Einleitung
Belarus kann man eigentlich nicht übersehen. Wie ein unförmiger Reibekuchen liegt das Land in Osteuropa - zwischen Polen im Westen und Russland im Osten, den Ländern und den europäischen Geistesrichtungen, die das Schicksal von Belarus entscheidend geprägt haben. Wer eine Reise macht von West nach Ost oder umgekehrt und nicht gerade das Flugzeug nimmt, der kommt an Belarus nicht vorbei. Von deutschen Diplomaten, die zur Zeit der Sowjetunion gedient haben, hört man zuweilen den Satz: "Ja, durch Belarus bin ich häufig mit dem Zug gefahren. Von Deutschland nach Moskau. Aber ausgestiegen bin ich in Belarus nie."
In Belarus steigt der Reisende nicht aus. Belarus ist für die meisten ein Durchfahrtsland, ein Raum, der überbrückt werden muss. Das ist bis heute so, und das war auch in der Vergangenheit so. Es sind die wenigsten, die aus Neugier und Interesse nach Belarus reisten - und reisen. (Im deutschsprachigen Raum war Eugen von Engelhardts Buch "Weißruthenien" bis in die 1990er Jahre das einzige Buch, das stichhaltige Auskunft über Belarus gab. Das Buch stammt aus unseliger Zeit, aus dem Jahr 1943.
So kommt es, dass Belarus eine terra incognita ist, eine unbekannte Welt, ein weißer Fleck im Osten Europas:
Lukaschenka hat Belarus - daran besteht kein Zweifel - als eigenständiges Land bekannt gemacht. Ihm ist gelungen, was den jungen Demokraten und Patrioten in den wilden postsowjetischen Jahren zwischen 1991 und 1994 versagt blieb. Lukaschenka hat Belarus auf der europäischen Landkarte verortet. Seitdem weiß der bildungsbürgerliche Durchschnittswestler: In Belarus ist es kalt. (Im Osten ist es immer kalt, sibirischkalt!) Der Belarusse spricht Russisch. (Was auch sonst?!) Belarus war Teil der Sowjetunion (wie alle Länder Osteuropas!). Nun ist Belarus eine Diktatur (typisch Osteuropa!), die so restaurativ ist, dass sie sogar den KGB konserviert hat. Sie wird regiert von Lukaschenka, einem Präsidenten, der einen unmodischen Schnauzbart trägt und sich durch eine ungehobelte Ausdrucksweise auszeichnet - und der auch sonst aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Lukaschenka ist mal Sozialist, mal Kapitalist, immer Machtmensch. Er bekämpft die Opposition, pfeift auf Menschenrechte, führt die EU, zuweilen Russland an der Nase herum.
Lukaschenka tut, was er will, und er verfügt über wundersame Kräfte, mit denen er selbst die nach dem Zweiten Weltkrieg größte Katastrophe seines Landes unter den Teppich der Vergessenheit gekehrt hat: den Super-GAU im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl. Tschernobyl! Die nächste Katastrophe, die das Bild des Westlers von Belarus prägt. Denn der gut informierte Westler weiß, dass 70 Prozent des nuklearen Fallouts über Belarus niedergingen. Und er weiß vielleicht sogar, dass jeder vierte Belarusse im Zweiten Weltkrieg sein Leben verlor. Das war's. Dann zieht Nebel auf im Hirn des Durchschnittswestlers. Es steht außer Frage, dass es einem Land nicht gut tun kann, wenn sein Bild in der Außensicht lediglich zwischen den Begriffen terra incognita, Diktatur und Katastrophe mäandert. Eine solch negative Stigmatisierung, unter der bekanntlich auch afrikanische Länder leiden, ist nicht werbewirksam. Sie reizt wohl nur die Reiselust von Abenteurern, Freaks und Betroffenheitsverwaltern. Ein Land westlicher Sehnsüchte ist Belarus wahrlich nicht.
