapide Geldentwertung, Hamsterkäufe, Versorgungsengpässe und wahrscheinlich auch das blutige Terrorattentat in der Minsker Metro vom 11. April 2011 die Folgen des Lukaschenka-Systems deutlich vor Augen führen. Russland wartet die Gelegenheit ab, im "Bruderland" einen weniger selbstbewussten, gefügigeren Führer zu installieren.
Lukaschenka könnte sich in dieser Situation zur punktuellen Zusammenarbeit mit ausgewählten ausländischen Wirtschaftsunternehmen entschließen, die erfahrungsgemäß um ihrer sicheren Gewinne willen alles zu tun bereit sind, um politisch nicht aufzufallen. Damit alleine wird er aber den auf ihm lastenden Druck der systembedingten Ineffizienz nicht los. Gleiches gilt für die weitere Verschärfung der Repression. Was schließlich umfassende Wirtschaftsreformen angeht, so bedeuteten sie eine mit zahlreichen innen- und außenpolitischen Risiken behaftete Demontage seines Systems.
Der Präsident, der sich in den 1990er Jahren in der Öffentlichkeit immer wieder über die belarussische Sprache lustig machte, scheint zu spüren, dass bei den Belarussen die Sowjetunion-Nostalgie dem Wunsch nach Identifikation mit dem eigenen Staat und der eigenen Nation weicht. Er will deshalb "nationaler" wirken und nimmt angeblich Belarussisch-Kurse. Das fällt ihm offensichtlich nicht leicht. Denn er kann sich nach eigenen Worten "nicht daran gewöhnen, dass Russland und Moskau uns fremd sein sollen, dass dies eine fremde Stadt ist. Nein! Und dennoch müssen wir ausschließlich im Einklang mit den Interessen unseres Staates leben und unsere Unabhängigkeit sowie Souveränität verteidigen."
Wenn sich der machtversessene Autokrat als Medizin gegen die Schmerzen, die ihm der "Verlust" der russischen Hauptstadt bereitet, belarussische Unabhängigkeit verschreibt, dann hat das belarussische Volk zwar keine Freiheit, aber immerhin seinen Staat. Was aber bleibt den Belarussen, wenn der Präsident sie belügt?