Der österreichische Journalist und Schriftsteller Martin Pollack erhielt im März 2011 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. "Das freie und wohlhabende Europa hat seine Grenzen nach Osten verschoben, aber verschwunden sind diese Grenzen nicht", beklagte Pollack in seiner Dankesrede die Ignoranz, die wir Westler osteuropäischen Ländern wie Belarus entgegenbringen. "Im Gegenteil. Die neuen Grenzen, die unseren Kontinent zerschneiden, werden nicht weniger streng bewacht als zu Zeiten des Kalten Krieges, allerdings stellen jetzt wir die unerbittlichen Wächter. Diesmal sind wir es, die Bewohner der westlichen Länder, die sich hinter raffiniert gesicherten Grenzen verschanzen und verlangen, diese immer noch dichter zu machen, um die Anderen, die weniger Bemittelten, die weniger Freiheit genießen als wir, draußen zu halten. Draußen vor den Grenzen des neuen Europas."
Warum aber ist Belarus derart unbekannt? Warum ist das Interesse für dieses Land so gering, obwohl es, eben, in Europa liegt (von Berlin bis Minsk sind es lediglich 953 Kilometer)? Belarus, das mit 9,5 Millionen Einwohnern und der dreizehntgrößten Landfläche in Europa kein ganz kleines Land ist, hat eine Diktatur, die als vergessenes Relikt an die totalitären Herrschaften Europas und damit an die dunkelsten Kapitel der europäischen Geschichte erinnert. Aber selbst diese Tatsache hat Belarus nur bedingt Interesse in der Öffentlichkeit beschert. Während die Empörung über Menschenrechtsverletzungen und die Verhaftung von Künstlern, Journalisten oder Dissidenten in China, im Iran oder in Birma (bzw. Myanmar) regelmäßig für Eruptionen sorgen, schweigt man zu nicht minder brisanten Ereignissen in Belarus. Beispiele: Ende der 1990er Jahre verschwanden einige Oppositionelle spurlos.
Ich beschäftige mich seit 1995 mit Belarus - anfangs als Student der Osteuropäischen Geschichte und als Reisender, seit mehr als zehn Jahren als Journalist. Ich habe Belarus unzählige Male bereist. In Belarus habe ich viel gelernt - über die osteuropäische und ostmitteleuropäische Geschichte und ihre extremen Brüche, Widersprüche und Verwerfungen der für Europa typischen Grenzregionen. Ich würde mich sogar zu der These versteigen, dass das Verständnis der belarussischen Geschichte ein essentielles Puzzlestück zum Verständnis der europäischen Geschichte darstellt. "Der Reichtum Europas bemisst sich nach seinen Übergangslandschaften", schreibt der Historiker Karl Schlögel.
Oh, Graus! Oh, ja! Der Osten
Und Konrad Adenauer sprach: "Östlich der Elbe beginnt die asiatische Steppe." Dieser mit rheinischem Schmackes angereicherte Satz des ersten Bundeskanzlers drückt aus, was viele (nicht erst seit Adenauer) denken: Im Osten leben Barbaren, Verbrecher, und es herrschen Despoten (Dschinghis Khan, Stalin). Die Ost-Menschen sind arm, wild, undiszipliniert, ungebildet, sie werden geknechtet - und sie saufen, damit sie ihr Schicksal und ihr hartes Leben besser ertragen können. Der Ostler nimmt sein politisches Schicksal ungern selbst in die Hand. Er ist kein verantwortungsvoller Bürger wie der aufgeklärte Westler. Er ist eine etwas zwielichtige, raue, zutiefst anarchistische Gestalt, die sich durch das Leben gaunert. Der Westler fürchtet sich vor dem wilden Osten, vor den dortigen Diktatoren und Mafia-Clans. Ein bisschen Mitleid hat er nur mit den kopftuchtragenden Babuschkas. Seit jeher werden dem Osten Europas so die Aversion, Abstoßung und Arroganz des Westens zuteil.
Einerseits. Andererseits fasziniert Osteuropa - voran Russland. Ach, welch riesiges Land, seufzt der Westler, und diese landschaftliche Weite und diese melancholische russische Seele (in welcher der deutsche Romantiker so gerne badet), dann diese Kirchen mit den schmucken Zwiebeltürmen, Dostojewski, Tolstoi! Das Vorurteil kennt keine Differenzierung.
Kalter Krieg und die Folgen
Das 20. Jahrhundert, insbesondere der Kalte Krieg, als Europa schablonenhaft in Westen und Osten geteilt wurde, hat das Bild des alten Europa zerstört. Bis heute fällt es vielen schwer zu akzeptieren, dass Polen, Ungarn oder Tschechien historisch eng mit der westlichen Wertegemeinschaft verbunden waren und eben keine "osteuropäischen" Länder sind, als die sie nicht selten bezeichnet werden. Die Wiedervereinigung dieser Wertegemeinschaft wurde 2004 mit dem EU-Beitritt von Polen, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen und Tschechien begonnen.
Insbesondere die europäischen postsowjetischen Länder leiden unter dem durch den Kalten Krieg begrenzten Blick des Westlers: also Moldau, die Ukraine (die immerhin seit der Orangenen Revolution 2004 als eigenständiges Land wahrgenommen wird) und auch Belarus; Länder, die von uns aus gern betrachtet werden, als wären sie mit der Sowjetunion vom Himmel gefallen. Eine eigene originäre Geschichte, Kultur und Sprache gestehen wir der Ukraine und Belarus, die einmal ganz selbstverständlich über das Großfürstentum Litauen, die Rcespospolita (der litauisch-polnische Doppelstaat), die k. und k. Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, über das Magdeburger Stadtrecht, die Reformation oder den Humanismus mit dem westlichen Europa verbunden waren, nur ungern zu. Dabei merken wir nicht, wie wir von der sowjetischen Geschichtsschreibung und Mythenbildung beeinflusst wurden. "Warum wollen Sie denn Belarussisch sprechen? Bei ihnen sprechen doch alle Russisch! Was, Belarussisch ist eine Sprache und kein russischer Dialekt? Letzten Endes seid ihr doch sowieso alle Russen", sind peinliche Fragen und Statements, die sich meine belarussischen Freunde anhören müssen, wenn sie sich in Deutschland befinden.
Es gibt noch viel zu entdecken und zu lernen. So gibt es bis heute keine institutionalisierte Belarussistik an deutschen Universitäten. Ein adäquates Lehrbuch für das Belarussische fehlt. Das Belarussische und die belarussische Literatur werden hierzulande lediglich von wenigen Enthusiasten beackert. "Das Weißrussische", sagt Norbert Randow, der in der DDR als freier Übersetzer viele belarussische Klassiker ins Deutsche übertrug, "ist das Stiefkind der Slawistik." Die Gründe für die schwierige Stellung des Belarussischen im deutschsprachigen Raum sind für Randow klar: "Abgesehen von der üblichen Arroganz und Ignoranz, mit der man Weißrussland begegnet, ist die politische Situation in Weißrussland nicht förderlich - für die Entwicklung der Literatur selbst, wie auch für ein Interesse hinsichtlich der Literatur von Außen. Zudem haben sich hier einfach noch nicht viele daran gewöhnt, dass Osteuropa nicht nur aus Russland und Polen besteht."
Junge Nation ohne Gesicht
Italiener lieben Pasta, Franzosen ihre Supermärkte. Engländer konnten mal einen sehr schönen Fußball spielen, Japaner haben eine große soziale Disziplin, und Tonganer essen gern fettes Schwein. Aber wer sind die Belarussen (abgesehen davon, dass sie Einwohner von Lukaland und ein leidgeprüftes Volk sind)? Belarus ist ein junges Land, das erst seit seiner Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Jahr 1991 als eigenständiger Staat existiert.
Zudem war Belarus Schauplatz von Kriegen und Schlachten. Es wurde von den Nationalsozialisten, aber zuvor auch schon von den Franzosen verwüstet. Historische Denkmäler, die aus der vorsowjetischen Zeit stammen, sind selten. In den 1930er Jahren ließ Stalin einen Großteil der belarussischen Intellektuellen ermorden und raubte der jungen Nation, die in den 1920er Jahren eine kleine Blüte erlebt hatte, damit die Kulturträger, die für die Ausbildung einer eigenen Identität so wichtig sind. Die Nazis ermordeten schließlich fast alle Juden und nahmen der belarussischen Stadtkultur, die über viele Jahrhunderte jüdisch geprägt war, ein bedeutsames kulturelles Substrat. Die Sowjets hatten leichtes Spiel, dem Land eine neue sowjetischrussische Identität und Geschichte zu konstruieren.
Diese schwierige Suche nach einer "eigenen" Geschichte und nationalen Identität, die sich von Ukrainern, Russen, Litauern und Polen (mit denen die Belarussen ein gemeinsames historisches Erbe teilen) plausibel abzuheben sucht, ist noch längst nicht abgeschlossen. Die Konstruktion der eigenen Mythen, in denen die Belarussen zu einer "vorgestellten Gemeinschaft" (so der Politikwissenschaftler Benedict Anderson) werden, ist noch im Prozess begriffen. Wer nach Belarus reist, hat deswegen häufig den Eindruck, dass er sich in einer Welt des 19. Jahrhunderts befindet, als noch um nationale Fragen und Identitäten gerungen wurde. Es konkurrieren heute vor allem zwei nationale Identitätsmodelle. Dem russisch-sowjetischen Modell, das von der Regierung Lukaschenka gefördert wird, steht das belarussischsprachig geprägte gegenüber, das sich auf die historischen Verbindungen des Landes zum aufgeklärten Westen stützt und das von der national gesinnten Opposition favorisiert wird.
Die Diskussion um diese beiden Modelle ist nicht neu. Der Widerstreit zwischen dem "russischen" und dem "belarussischen" Modell prägt die Debatten unter belarussischen Intellektuellen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Der Schriftsteller Maksim Harecki (1893-1938) beispielsweise hat die beiden Modelle in seinem berühmten, 1919 erschienenen Roman "Zwei Seelen" eindrücklich thematisiert.
Epilog: Auf ins Land der Apfelbäume!
Anhand dieses kleinen, natürlich vereinfachenden Exkurses ist vielleicht deutlich geworden, wie komplex die belarussische Geschichte und ihre Identitätsfragen sind. Vereinfachte nationale Kategorien scheinen Belarus eher zu schaden, als dass sie nützen. Belarus ist kein Land, das einfache Antworten bietet, das sich Vorurteilen und einer Schwarzweiß-Sichtweise aber entschieden verweigert. Das gilt auch für die Diktatur Lukaschenkas, deren subtile Funktionsweise für viele im Westen nur schwer zu verstehen ist. Der Mensch liebt es einfach. Er braucht Vorurteile und Klischees, um sich in einer komplexen Welt zu orientieren. Da entsprechende simple Orientierungshilfen für Belarus weitgehend fehlen, bleibt das Land vorerst eine terra incognita.
Ist nun wirklich alles schlecht? Werden die Belarussen und ihr Land auf ewig unsichtbar bleiben? Sicher nicht. Denn Belarus ist auch in Deutschland weniger unbekannt, als es von den Medien und der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Es gibt über siebenhundert Vereine und Organisationen, die sich der Vergangenheitsbewältigung widmen, die humanitäre Hilfe leisten oder Bildungsprojekte in Belarus betreiben. Es gibt Städtepartnerschaften und Freundschaften. Europa wächst zusammen. Es existiert mittlerweile eine neue Generation von Westlern, die mit einem anderen Europabild aufwächst. Sie nimmt Länder wie Belarus längst als eigenständige Kulturen wahr. Sie lernen Belarussisch oder Ukrainisch und sorgen dafür, dass auch die belarussische Literatur mit Klassikern wie Jakub Kolas oder Rygor Baradulin hierzulande einen Stellenwert haben wird.
Diese neue Generation fordert eine hochwertige Berichterstattung von den Medien, die im Wesentlichen unser Bild von anderen Ländern prägen. Der Abbau von Vorurteilen, der Aufbau eines differenzierten Europabildes sind ein langwieriger, mühsamer Prozess. Aber auch hier lässt sich von den Belarussen lernen, die sich als Nation mit dem Kampf ums Überleben und der Selbstbehauptung auskennen. Für solch einen Überlebenskampf braucht man einen langen Atem, Hartnäckigkeit, auch ein wenig Fatalismus und viel, viel Geduld. Wenn Sie also nach Moskau reisen, steigen Sie einfach mal aus in Minsk. Es wird Ihr Leben verändern.